Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

Der nächste Tag war der siebzehnte März. Jens ging früh zu seiner Frau. Ihr Zustand war unverändert. Sie hatte hohes Fieber und erkannte ihn nicht. Inge und Gesine hatten zu tun, und so kam er sich sehr überflüssig vor und ging wieder weg.

Von Stenderup und Rackebüll her tönte Schießen, allem Anschein nach fand dort ein Gefecht statt. Jens ging die Chaussee entlang auf die Schanzen zu. Das Schießen wurde stärker. Das Gefecht mußte in der Nähe des Larsenhofes sein. Wie es dort wohl jetzt aussah? Ob die Trümmer noch rauchten? Ob von den Mauern seines Hofes noch etwas stehen geblieben war? Auf seinen Feldern tobte jetzt vielleicht der Kampf, sie wurden zerstampft und niedergetreten, und das Blut der sterbenden Soldaten tränkte den Boden.

Von den Strandbatterien fielen heute nur einzelne Schüsse, dumpf und schwer, wie ein tiefer Grundton zu dem Kleinfeuer.

Er war weitergegangen bis zur Büffelkoppel, dem großen Buchenwald, der sich rechts von der Chaussee hinzog. Blutige und zerrissene Kleidungsstücke, die auf den Wegen und in den Gräben lagen, gaben Zeugnis von den Gefechten, die hier schon stattgefunden hatten. Es war alles verwüstet ringsum, und dort, wo die Häuser von Wilhoi gestanden hatten, waren nur noch Trümmerstätten. Jens sah hier zum erstenmal die Zerstörungen, die die Geschütze von den Schanzen angerichtet hatten. Alle Häuser waren verbrannt oder zerschossen, die Bewohner längst entflohen. Er hatte sie fast alle gekannt. Nun waren sie fort, und ihre Wohnungen waren zerstört. Wer wußte, wo das Schicksal des Krieges sie hingeführt hatte? Es kam ihm zum erstenmal zum Bewußtsein, daß er sein hartes Geschick mit vielen teilte, daß es ihm vielleicht noch besser gegangen war als diesen hier. Er hatte noch manches von seiner Habe retten können, und Gesine und seine Frau hatten ein schützendes Dach gefunden.

Diesen hier hatte vielleicht eine Granate das Dach über dem Kopf weggerissen oder die Wände zertrümmert, so daß sie fliehen mußten, um das nackte Leben zu retten. Aus diesen schwarzen, öden Mauern schrien die Not und das bittere Elend des Krieges, und neben der Verzweiflung über das eigene Geschick empfand Jens jetzt einen anderen, größeren Schmerz – den Schmerz um seine zerstörte Heimat, die er so unendlich liebte. Mit aufgerissenen Wunden lag sie vor ihm, und sein eigener Schmerz wurde klein bei diesem Anblick.

Er war hinaufgeklettert auf einen Trümmerhaufen und konnte jetzt das zerstörte Land übersehen bis an die Küste, gegen die die Ostsee ihre gleichförmigen grauen Wogen rollte. Ein dumpfer, grollender Ton ging manchmal darüber hin, und ein weißes Wölkchen bezeichnete den Weg, den die verderbenbringende Bombe genommen hatte. Er sah die Schanzen und drüben Sonderburg mit seinem alten Schloß und seinen roten Häusern. Kugeln flogen hin und her, und zwei Völker standen sich gegenüber und rissen Wunden in das Herz seiner alten Heimat. Und plötzlich kam ihm ein Gefühl, das er noch nie gehabt hatte: er besaß eine Heimat, eine schöne, geliebte Heimat, aber er besaß kein Vaterland. Immer war das Land zerrissen gewesen, hier deutsch, hier dänisch. Es war deutsch und hatte einen dänischen Herzog gehabt, und das dänische Element hatte sich breit gemacht mit List und Gewalt, Die deutsche Sprache und das deutsche Recht waren unterdrückt worden, so daß er allmählich angefangen hatte, dänisch zu denken und zu fühlen. Und da er damit auf Widerstand stieß bei seinen Landsleuten, erwachte der Trotz in ihm, und er wurde fanatisch. Dann kam das Jahr 1848. Das schleswig-holsteinische Land erhob sich und wehrte sich gegen das dänische Joch. Die Preußen kamen und kämpften und bluteten für Schleswig-Holstein, aber helfen konnten sie nicht, und alles blieb beim alten. Daher hatte Jens ein Gefühl von Haß und Verachtung für die Preußen, und als sie jetzt wiederkamen und wieder helfen wollten, da hatte er nur darüber gelacht. Aber nun dachte er schon anders über sie – und über alles. Der Krieg hatte auch ihn mit eiserner Hand gepackt, und manches, was an Trotz und Stolz in seinem Herzen gelebt hatte, lag nun zerbrochen am Boden. Und er wußte nicht mehr, für wen er beten sollte, für die Preußen oder für die Dänen.

