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Sechstes Kapitel.

Die Einquartierung hatte den Larsenhof verlassen, und es kam nicht unmittelbar darauf eine neue. Die Zusammenstöße zwischen beiden Armeen fanden jetzt weiter nördlich statt.

Jens und Gesine gingen zusammen durch das verlassene Haus. Überall lag Stroh umher, kein Stück Möbel stand mehr auf seinem richtigen Platz. Die Fußböden waren mit Schmutz und Lehm bedeckt, fast wie mit einer Kruste überzogen. In der Kammer der Verwundeten lagen Verbandzeug und blutige Watte umher; in einem andern Raum zwischen dem Stroh fand sich ein abgerissenes Spiel Karten. Große Nägel waren in die Wände geschlagen, und an einigen Stellen hingen die Tapeten in Fetzen herunter. Gesine versuchte aufzuräumen. Sie stellte hier etwas zurecht und rückte dort einen Tisch an seine richtige Stelle; dann fing sie an, die Betten abzuziehen und das Stroh zusammenzukehren. Aber schließlich erlahmte sie, da sie in jedem Winkel und jedem Raum denselben Schmutz und dieselbe Unordnung fand. Alle Mägde mußten heran und helfen, aber sie waren unlustig zur Arbeit geworden in dieser Zeit, und es ging ihnen nur langsam von der Hand.

Mittags, als sie mit hochgeschürztem Rock oben stand und selbst einen Fußboden scheuerte, sah sie durch das Fenster dänische Kavallerie auf den Hof reiten; es waren etwa zwanzig Mann und ein Offizier. Die Mägde waren sofort an den Fenstern.

»Dor sünd all wedder welcke. Nu sünd dat Dänen.«

Es war ihnen gleich, ob es Dänen oder Preußen waren. Sie machten die Fenster auf und lachten und ließen ihre Arbeit ruhen. Wenn da schon wieder welche kamen, hatte es ja auch keinen Zweck, erst reinzumachen.

Der Offizier rief einen Befehl, und die Soldaten saßen ab. Er gab sein Pferd einem Mann und trat ins Haus.

Gesine brachte ihre Kleider in Ordnung und strich sich über das Haar. Sie mußte hinuntergehen, denn es war niemand dort, um den Offizier zu empfangen. Eine dumpfe Schwere lag ihr in allen Gliedern. Als sie die Treppe hinabstieg, hörte sie ihn schon laut rufen und mit seinem Säbel gegen die Holztruhe schlagen, die auf der Diele stand.

»Ah, endlich,« sagte er, als sie kam. Als sie vor ihm stand, griff er ihr mit der Hand unter das Kinn und sagte: »Tag, mein schönes Kind. Rufen Sie mir mal den –« er sah in ein Schriftstück, das er in der Linken hielt, – »Jens Larsen, Hofbesitzer auf dem Larsenhof.«

Gesine war einen Schritt vor ihm zurückgewichen, aber sie blieb noch wie gebannt stehen und sah ihn flehend an. Was wollte er, was stand in dem Schriftstück? Eine jähe Angst überfiel sie.

»Was – was soll er – was ist?« fragte sie mit bebenden Lippen.

Der Offizier sah in ihr totenblasses Gesicht. »Sind Sie seine Tochter?«

»Ja.«

Ein mitleidiger Zug ging über sein junges Gesicht, und er sagte: »Holen Sie ihn nur. Es geschieht ihm nichts. Ich muß ihn aber sprechen.«

Nun ging sie und holte Jens aus dem Kuhstall. Er sagte kein Wort, als sie ihm mit zitternden Lippen bestellte, daß ein dänischer Offizier da wäre und ihn sprechen wollte, aber er ließ alle Arbeit stehen und liegen und richtete sich mit schwerem Atemzuge auf.

Der Offizier stand noch auf der Diele und zog mit seinem Säbel ein paar Rillen im Fußboden nach, als Jens und Gesine kamen.

»Jens Larsen vom Larsenhof?« fragte er.

»Ja.«

»Ich habe hier – lassen Sie uns in die Stube gehen, ja?«

Jens öffnete die Wohnstubentür, und sie traten zusammen ein. Der Offizier nahm wieder das Schriftstück vor.

»Ich habe Befehl, den Larsenhof niederbrennen zu lassen,« sagte er nun kurz und dienstlich, »hier –« er wies auf das Schriftstück – »zwei Stunden gebe ich Ihnen Zeit, das Wertvollste zu retten und das Vieh in Sicherheit zu bringen. Was von den Pferden militärbrauchbar ist, wird requiriert. Auch sonst werde ich sehen, was brauchbar ist –«

Jens stand wie erstarrt, als hätte er den Sinn dieser Worte gar nicht ganz erfaßt. Aber plötzlich fuhr er auf. Seine Augen fingen an zu blitzen, und es sah aus, als wollte er sich auf den Mann stürzen, der da so ruhig das Furchtbarste aussprach, was ihm geschehen konnte.

