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Neuntes Kapitel.

Jens Larsen litt unter einer großen Unruhe, wie jemand, der vor einer tiefgreifenden Entscheidung steht. Einmal mußte sie kommen, das fühlte er, aber wie, das war ihm nicht klar. Zu seiner Frau ging er kaum mehr hinein, – fast schien es, als fürchte er sich vor ihr, die bewußtlos, mit fieberheißen Wangen in den Kissen lag. Wenn er über den Hof ging, streifte sein Blick scheu das verhängte Kammerfenster. Daß sie gesund werden würde, glaubte er nicht – aber manchmal packte ihn das Entsetzen, und er hatte das Gefühl, als ob er sie langsam hinmorde mit seinen Gedanken, Dann ging er fort und wanderte durch das Land. An zerschossenen und niedergebrannten Wohnstätten kam er vorüber, über zerstampfte Felder und niedergerissene Knicks führte sein Weg. Aber was noch schlimmer war als das: er kam an Wachen und durfte nicht weiter. Es gab jetzt eine Macht im Sundewitt, gegen die sein Wille nichts ausrichten konnte. Und wenn er gerufen hätte: »Ich bin der reiche Jens Larsen vom Larsenhof!« – so hätte ihm das auch nichts genützt. Für den Mann, der mit dem Gewehr im Arm da stand, wäre dieser Name ein leerer Schall gewesen.

Wenn er dann auf eine Anhöhe stieg und um sich sah, wenn er bedachte, wie der Krieg an allem Bestehenden gerüttelt hatte, dann überkam ihn ein wildes Gefühl. Geschah jetzt nicht so viel Ungeheuerliches? Menschen kamen und warfen Brandfackeln in die Dächer, so daß die Wohnstätten der Mitmenschen in Flammen aufgingen, und es fragte niemand danach, wo die Vertriebenen blieben. Granaten flogen von den Schanzen und rafften Männer fort, die eben noch in voller Lebenskraft neben ihren Kameraden gestanden hatten. Sie wurden in eine schmale Grube gelegt, die Fahnen senkten sich an ihrem Grabe, und wenn der Hügel sich wölbte, zog die Musik mit einem Marsch davon, und das Leben ging weiter, als wäre nichts geschehen.

Durfte er dann nicht an dem schwachen, verglimmenden Lebensfünkchen, das ihm noch im Wege stand, vorbeischreiten, durfte er dann nicht das, was noch zwischen ihm und Inge Hansen stand, über den Haufen werfen, niedertreten, zertrümmern, wie jetzt so vieles niedergetreten und zertrümmert wurde, und mit ihr hinauswandern in ein anderes Land, wo Frieden war, unbekümmert um das, was hinter ihnen zurückblieb?

Wenn er das dachte, meinte er auch, er würde sie zwingen, mit ihm zu kommen, ob sie wollte oder nicht. Trat er dann aber in ihr Haus, und sie sah ihn ruhig an und sagte: »Peter ist nicht da, und deine Frau schläft,« dann wußte er, was sie damit sagen wollte, und er ging ganz still wieder hinaus und irrte durch das Dorf als ein Heimatloser.

Am schönsten waren in dieser Zeit die Abende; Jens freute sich jeden Tag darauf. Auf dem Larsenhof hatte er sich eigentlich nie auf den Abend gefreut, höchstens auf die Stunde auf der Hohen Koppel. Aber jetzt zog es ihn wie mit vielen seinen Fäden nach Peter Hansens Haus, wenn die Schatten sich senkten. Dann saßen sie in der kleinen, warmen Küche zusammen, Peter rauchte seine Pfeife und schnitt mit dem Taschenmesser Holz klein fürs Aufsetzen der Abendsuppe. Die Frauen hatten immer etwas zu tun. Sie legten Wäsche zusammen oder nähten; Inge strickte auch oft an dem groben, wollenen Strumpf, der sonst immer auf der Fensterbank zwischen den Blumentöpfen lag.