Er ging weiter nach dem Dorfe Düppel zu, und plötzlich wurde es belebt um ihn. Auf allen Wegen zogen preußische Truppen gegen das Dorf, es war, als ob sie auf einmal alle aus der Erde gewachsen wären. Wie große, schillernde Schlangen wanden sie sich hinter den Knicks entlang, und ein Geräusch, wie das Summen und Durcheinanderkrabbeln unzähliger Maikäfer drang zu ihm hinüber. Sie zogen alle nach Westdüppel.

Bumm – bumm, bumm! – so kam es jetzt von Ostdüppel. Nun setzte Infanteriefeuer ein, ein unaufhörliches Knattern. Und dann begannen sie von den Schanzen und von den Batterien auf Alsen zu schießen, daß der Erdboden zitterte und dröhnte. Feuersäulen stiegen auf, hier eine, dort eine, dicke Rauchmassen legten sich auf alles, graue, dicke Rauchmassen, aus denen nur ab und zu rote oder gelbe Flammen aufzuckten. Der ganze östliche Teil des Dorfes brannte. In der Luft war ein Brüllen und Stöhnen und Knattern, wie das Hüllenkonzert unzähliger böser, wilder Geister.

Jens Larsen hörte und sah mit allen Sinnen.

Wenn er einen Menschen hier gehabt hätte, den er mal hätte packen, dem er hätte zurufen können: »Sieh dort, das Feuer! Da schießen sie von den Schanzen. Jetzt zieht es sich nach Osten.« Aber er hatte niemand, er mußte alles allein durchleben.

Er lief auf eine Anhöhe, um einen besseren Überblick zu bekommen; dann stürzte er weiter vor, über Sturzäcker und Gräben, immer auf den Rauch und den Lärm und die Flammen zu. Mitten auf dem Wege lag plötzlich ein Toter vor ihm, lang hingestreckt, das Gewehr im Arm. Da blieb er einen Augenblick stehen, und er dachte daran, daß da unten in Preußen wohl Herzen bangten um dies junge Blut und Hände sich zum Gebet falteten, – und er beugte sich nieder und deckte die Mütze über das stille Gesicht mit den gebrochenen Augen. Dann ging er weiter und kam an die ersten Häuser. Da lagen ein paar Verwundete am Wege. Er holte ihnen Wasser und ließ sie trinken. Einer lag schon im Sterben. Der griff nach seinen Händen und flehte ihn an, er sollte seine Lieben daheim grüßen. Jens fragte ihn nach den Namen, aber er sagte nur immer: »Vater und Mutter und Lene. – Lene!« wiederholte er träumerisch, und sein Gesicht verklärte sich. Jens versprach es, um ihm das Sterben zu erleichtern. Er sah noch viel Elend an diesem Tage. Er half die Verwundeten aus dem Feuer tragen und gab den Verschmachteten Wasser, er hielt die Hände von Sterbenden in ihrem letzten Augenblick, damit sie nicht ganz verlassen wären, – und er sah nicht hin, ob es Preußen oder Dänen waren.

Gegen Abend kam er zum Umfallen müde und erschöpft nach Nübel zurück. Es war nicht mehr besetzt. Die Truppen hatten an den Gefechten bei Rackebüll und Düppel teilgenommen und waren nicht in ihre Quartiere zurückgekehrt. Er ging nicht zu Fiete Musbeck, bei dem er sein Nachtquartier hatte, sondern zu Hansens. Sie saßen dort in der Küche bei der Abendsuppe. Er wollte von dem, was er gesehen und erlebt, erzählen, aber er konnte nicht, es war zu viel und zu furchtbar. Er brachte keinen zusammenhängenden Satz zustande: er sah immer noch Blut und Wunden und sterbende Menschen, und in den Ohren brauste es ihm, daß er meinte, sie schössen immer noch. Da führte Peter ihn in die kleine Vorderstube, in der die Soldaten gelegen hatten, daß er sich aufs Stroh hinstrecke, und Gesine kam, brachte ihm etwas zu essen und deckte ihn mit einer Decke zu. Aber trotzdem er so müde war, schlief er nicht ein, denn er dachte immer, Inge müßte auch zu ihm kommen, nur einmal, um ihm irgend etwas zu bringen oder zu sagen. Sie sorgte ja doch sonst für alle, die in ihrer Nähe waren. Aber sie kam nicht. Und er fühlte sich grenzenlos verlassen.