»Den Larsenhof? Abbrennen?« schrie er. »Meinen Larsenhof? Sind Sie verrückt? Ich bin Peter Jens Larsen, dies ist mein Hof und mein Haus. Gehen Sie raus – machen Sie, daß Sie raus kommen, ich ...« Die Stimme versagte ihm.

Gesine klammerte sich an seinen Arm. »Vater, wir müssen ruhig sein. Das ist der Krieg. Es ist andern auch so gegangen. Komm, wir müssen dran denken, was wir retten wollen.« Aber nun brach auch ihre Stimme, und wie ein Wehlaut kam es von ihren Lippen: »Die Mutter!«

Da schrie Jens auf wie ein wundes Tier. »Ich hab' eine kranke Frau, Mensch!«

Der Offizier zuckte nur die Achseln. Er hatte solche Szenen jetzt schon oft genug erlebt und war dagegen abgestumpft. »Packen Sie sie in einen Wagen.«

»Aber wo soll ich hin mit ihr?«

»Das ist Ihre Sache. Ich habe kein Spital für kranke Weiber. Besinnen Sie sich nicht lange. Die Zeit geht hin.«

Er wandte sich zum Gehen, aber Jens stürzte sich ihm entgegen und packte ihn vorn am Rock.

»Mensch, das ist mein Haus! Sie dürfen das nicht! Ich bin dänisch, ich habe den Dänen Dienste geleistet – bei Nacht hab' ich mich an den Preußen vorbeigeschlichen und habe den Dänen Nachrichten gebracht –«

»So!« Der Offizier maß Jens mit einem langen Blick und machte sich mit einem Ruck von seinem Griff frei. Dann faßte er den Korb seines Säbels fester und sagte kühl: »Wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, lasse ich alles Lebende aus dem Hause schaffen und den Hof sofort anzünden. Überlegen Sie sich das.«

Er ging nun hinaus und rief den Soldaten einen Befehl zu; laut und scharf klang der Ton seiner jungen, hellen Stimme durch die klare Winterluft.

In der nächsten halben Stunde wußte auf dem Larsenhof niemand recht, was er tat. Jeder lief umher, schleppte aus dem Hause, was ihm unter die Finger kam, und legte es draußen achtlos nieder. Gesine dachte wieder an die Mutter, und da kam Ruhe und Besinnung über sie. Frau Larsen war im Fieber, so daß sie von der großen Erregung im Hause kaum etwas merkte. Gesine packte ihre Sachen, ließ Betten auf einen Wagen bringen und überdachte alles, was sie zur Pflege für die Mutter nötig hatte. Es war eine unnatürliche Ruhe über sie gekommen, an sich selbst, an die Zukunft und was nun werden sollte, dachte sie gar nicht, als könnten ihre Gedanken über das Nächstliegende nicht hinaus.

Jens ließ das Vieh aus den Ställen treiben, Wagen anspannen und Sachen aufladen. Die besten Pferde und einige Stück Rindvieh hatte der Offizier gleich mit Beschlag belegt. In Jens sah es nicht so ruhig aus wie in Gesine, ein nagender Schmerz bohrte in seinem Innern, und manchmal packte ihn die Verzweiflung. Er hätte alles mitnehmen mögen, jedes Stück Hausrat, es war ihm ja alles ans Herz gewachsen, es gehörte zu ihm wie der Larsenhof zu ihm gehörte, wie ein Stück seiner selbst, und in dumpfer Verzweiflung rannte er gegen die Mauern an und breitete die Arme aus, als wollte er sie fassen und halten. Noch stand Stein auf Stein, das trotzige Gefüge der Balken, noch stand er, der schöne, stolze Larsenhof, aber die Minuten verstrichen, und wenn die Stunde um war, dann warfen Menschenhände den Feuerbrand in das Dach, und alles würde in Flammen aufgehen.

»Nein, das soll nicht sein, das darf kein Mensch!« schrie er ein paarmal. Aber niemand kümmerte sich darum.

Die Soldaten waren auch geschäftig; sie schleppten Säcke und Stroh, und einer, der mit blassem Gesicht und verkniffenem Mund die Befehle ausführte, war Thies. Er sollte selbst den Brand in das Haus werfen, das er sich in Gedanken schon zu eigen gemacht hatte.