Später machte sie Feuer im Herd an, so daß plötzlich ein heller Schein durch die Küche ging. Das war für Jens jedesmal etwas Bedeutsames, etwas ganz anderes, als für die anderen, die kaum aufsahen und es hinnahmen als etwas Alltägliches und Natürliches.

Seitdem er in die Flammen gesehen hatte, die vom Dach des Larsenhofes aufgestiegen waren, überfiel ihn ein Zittern, so oft er einen Feuerschein sah. Er wollte es nicht. Jeden Tag nahm er sich vor: heute soll es nicht kommen. Er biß die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten – aber es kam doch. Er dachte, es würde besser werden, wenn er nicht auf den Herd sähe, aber auch das nützte nichts. Er sah dann doch den hellen roten Schein über die dunkle Wand gleiten, hinauf bis an die Decke und wieder hinab und wieder hinauf, er hörte das Knistern des brennenden Holzes, das Prasseln der Flamme, und wenn er die Augen schloß, glaubte er wieder auf der Hohen Koppel zu stehen – der Larsenhof stand in Flammen, das Sundewitt stand in Flammen – und die See und die Kanonen donnerten dazwischen. Da sah er lieber wieder auf den Herd. Und auf einmal hatte er dann doch den Larsenhof vergessen: denn der helle Schein fiel nun auf Inges schönes, stilles, stolzes Gesicht und auf ihr weißes Haar, das jetzt noch ebenso weich und wellig war wie damals, als es noch blond war und manchmal in der Abendsonne rötlich schimmerte. Aber ruhiger wurde er davon auch nicht.

Sie aßen immer Milchsuppe, denn anderes hatten sie nicht, selbst Kartoffeln gab es im Sundewitt nicht mehr. Dann erzählten sie sich, was sie am Tage gesehen und gehört hatten. Gesine ging zur Mutter hinein, gab ihr die Abendsuppe und brachte ihr die Kissen in Ordnung. Von draußen hörte man oft den Schritt marschierender Truppen, den Hufschlag eines Pferdes und das Singen der durchziehenden Soldaten. Peter ging an die Haustür und sah hinaus.

»Es sind die 24er,« sagte er, wenn er zurückkam, oder: »Die 64er ziehen auf Vorposten.«

Dann waren sie einen Augenblick still, lauschten dem verklingenden Ton und folgten den Soldaten mit ihren Gedanken. So ging der Abend hin. Um halb zehn erhob sich Jens und ging fort. Davon, daß er auch in Peter Hansens Haus wohnen könnte, war nicht wieder die Rede gewesen.

Eines Abends, als er kam, war Inge allein. Es war schon ziemlich spät, und er hatte geglaubt, sie würden alle zusammen bei der Abendsuppe sitzen. Aber nun war es ganz still in der Küche, und Inge saß in der Ecke am Herd und strickte. Die Tür zur Kammer stand auf, aber es kam kein Ton von dort. Als Jens eintrat, sah Inge auf, ihre Blicke begegneten sich, und sie sprachen beide nicht, nur schien es, als ob sie beide tief Atem holten. Endlich sagte Inge: »Gesine ist mit Miete Gerten gegangen. Sie wollten sehen, wie von der Strandbatterie geschossen wird. Der alte Gerten ist auch mit und welche von Klüvers und Persens. Gesine war nun all die Zeit nicht fort. Ich hab' ihr gesagt, ich wollte wohl auf deine Frau passen.«

»Und Peter?« fragte Jens statt aller Antwort.

Inge beugte sich vor nach dem Licht der kleinen Lampe, die auf dem Herd stand, und zählte etwas an ihrem Strumpf.

»Peter ist nach Flensburg runter,« sagte sie.