Als er am nächsten Morgen in die Küche kam, fand er dort niemand. Gesine war nebenan bei der Mutter. Er hörte sie hin und her gehen, aber er ging nicht hinein. Er war ja so überflüssig dort; seine Frau, erkannte ihn doch nicht, und helfen konnte er auch nicht. Die Tür nach dem Hof war nur angelehnt. Er trat hinaus und ging nach dem Holzstall, weil er meinte, er müßte Peter dort finden. Er hatte das Bedürfnis, einen Menschen zu sehen und zu sprechen. Aber Peter war nicht dort. Es war ganz still in dem kleinen Raum. Doch da hinten in der Ecke saß Inge auf dem Holzblock. Er sah eigentlich nur ihr weißes Haar leuchten, denn sie hatte den Kopf geneigt und das Gesicht in den Händen vergraben. Und während er regungslos stehen blieb und sie ansah, schien es ihm, als ob ein Zucken durch ihren Körper ginge, wie wenn sie weinte. Da durchfuhr es ihn, und ehe er sich recht besonnen, stand er auch schon neben ihr und griff nach ihren Händen.

»Inge,« sagte er so weich, wie er nur damals zu ihr gesprochen hatte, als sie beide jung waren.

Da ließ sie die Hände sinken und sah ihn an. Ihre Augen waren wirklich feucht. Aber mehr noch als das erschütterte ihn der Ausdruck des Schmerzes, der in ihren Zügen ausgeprägt war.

»Warum weinst du, Inge?« fragte er nun.

Sie fuhr sich über die Augen und stand auf. »Ich weine nicht,« sagte sie abweisend, »laß man.«

Damit wollte sie hinausgehen, aber er ließ sie nicht. Er sagte nichts, doch in der Art, wie er sich ihr in den Weg stellte und sie mit einer Handbewegung zurückhielt, lag etwas so Zwingendes, daß sie stehen blieb. Sie sah einen Augenblick an ihm vorbei nach der Tür mit einem abwesenden Blick, der nichts Wirkliches zu erfassen schien, dann sagte sie mit schwerem Seufzer: »Wir haben ja all die Zeit noch nichts von Hannes gehört.«

Da wußte er, daß sie wie ein wundes Tier mit ihrem Schmerz dort in den Winkel gekrochen war.

»Er ist wohl gut zuwege,« sagte er, um sie zu trösten, aber er fühlte selbst, daß das ein schwacher Trost war.

Inge zuckte auch nur die Achseln.

»Du hast ihn ja gesehen, wie er von Schleswig zurückkam,« sagte sie, »und nun ist er schon viel länger fort, und es ist jetzt so kalt. Er hat gewiß oft kein Dach überm Kopf und nichts zu essen. Und ich hab' hier immer einen Topf auf dem Herd und kann ihm nichts geben.«

Sie biß die Zähne zusammen und starrte wieder an ihm vorbei ins Leere. Da kam Peter über den Hof und sofort verlor sich der Ausdruck von Angst und Sorge in ihrem Gesicht, und sie sah wieder ruhig und gleichmütig aus.

»Sag ihm nichts davon,« warf sie noch halblaut hin. Dann trat sie aus dem Holzstall hinaus und sagte: »Ich wollt' dich suchen, Peter, wo warst du denn?«

Es schien Jens, als ob ein Zug von Verlegenheit über Peters Gesicht ginge.

»Da so'n büschen längs,« sagte er und zeigte mit dem Daumen die Richtung, die die Straße nach der Kirche zu nahm. Dann griff er in die Tasche, holte seine Pfeife heraus und machte sich mit ihr zu schaffen, Inge stand noch einen Augenblick unschlüssig da, ehe sie sich umwandte und zur Küche zurückging.

Als sie fort war, sagte Peter, ohne von seiner Pfeife aufzusehen: »Ich war in'n Hospital.«

Jens sah ihn erstaunt an. »Was wollt'st du denn da?« fragte er.

Peter steckte nun die Pfeife in den Mund und kraute sich den Kopf. »Ick har dacht – nu sünd da doch so veel Dänens, de gestern verwundet sünd. De kamt doch von Alsen. Dat kunn jo doch sien, dat een da wat von unsen Jung wüßt. Jo – aber se kennten em nich.«

Er seufzte und ging in den Holzstall, wo er gleich etwas zu basteln fand. Jens hatte sich an den Türpfosten gelehnt und sah ihm zu.

Und mitten in der Arbeit sagte Peter plötzlich: »Inge braucht das nicht zu wissen, daß ich mich so ängstige – sonst ängstigt sie sich auch.« Weiter war heute nichts aus ihm herauszukriegen.


 << zurück weiter >>