Jens nahm tausend Abschiede, von jedem Raum und von jedem Stück, und alles stürmte mit Erinnerungen auf ihn ein, frohen und ernsten in buntem Wechsel. Dann wurde er wieder von der Hast und der fiebernden Erregung mitgerissen, die alle ergriffen hatte, und er schleppte hinaus, was ihm gerade unter die Hände kam.

Auch die Mägde retteten das Ihre. Sie rissen die kleinen, bunten Bildchen von den Wänden, die sie vom letzten Jahrmarkt mitgebracht hatten, und packten kleine, blinde Spiegelscheiben sorgsam ein. Sie zerrten ihre großen, schweren Holzkoffer selbst mit übergroßer Kraft aus dem Hause hinaus und standen dann jammernd daneben und riefen, man sollte ihnen helfen, die Kisten auf einen Wagen zu laden.

Nun waren die beiden Stunden um. Der Offizier sagte es Jens; er hatte schon die ganze, letzte Zeit die Uhr in der Hand gehabt. Jens fuhr sich mit dem Rockärmel über die Stirn, auf der ihm dicke Schweißtropfen standen, und ging dann zu seiner Frau. Er hatte in den letzten beiden Stunden kaum an sie gedacht. Nun nahm er sie mit Kissen und Decken auf seinen Arm und trug sie hinaus auf den Leiterwagen, auf dem Gesine schon ein Lager für sie zurecht gemacht hatte. Frau Larsen merkte nicht viel davon.

Gesine blieb noch ein Paar Sekunden in der Stube stehen, nachdem die Eltern hinaus waren, und sah sich mit leeren Blicken um. Ihr war, als hielten eiserne Klammern ihr Herz umfaßt und preßten es zusammen. Sie raffte noch ein paar Sachen der Mutter zusammen und wollte damit hinausgehen, da sah sie zufällig aus dem Fenster und erblickte Thies. Sie wußte, daß er da war. Aber nun stand er auf dem Hof mit einem finsteren, verschlossenen Gesicht, und sein Blick ging langsam von den Scheunen und Ställen bis zum Wohnhaus. Er nahm Abschied davon. Nicht mit dem Herzen, wie sie und ihr Vater. Es war ihm nicht die Heimat, die Scholle, auf der er groß geworden war, auf der sein Dasein wurzelte, es war ihm nichts als der Besitz, den er sich in Gedanken schon zu eigen genommen hatte. Nun mußte er selbst die Brandfackel hineinwerfen. Plötzlich kam eine wilde Freude über sie. Sie stieß das Fenster auf und rief laut seinen Namen. Er fuhr zusammen, sah sie und kam heran.

»Da oben unter dem Dach liegt viel Stroh,« rief sie, »dort steckt das Feuer an, da brennt's am besten.«

Er krallte beide Hände um das Fensterkreuz und drückte das Gesicht dagegen. »Ich kann's nicht. Ich rühr' keine Hand,« stieß er hervor.

»Du kannst's nicht, du?« Sie lachte auf. »Du bist doch ein so großer Preußenhasser und solch ein Dänenfreund. Da kannst du nicht ein Haus niederbrennen, das den Preußen Schutz und Deckung ist? Kannst du nichts opfern?«

Er sah sie erstaunt an. »Was redest du da?«

Sie nickte. »Ja, nun ist Krieg, nun wird alles ganz anders. Ich hab' es ja immer gesagt.« Sie jubelte förmlich. »Und wenn der Krieg zu Ende ist, dann hol dir deine Braut hier von dem Trümmerhaufen.«

Nun riß sie die Sachen zusammen, die sie noch mitnehmen wollte, ließ ihn stehen und eilte hinaus. Als sie dann neben dem Wagen stand, in dem die Mutter schon lag, und die Frage an sie herantrat, wohin mit der Kranken in diesem von Soldaten überschwemmten Lande, da packte auch sie die Verzweiflung, und sie warf sich ihrem Vater in die Arme. So standen die beiden lange, sich umfaßt haltend, fast betäubt von ihrem grenzenlosen Schmerz.

»Wo sollen wir hin?« fragte Gesine endlich.

Jens wies auf den Weg, der zur Chaussee führte. »Fahrt da hinunter und dann nach Gravenstein zu. Vielleicht nimmt euch jemand auf. Ich komme nach, ich muß es sehen.«

Sie klammerte sich an ihn. »Nein, Vater, komme mit uns, bleib nicht hier, sieh es nicht mit an.«

Aber Jens schüttelte den Kopf. »Ich muß es sehen.« Es war, als wenn er nichts weiter mehr denken könnte.

Gesine stieg nun zur Mutter auf den Wagen, der Knecht ergriff die Zügel, und die langsame, traurige Fahrt in die Ungewisse Zukunft hinein begann.