»Was macht er da?«

»Er holt Vorräte für den Marketender in der Büffelkoppel. Heute mittag ist er mit seinem Karren fortgegangen, und es dauert wohl ein paar Tage, bis er wiederkommt.«

Sie wollte wieder anfangen zu stricken, aber nun fiel ihr eine Nadel hin. Sie bückte sich, um sie aufzuheben, doch es war so dunkel, daß sie sie nicht finden konnte. Da nahm Jens die Lampe und leuchtete ihr, und sie bückten sich beide. Es war so still, daß sie ihre Atemzüge hören konnten, und als sie die Nadel gefunden hatten, waren sie beide rot und heiß wie nach einer schweren Anstrengung. Sie hatten wohl beide gedacht, daß Jens gleich wieder gehen würde, aber nun schien es ihnen plötzlich natürlicher, daß er blieb.

»Willst du was essen?« fragte Inge.

Er war sehr hungrig, aber er fragte: »Hast du schon gegessen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich mochte nicht allein. Gesine hat vorhin für sich und deine Frau was gewärmt, als ich beim Melken war. Nun will ich für uns eine Suppe kochen.«

Als sie an den Herd trat, ging er leise zu seiner Frau hinein. Es war kein anderes Licht in der Kammer als der schwache Schein aus der Küche, so daß er nur gerade die großen Umrisse der wenigen Möbel erkennen konnte. Er trat an das Bett, beugte sich darüber und rief leise den Namen seiner Frau, aber sie hörte es nicht. Ihr Atem ging schwer und stoßweise, und ein heißer Dunst stieg von den Kissen auf. Da ging er wieder hinaus und schloß die Tür hinter sich, damit sie von dem Klappern der Teller und dem Sprechen nicht aufwachte.

Inge stand am Herd und rührte die Suppe, Jens setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf schwer in die Hand. Seine Gedanken wanderten.

»Sie schläft wohl?« fragte Inge nach längerem Stillschweigen.

Da fuhr er ganz verstört auf und fragte: »Wer?«

»Deine Frau.«

»Ach so. Ja.«

Nun waren sie wieder still, bis die Suppe fertig war. Inge trat an den Tisch und füllte ihm den Teller. Dann ging sie an den Herd zurück und setzte sich mit ihrem Teller in die Ecke. Sie hatten sonst beim Abendbrot alle um den Tisch herumgesessen, aber heute wäre es ihnen sonderbar vorgekommen, wenn sie sich dort einander gegenübergesetzt hätten.

Sie sprachen vom Wetter, von den Schanzen und von Peters Weg nach Flensburg. Durch das tägliche Beisammensein hatten sie so viel gemeinsame Interessen. Ab und zu fiel draußen ein Schuß; dann horchten sie auf, und Jens erzählte, was er heute gesehen und gehört hatte. Als er mit seiner Suppe fertig war, stand er plötzlich auf und kam zu Inge in die Ecke.

»Das hätten wir auch nicht gedacht, daß ich noch einmal an deinem und Peters Tisch sitzen würde,« sagte er. Inge hörte an seinem Ton, daß die Erinnerungen ihn übermannten, und daß sie ihn heute nicht durch einen Blick oder ein Wort würde zurückweisen können. Heute waren die Erinnerungen zu mächtig; auch sie konnte sich nicht ganz von ihnen befreien.

»Das macht der Krieg,« sagte sie.

»Ja, und weil du nicht Böses mit Bösem vergiltst.«

Sie setzte ihren leeren Teller neben sich auf den Herd und strich sich mit beiden Händen über die Stirn und das Haar. Sie sah jetzt gar nicht stolz aus, sondern wie ein Mensch, der viel gelitten hat.

»Ich hab' es ja überwunden,« sagte sie leise.

Da griff er nach ihren Händen und hielt sie fest, und es brach aus ihm heraus in tiefster Seelenqual: »Inge, du hast es überwunden, aber ich nicht. Ich Narr, ich –«

Nun wußte sie, wie es um ihn stand: daß er die größten Qualen litt, auf ein Leben zurückzublicken, das verfehlt war durch eigene Schuld. Dieser Augenblick hätte eine Vergeltung für sie sein können für das, was er ihr angetan hatte, aber daran dachte sie nicht. Sie empfand nur Mitleid mit ihm und vergaß fast, daß sie selbst eine Rolle in seinem Leben gespielt hatte. Als er ihre Hände frei ließ, stand sie auf und strich ihm langsam über die Schultern und den Arm.

»O Jens,« sagte sie dabei leise und bekümmert, und es war ihnen beiden, als wären die Jahre, die zwischen jetzt und damals lagen, versunken und als stände nichts zwischen ihnen. Er kam zu ihr in seiner Not, und sie nahm ihn auf und tröstete ihn. Und weil es so war, vergaß er auch die wilden Gedanken, die in seinem Herzen Platz gegriffen hatten. Es kam eine Ruhe über ihn, wie er sie lange nicht mehr gekannt hatte. Das war ja schon früher so gewesen: wenn ihn etwas geärgert oder bedrückt hatte, und Inge stand dann vor ihm und sah ihn mit ihren klaren Augen an, in denen eine Welt von Güte und Kraft lag, dann erschien ihm alles leicht, und die Wogen in seinem Innern glätteten sich. Und wie das jetzt wieder vor ihm erschien in aller Klarheit, da wuchs auch seine Schuld wieder zu ihrer ganzen Größe an.

»Ich hab' es gebüßt, Inge,« sagte er mit schwerer Stimme, »immer, die ganze Zeit. Und wie ich es gebüßt habe, das ist mir jetzt klar geworden.«

Sie setzte sich wieder auf die Bank am Herd, denn sie fühlte eine Schwäche in den Knien.

»Ich wollte, du wärst glücklich geworden, Jens,« sagte sie.

Das klang wie ein großes Verzeihen.

»Warst du mir nicht böse, Inge?«

Nun schwieg sie eine Weile und sah an ihm vorbei, ein schwerer Seufzer hob ihre Brust, darauf sah sie ihn an und sagte: »Böse? Ich weiß nicht, Jens, ob man es so nennen kann. Es war alles tot in mir, und ich konnte nicht an dich denken, denn dann fühlte ich einen Schmerz –« Sie atmete schwer und schloß einen Augenblick die Augen. Dann fuhr sie fort: »Aber ich habe es niemand gezeigt, keinem Menschen, und wenn sie mich geneckt und gequält haben und mir von Jens Larsen erzählten, daß er die reiche Witwe von Gerd Matthiessen geheiratet hätte, und wie vornehm alles auf dem Larsenhof wäre, dann habe ich still zugehört und gesagt: ›Ich wünsche ihm alles Glück.‹ Da haben sie davon abgelassen, mich zu quälen.«

»Haft du mir wirklich alles Glück gewünscht, damals schon?«

»Zuerst nicht. Da habe ich dir nichts Gutes und nichts Böses gewünscht. Aber dann kam es.« Sie schwieg wieder und sah vor sich hin.

»Was kam?« fragte Jens, als sie lange nichts sagte.

Sie atmete tief auf, und es ging ein heller Schein über ihr Gesicht. »Ruhe kam und Friede, Ich wurde Peter Hansens Frau, und er war so gut zu mir. Ich habe nicht gelogen, Jens Larsen, als ich dir sagte, Peter Hansens Frau tauscht mit keiner Frau im ganzen Sundewitt.« Sie war aufgestanden, und ihre Augen leuchteten. »Er hat mir tausendmal vergolten, was du mir angetan; er hat mich hoch und heilig gehalten.« »Und da hast du mich vergessen?« fragte er, und ein schneidender Schmerz durchzuckte ihn plötzlich.

Sie schüttelte den Kopf. »Vergessen? Nein. Vergessen kann ich dich wohl nie. Aber verziehen habe ich dir. Da konnte ich es auf einmal. Das verdanke ich Peter.«

Jens sah zu Boden und biß sich auf die Unterlippe. Es kämpften so viel Gefühle in ihm, daß er nicht wußte, welchem er zuerst Worte geben sollte.