Jens blieb auf dem Hof stehen und sah ihnen nach. Zwei Wagen mit Sachen folgten, und die Mägde gingen nebenher und schleppten noch allerlei mit. Der Kuhfütterer trieb das Rindvieh vor sich her. Als alles aus dem Hof heraus war, ertönten die Kommandorufe des Offiziers. Jens hatte nicht darauf geachtet, nun wurde er fast umgerannt, und da rief der Offizier: »Weg da, Sie haben hier nichts mehr zu suchen!«

Er sah sich um wie einer, der nicht recht versteht, was man ihm sagt.

»Ach so,« murmelte er vor sich hin, »ich habe hier nichts mehr zu suchen.«

Dann ging er schwer und langsam auf die Hohe Koppel hinauf. In den Tagen vorher hatte es viel geregnet, aber heute nacht war starker Frost eingetreten, und die Luft war klar. Von den preußischen Strandbatterien her dröhnten die Schüsse und ließen manchmal den Erdboden erzittern. Jens Larsen hatte für die Weite heut kein Auge, seine Blicke waren nur auf den Larsenhof gerichtet. Noch stand er. Die Sonne flutete darüber hin und beleuchtete jeden Balken und jeden Winkel, als wollte sie ihm jede Einzelheit noch einmal so recht vor Augen führen. Jens ließ seine Blicke langsam darüber hingehen und hatte ein Gefühl dabei, als sähe er nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen. Oben am Giebel die geschnitzten Pferdeköpfe und das Storchnest dazwischen, das Strohdach, das er im Frühjahr ausbessern lassen wollte, das ihn geschützt hatte, solange er lebte, die ausgetretenen Stufen an der Hintertür, die in den Garten führten, alles, alles sah er noch einmal an.

Die Stimmen der Soldaten drangen zu ihm herauf, Befehle wurden gegeben – und dann war es auf einmal geschehen. Flammen zuckten auf und griffen weiter, leckten an den Mauern entlang und sprengten die Fensterscheiben. Glühende Balken stürzten, und brennendes Stroh flog in die Luft. Bald war alles nur noch ein einziges, großes, flammendes Feuer. Jens brauchte nicht die Augen zu schließen, um es zu sehen, wie an jenem Nachmittag, als die Sonne ihn blendete; er sah es mit offenen Augen. Und was da vor ihm in Flammen und Rauch aufging, war sein Larsenhof!

Es kam jetzt auch über ihn eine Ruhe, ein Gefühl von Unpersönlichkeit, wie er es bis dahin noch nicht gekannt hatte. Als läge ein Nebel zwischen ihm und der Welt, als ginge ihn alles, was hier geschah, nichts an. Sein Leben lag vor ihm wie das eines Fremden, und er überschaute es und unterschied, was gut darin gewesen war und was böse, und er erkannte, daß es auf einer großen Lüge aufgebaut war und auf einer großen Schuld. Er hatte ja immer Inge Hansen geliebt, und er tat es auch jetzt noch – und sein Zusammenleben mit der kranken Frau, die man jetzt in die Kälte hinausfuhr, ohne zu wissen, wo sich ein schützendes Dach für sie finden würde, war eine große Lüge.

Inge war die eine große Liebe seines Lebens, und doch hatte er an ihr gesündigt. Er hatte ihr die Pforten des Larsenhofes nicht geöffnet, sondern sie draußen stehen lassen mit ihrer großen, stolzen Liebe, und in sein Haus hatte er eine andere geführt, die er nicht liebte, die aber Ansehen besaß, weil sie reich war.

Ihm war auf einmal zumute, als ob die Mauern des Larsenhofes sich dagegen empörten und deshalb in lohenden Flammen blutigrot gen Himmel stiegen.

Als sie beide in der vollen Blüte ihrer Kraft und Schönheit standen, hatten sie sich gefunden, er und Inge Söderssen. Beim Ringreiten in Rackebüll hatten sie sich zum ersten Male gesehen, und jede Einzelheit ihrer Begegnung stand ihm noch so deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Er war so recht gelangweilt und hochmütig über den Platz geschlendert, ganz in dem Bewußtsein, die begehrteste Persönlichkeit auf Meilen im Umkreise zu sein. Seine Eltern lebten nicht mehr, er hatte schon den großen, schönen Hof, war jung, gesund und von kraftvoller Schönheit. Da war es ja kein Wunder, daß all die Mädchen ein Auge auf ihn warfen, daß die Väter ihm ihre Töchter anpriesen und ihm aufzählten, wieviel Mitgift sie geben könnten. Aber ihn langweilte es. Er machte sich aus all den Bauerntöchtern nichts und dachte noch nicht ans Heiraten. Als das eigentliche Ringreiten vorüber war, wollte er nach Hause gehen; zum Tanzen oder Würfeln hatte er keine Lust. Er schob sich zwischen den Menschen durch, die die Buden umlagerten, worin Süßigkeiten, bunte Bänder und kleine Andenken feilgeboten wurden, gleichgültig gegen all die Blicke, die ihm begegneten. Da stand plötzlich ein schönes, großes Mädchen vor ihm. Sie biß gerade mit kräftigen gesunden Zähnen in einen Kuchen hinein und lachte ihn mit leuchtenden blauen Augen fröhlich und unbefangen an. Wie ein Schlag ging es ihm durch den ganzen Körper, und er blieb stehen und starrte sie wie eine Erscheinung an.