In Inge aber wurden die Erinnerungen mächtig. Ein weicher, nachdenklicher Zug trat in ihr Gesicht, und sie fuhr mit leiser Stimme fort: »Ich bin dann abends manchmal nach der Nübelmühle gegangen, von wo ich den Larsenhof sehen konnte, und habe gedacht: Ob sie ihm wohl manchmal über die Stirn streicht und über die Augen, wenn ihn etwas ärgert oder drückt, damit er ruhiger wird? Ob sie es wohl weiß, daß er es so gern mag, wenn man ihm mal tüchtig in seine zottigen Haare greift und ihn auslacht und ruft: O, du dummer Jens!«

Sie lachte jetzt selbst, so frisch und glücklich, wie er sie in all der Zeit nicht hatte lachen hören, und er stand vor ihr wie verzaubert. All das berauschende Glück seiner ersten Liebe stand ihm wieder vor Augen, und daneben sah er die trostlose Öde seines Ehelebens, und nun sagte er mit zuckenden Lippen: »Nein, das hat sie nie getan.«

Inge lachte nicht mehr. Sie atmete wieder tief auf und fuhr mit bebender Stimme fort: »Und ich habe immer gedacht, wenn ich so recht mit aller Kraft meines Herzens Euer Bestes wünschte, dann müßte das was helfen, dann müßte sie es fühlen, wie du es liebst Ich habe gedacht, in sie hineindenken könnte ich es, hineinwünschen mit aller Kraft meines Herzens, daß sie dich glücklich macht.«

Weich, zitternd, ganz beherrscht von ihrem starken Gefühl kamen die Worte von ihren Lippen, und wie sie ihn jetzt ansah, lag es unverhüllt in ihren Augen, was sie bis jetzt so stolz in sich verschlossen hatte, es brach hervor ohne ihr Wissen und Wollen.

Da stieg es siedendheiß in ihm auf, und er packte sie und schrie: »Inge, dann hast du mich ja immer und immer noch geliebt!«

Ein einziger, weher Laut kam von ihren Lippen, und sie standen sich gegenüber wie erstarrt, als wäre ein Blitz zwischen ihnen niedergefahren und hätte ihre Augen geblendet.

»Inge!« sagte er mit heiserer Stimme, und noch einmal: »Inge!«

Ihnen war, als wenn graue Nebel durch die kleine Küche wallten und der Boden unter ihren Füßen schwände. Wie aus weiter Ferne klang dies heiße, beschwörende, verzweifelte: »Inge!«

Dann wichen die Nebel auf einmal, und sie standen sich gegenüber, so nah, daß sie ihren Atem fühlten, und sahen sich an, und jeder las in den Augen des andern die grenzenlose Liebe und das grenzenlose Leid. Das war stärker als alle Vorsätze und alle Kämpfe, es war wie ein ehernes Naturgesetz, das über ihnen stand. Es gab keine Welt mehr nm sie her, es gab keine Menschen, außer ihnen, es gab nur noch eins – sie und ihre Liebe. Und sie hielten sich fest, fest umschlungen.


Inge kam zuerst zur Besinnung. »Jens!« rief sie beschwörend, verzweifelt, »laß mich! – Jens!«

Aber er hörte nicht.

»Denk' an deine Frau! Und Peter! Wir dürfen ja nicht –« Ihre Stimme brach.

Sie wollte sich gewaltsam freimachen, ringen mit ihm, aber er hielt sie so fest, daß sie sich nicht rühren konnte, und heiß, ungestüm kam es jetzt von seinen Lippen: was er alles gedacht und gefühlt und gewollt hatte in dieser Zeit. Inge stand da mit keuchendem Atem, und ihre zitternden Lippen brachten kein Wort hervor. Nur ein Gedanke beherrschte sie, ein Wunsch, so heiß wie ein Gebet: stark bleiben, fest bleiben!

Mit aller inneren Kraft wehrte sie sich gegen ihn. Sie wollte nicht hören, was er da sagte von seiner Liebe zu ihr, die nicht sterben wollte, von all seinen heißen Wünschen, über die er nicht Herr werden könnte, sie wollte seinen Atem nicht fühlen und das wilde Schlagen seines Herzens, den zwingenden Druck seiner Arme, – und es sprach doch alles zu ihr wie mit klingenden Tönen und fand jubelnde Antwort in ihrem Herzen, so daß ihr war, als schwände alle ihre Willenskraft.