»Schmeckt's?« fragte er endlich.

Sie lachte vergnügt. »Fein!«

Dann ging sie mit ihrer Freundin zur Würfelbude. Natürlich kam er mit. Ihre Freude und ihr Eifer steckten ihn ordentlich an, Dabei mußte er sie immer ansehn. Er meinte, so etwas Schönes wie sie hätte er noch nie gesehen; sie war so blühend, so gesund, so voll Jugendkraft und Lebensfreude. Nachher tanzten sie zusammen. Ihm wurde ganz heiß, als er sie im Arm hielt und fühlte, wie ihr weicher, junger Körper sich an ihn anlehnte und ihr Atem seine Wangen streifte. Er ließ sie keinem andern Tänzer, und abends durfte er sie nach Hause bringen. Leider wohnte sie nicht weit, ganz nah bei Rackebüll hatte ihre Mutter eine kleine Kate. Aber es war doch ein einsamer Weg durch stille Felder in warmer Sommernacht. Sie war nicht mehr so übermütig und vergnügt wie auf dem Festplatz, sie hielt den Kopf gesenkt und atmete schwer, und als sie das Haus erreicht hatten, rief sie schnell »gute Nacht«, gab ihm nicht einmal die Hand und lief hinein.

Er stand noch eine ganze Weile wie verzaubert, und die nächsten Tage hatte er keinen anderen Gedanken als den: wie er sie wiedersehen könnte. Er hörte nun nach ihr herum. Sie war ein Tagelöhnerkind, der Vater lebte nicht mehr, und sie und die Mutter arbeiteten auf den Höfen bei den reichen Bauern und wo es was zu tun gab.

Natürlich sah er sie bald wieder. Er sagte es ihr ja nicht, daß er tagelang herumgelaufen war und ausgekundschaftet hatte, wo sie wohl zu treffen wäre, er tat, als wäre es ganz zufällig, daß er ihr begegnete, als sie mit geschultertem Rechen vom Felde kam. Sie duldete seine Begleitung, aber sie war stolz und spröde. »Wie Glas!« dachte er und merkte nicht, daß sie gerade dadurch den größten Zauber auf ihn ausübte.

Nun trafen sie sich öfter, aber sie blieb sich immer gleich. Nur einmal verriet sie sich. Sie hatte ihn nicht von weitem kommen sehen, ganz unvermutet stand er plötzlich vor ihr, – und da schlug ihr eine helle Flamme ins Gesicht, und eine heiße Freude leuchtete ihr aus den Augen. »Wart,« dachte er, »nun nützt dir dein Stolztun nichts mehr.«

Er bat, sie möchte abends mit ihm zum Tanz kommen. Sie zögerte mit der Antwort, aber dann sagte sie zu. Den ganzen Abend war sie still und ernst, ihr ganzer Übermut war weg. Sie lag schwer in seinem Arm beim Tanzen, und wenn er sie an sich zog, atmete sie beklommen. Schließlich sagte sie, sie wollte nicht mehr tanzen. Es war so heiß und dunstig im Saal, und draußen war der Sommerabend so schön. Ihm war es recht. Sie gingen durch den Garten, wo die, die nicht tanzten, sich beim Kegelschieben die Zeit vertrieben, und dann weiter hinaus aufs Feld. Da war es still und einsam. Das Korn stand stolz und gerade aufrecht, es war schon fast mannshoch und bewegte sich kaum in der weichen, stillen Luft. Die schmale Mondsichel stand blaß am Himmel.

Sie gingen auf dem schmalen Weg durch das Korn und sprachen nicht. Über der ganzen Welt lag ein wunderbares Schweigen. Da blieb Jens Larsen stehen und zog die schöne, stolze Inge Söderssen in seine Arme. Nun war sie nicht mehr stolz und spröde, ganz willenlos und schwach ruhte sie an seinem Herzen und wehrte sich nicht, als seine heißen Lippen die ihren suchten. Und das große, heilige Geheimnis der Liebe schlug langsam die Augen auf und sah ihnen ins Herz.

Von da an sahen sie sich fast täglich. Es gab eine kleine Bank am Waldesrand, zu der sie beide etwa eine halbe Stunde zu gehen hatten; dort trafen sie sich fast jeden Abend. Sie war meistens eher da als er, und wenn sie ihn kommen sah, flog sie ihm entgegen, und er fing sie in seinen Armen auf und trug sie zur Bank zurück. Dann kam sie die erste halbe Stunde nicht zu Atem – so küßte er sie, und sie bot ihm willig die frischen, blühenden Lippen und lachte und sagte: »Küß dich satt!« Aber es stellte sich heraus, daß er nie satt wurde.

Sie gab ihm aber mehr als dieses süße Liebesglück, sie wurde sein Freund und Kamerad. Mit allem, was ihn drückte und quälte, kam er zu ihr. Es war merkwürdig, daß er, der reiche Jens, immer viel mehr Sorgen hatte als sie, die arme Inge. Er war aufbrausend und jähzornig und hatte oft Streit, und der große Hof und die vielen Leute brachten so viel Ärger. Aber wenn sie ihm dann über die Stirne strich und fragte: »Armer Jens, was ist denn wieder?« – dann war der Ärger schon halb verflogen. Oder wenn sie auf einmal in all seine kleinen Sorgen hinein so frisch und fröhlich lachte, dann wurde es plötzlich hell in ihm. Und wenn es ernster war, wenn er nicht so schnell loskommen konnte, dann stand sie an seiner Seite und half ihm treu und unermüdlich, bis er darüber hinweg war.

Sie dachte nie daran, daß eine Kluft zwischen ihnen bestünde, weil er der reiche Jens vom Larsenhof war und sie die arme Inge. Sie glaubte, daß ihre Liebe größer wäre als dies, und ihr Vertrauen zu ihm war unerschütterlich. Es fiel ihr auch nicht auf, daß er nie davon sprach, daß sie seine Frau werden und zu ihm auf den Larsenhof ziehen sollte.

Er dachte in der ersten Zeit auch nicht weiter nach, sondern genoß das schöne, junge Glück, ohne sich um die Zukunft viel Sorgen zu machen. So ging fast ein Jahr hin. Dann drängte sich ihm aber doch die Notwendigkeit auf, zu heiraten, eine Frau auf den Hof zu bringen. Aber nun meinte er, Inge könnte das nicht sein. Sie war ein armes Tagelöhnerkind und arbeitete in Brot und Lohn bei den Bauern, über die er sich noch hoch erhaben vorkam. Nein, das ging unmöglich, er wäre herabgestürzt von seiner Höhe, er wäre nicht mehr der gewesen, der er war, sie hätten ihn über die Achsel angesehen, über ihn gelacht, gespottet.

Zu dieser Zeit lernte er die reiche Witwe von Gerd Matthiessen kennen, die ihm deutlich zeigte, daß er ihr gefiel. Sie war eine kleine, zarte, schüchterne Frau, und er dachte, daß die ihm nicht unbequem werden würde. So brachte er denn die Sache in Ordnung, als er sie zum dritten Male sah. Ganz im stillen hatte er gedacht, es brauchte ja zwischen ihm und Inge gar nicht anders zu werden, wenn er sich verheiratete. Warum sollte dies, was das Schönste in seinem Leben war, aufhören, bloß weil eine blasse, stille Frau auf dem Larsenhof war, die seinem Herzen ganz fern stand? Sie nahm ihn ja doch auch nur, weil sein Hof in der ganzen Gegend der schönste war. Es war ihm deshalb auch noch gar nicht klar geworden, daß er sich an Inge und sich selbst versündigte, indem er ihre Liebe mit Füßen trat.

Dann kam die Stunde, in der er ihr's sagte. Daran dachte er nicht gern zurück. Sie hatte es ihm zuerst nicht geglaubt. Er hörte noch ihr helles, frohes Lachen, womit sie ihm darauf geantwortet hatte, wie auf einen guten Witz. Dann hatte sie ihm den Hut vom Kopfe genommen und ein paar Heckenrosen daran gesteckt, die sie unterwegs für ihn gepflückt hatte. Als sie ihm den Hut dann wieder aufsetzte und ihn dabei ansah, ging es aber doch wie ein Schreck durch ihre Gestalt. Sie kannte ihn ja so gut, sie las ja in jeder Linie seines Gesichts, – und da wußte sie plötzlich, daß es wahr war.

Er konnte sich jetzt nicht mehr darauf besinnen, ob er noch viel gesagt hatte oder wenig, ob sie darauf geantwortet hatte oder nicht. Er wußte nur, daß sie von ihm gegangen war, ganz blaß, mit ganz starren Augen. Für ihn begann dann dies Leben voll kleinlicher Sorgen und Unruhen, das ihn in seinem Innern zu einem einsamen Mann machte.

Jens Larsens Gedanken schweiften immer noch in Erinnerungen.

Es war damals in der Gegend natürlich kein Geheimnis geblieben, daß er und Inge sich lieb hatten, und so kam's, daß dieser und jener eine Bemerkung über sie in seiner Gegenwart hinwarf. Sie arbeite fleißiger denn je, hieß es. Ihre Mutter war krank und konnte nicht mehr mit verdienen, sie mußte also für beide sorgen. Dann starb die Mutter.

Sie hieß jetzt in der ganzen Gegend nur »die schöne Inge«, und viele bewarben sich um sie, trotzdem sie ganz arm war. Aber sie erhörte keinen. Bis sie zwei Jahre nach Jens Larsens Heirat Peter Hansens Frau wurde. Sie hatten sich dann manchmal gesehen, Jens und Inge, flüchtig, wenn er im Wagen an ihrem kleinen Hause in Nübel vorüberfuhr, oder Sonntags in der Kirche, aber gesprochen hatten sie nie miteinander. Die Jahre gingen hin und heilten langsam die blutenden Wunden, und nun hatte der Zufall sie in der letzten Zeit ein paarmal zusammengeführt.

... Das Dach des Kuhstalles war soeben eingestürzt, und hohe Funkengarben sprühten auf. Ein leichter Wind hatte sich aufgemacht und trieb die Rauchwolken gegen die Hohe Koppel. Jens fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sie schmerzten ihn, als hatte er zu lange in die Sonne gesehen.

Die Soldaten liefen noch hin und her. An einer Stelle war das Feuer wieder erloschen. Ja, da war die Mauer so dick, da würden sie wohl noch Mühe haben! Sie schleppten Säcke heran und hantierten daran herum, dann liefen sie alle fort, es gab einen Knall, und die Mauer stürzte ein.

Jens hatte alles mit Interesse verfolgt. Auch mit Mauern wurden sie fertig! Nichts hielt stand; die Balken glühten und brachen zusammen, die Mauern flogen als Staub und Schutt in die Luft.

Er lachte plötzlich auf, und ein grimmiger Zorn gegen den Larsenhof packte ihn.

»So bist du,« rief er, »so! Stehst nicht fest, hältst nicht aus! Ha! Und ich hab' mein Leben verruiniert für dich! Ja, für dich! Du bist an allem schuld, du allein!« Er lachte wieder auf in ohnmächtiger Wut. »Wenn du nicht gewesen wärst, wär' alles anders gekommen. Aber jetzt – jetzt –«

Er sah so aus, als wollte er jetzt noch sein Schicksal meistern. Rasch bückte er sich, hob einen großen Stein auf und warf ihn in die prasselnde Glut. Gespannt verfolgte er ihn mit den Augen, und als er in den Flammen verschwunden war, sammelte er ringsum die Steine und schleuderte einen nach dem andern auf den brennenden Hof. Ein auflodernder Zorn, eine grimmige Wut überkam ihn mit elementarer Gewalt Im Grunde war es wohl der Zorn gegen sich selbst, der sich plötzlich bei ihm Luft machte und den er nun an seinem Hof ausließ.

»Da! So! Du hast schuld!« schrie er. »Du! So! Bautz! Bautz!« Endlich hielt er erschöpft inne und fuhr sich mit dem Ärmel über das erhitzte Gesicht. Dann zog er sich den Rock zurecht, hob seinen Stock vom Boden auf und wandte sich zum Gehen. Hier war er nun fertig, ganz fertig. Der Hof brannte immer noch, aber Jens sah nicht mehr zurück.

Er verfolgte den Weg so, wie er ihn Gesine vorgeschrieben hatte. Von den Wagen war nichts mehr zu sehen, sie hatten ja auch einen großen Vorsprung vor ihm. Seine Gedanken richteten sich nun notgedrungen auf die Zukunft, auf das Nächstliegende. Was sollte eigentlich werden, wie sollte sich alles gestalten, die nächsten Stunden, die Nacht, die Wochen und Monate, die jetzt kamen, das ganze Leben? Er wußte es nicht. Es war immer, als wenn er an einer Mauer stände, durch die er nicht hindurch konnte. Auf der Chaussee war es sehr lebhaft. Truppen in langen Zügen kamen, Wagen mit hohen Offizieren, Bauernfuhrwerke, Reiter. Es war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Jens schritt stetig seinen Weg. Jedem, der ihm entgegenkam, hätte er zurufen mögen: »Wißt Ihr schon? Der Larsenhof brennt! Mein Larsenhof. Da der Feuerschein, das ist der Larsenhof! Die Dänen haben ihn angezündet. Ich bin der reiche Jens Larsen vom Larsenhof, aber ich habe kein Dach über dem Kopfe, und meine kranke Frau irrt im Lande umher und hat kein Unterkommen. Und ich habe mal gedacht, Inge Söderssen wäre nicht gut genug für mich.«

So gingen die Gedanken in seinem Kopf herum. Als er nach Nübel kam, sah er sich nach seinen Wagen um. Er meinte, sie hätten hier vielleicht Rast gemacht, aber er fand sie nicht. Das Dorf war von den Preußen besetzt, viele Bewohner hatten es verlassen, aber viele waren auch geblieben und standen sich gut mit ihrer Einquartierung. Daß Inge und Peter Hansen hier wohnten, hatte er noch gar nicht bedacht, bis er vor ihrem kleinen Hause stand. Da kam Gesine plötzlich aus der Haustür und flog auf ihn zu.

»Vater,« rief sie, »komm, wir sind hier. Mutter wurde so krank, daß wir nicht weiter konnten, und da haben sie uns hier aufgenommen.«

Es war, als wenn Jens jetzt plötzlich von seiner Kraft verlassen würde. Er stützte sich schwer auf seinen Stock.

»Hier?« fragte er. Die Stimme versagte ihm fast.

»Ja, komm. Wir haben eine kleine Kammer, und Peter Hansen und seine Frau wohnen in der Küche.«

Aber Jens rührte sich noch nicht. Seine hohe, kräftige Gestalt war ganz zusammengesunken. Ihm fehlte der Mut, hineinzugehen. Gesine wußte nicht, was sie mit ihm machen sollte. So wie sie ihn jetzt vor sich sah, kannte sie ihren Vater nicht. Da trat Inge Hansen aus dem Hause, streckte die Hand nach ihm aus und sagte: »Komm zu deiner Frau, Jens Larsen.«

Nun trat er ein. Anne Larsen lag in Inge Hansens Bett. Sie fieberte stark und erkannte Jens nicht. Er saß lange in der kleinen Kammer auf einem Brettstuhl und starrte vor sich hin. Gesine kam und erzählte ihm von ihrer Fahrt, und wie Inge Hansen sie bei sich aufgenommen hatte. Schließlich ging er in die Küche zurück. Peter war nun auch da und kraute sich verlegen den Kopf, als er Jens sah. Es war ihm peinlich, daß der reiche Jens Larsen vom Larsenhof nun kein anderes Unterkommen hatte als sein Haus. Er hatte das Gefühl, als müßte er als Hausherr etwas sagen, aber er wußte nicht was. Deshalb nahm er seinen Kaffeetopf, den Inge ihm eben gefüllt hatte, und schob ihn Jens hin.

»Kaffee ist immer gut, wenn's so kalt ist,« meinte er.

Jens trank. Dann sah er Peter an und fragte: »Kann ich wohl auch hier bleiben?«

Peter nickte, aber da fuhr Inge auf und rief mit fester Stimme: »Nein, Jens Larsen, für dich ist hier kein Platz.«

Peter strich sich mit der Linken an der Hosennaht entlang. »Im Holzstall ist noch Platz. Ich will da wohl alles zurechtmachen.«

Inge schüttelte den Kopf. »Nein, Peter, es ist mir zu viel Arbeit.«

»Na so,« sagte Peter ruhig, »ja, dann geht es nicht.«

Damit war für ihn die Sache abgetan, und Jens Larsen wußte, weshalb Inge Hansen mit keiner Frau im Sundewitt tauschte. Sie war für ihren Mann immer und unter allen Umständen das Höchste, und es gab nicht viele, denen das geschah. Zugleich aber schämte er sich, daß er überhaupt daran gedacht hatte, Peter und Inge Hansens Gastfreundschaft anzunehmen. Er hätte doch selbst wissen müssen, daß in ihrem Hause kein Platz für ihn sein durfte.

»Vielleicht findest du bei Fiete Musbeck noch ein Unterkommen,« meinte Inge.

Er nickte. »Ich will es versuchen.«

»Und dann kannst du deine Frau besuchen, so viel du willst.«

»Hm.« Er nickte wieder und ging.

»Für dich ist hier kein Platz,« tönte es ihm in den Ohren, während er im Dorf herumging wie ein Bettler und um ein Unterkommen bat. Schließlich wurde ihm erlaubt, bei Fiete Musbeck, der den kleinen Laden hatte, in dem Raum zu schlafen, in dem die Vorräte aufbewahrt wurden.


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