»Stark bleiben! Fest bleiben!« schrie es in ihr.

Da hörten sie die Haustür gehen. Nun ließ er sie los, und sie wich zurück bis in die äußerste Ecke am Herd, stützte sich mit beiden Händen auf die Platte, und wandte sich auch nicht um, als Gesine eintrat. Bei dem matten Schein der kleinen Lampe, die nur einen spärlichen Lichtkreis um sich verbreitete, sah Gesine wohl, daß ihr Vater und Inge anwesend waren, aber ihre Gesichtszüge konnte sie nicht erkennen. Sie achtete auch nicht darauf, sondern erzählte eifrig, was sie gesehen hatte. Weder Jens noch Inge sagten etwas dazu, und als sie endete, wandte Jens sich zur Tür.

»Gute Nacht,« sagte er, aber sein Blick suchte nur Inge.

Sie blieb am Herd stehen, das Gesicht über das verglimmende Feuer geneigt, und sagte leise: »Gute Nacht.«

Sie schliefen aber beide in dieser Nacht nicht einen Augenblick. Inge stand auf, sowie der Tag graute, und ging an ihre Beschäftigung. Bei jedem Geräusch fuhr sie zusammen, denn sie dachte immer, Jens käme, und sie fürchtete sich vor einem Wiedersehen mit ihm. Es gingen aber mehrere Stunden hin, ohne daß er sich blicken ließ.

Frau Larsen war heute bei Besinnung, aber sie lag mit geschlossenen Augen da und war fast zu schwach, um zu sprechen. Mittags gab Inge ihr das Essen. Sie hatte sich auf den Bettrand gesetzt und die Kranke mit ihren Kissen fest in den Arm genommen. Mit der freien Hand gab sie ihr die Suppe wie einem kleinen Kind. Da trat Jens ein. Als er es sah, blieb er still in der Tür stehen, ohne etwas zu sagen, und Inges Hand zitterte. Aber die Kranke hatte sein kommen gefühlt.

»Bist du da, Jens?« fragte sie und streckte die Hände nach ihm aus. Nun kam er näher. »Ja, Anne, ich bin hier. Geht es dir besser?«

»Ja, Jens, nun bin ich bald ganz gesund, und dann gehen wir nach dem Larsenhof zurück, nicht wahr?«

»Ja,« sagte er mit gepreßter Stimme.

»Ist der Krieg nun zu Ende?«

»Nein, noch nicht. Aber bald. Hier sind jetzt nicht mehr so viel Soldaten, sie sind alle näher an den Schanzen.«

»Du hattest doch so bestimmt gesagt, sie kämen nicht hierher,« sagte sie nun wieder in klagendem Ton. »Nun haben wir sogar vom Larsenhof weg müssen! Wer weiß, wie es da jetzt aussieht! Sie gingen gar nicht gut mit den Tapeten um.«

»Laß man, Anne,« sagte er und strich ihr leise über das Haar, »darum wollen wir uns jetzt keine Sorge machen. Wenn die Tapeten schlecht sind, lassen wir neue machen.«

Sie nickte. »Dann will ich aber in der Wohnstube welche mit blauen Blumen haben – wie Nissens von Petersgaard.«

»Ja, Anne, das sollst du auch,« sagte Jens, und er dachte daran, wie es sein würde, wenn Anne erst das ganze Elend erfuhr. Der Larsenhof in Asche, Petersgaard und viele, viele andere Höfe auch in Asche.

»Sie wird es nie erfahren,« dachte er dann, und es war ihm wie ein Trost und eine Erleichterung. Er glaubte immer noch, daß sie sterben würde.

Sie war nun zufrieden wie ein Kind, das seinen Willen bekommen hat, und ihr Kopf sank müde an Inge Hansens Brust. Die legte sie vorsichtig wieder in ihr Bett zurück, und Jens ging in die Küche.

Inge stellte leise einiges in der Kammer zurecht; sie brauchte absichtlich viel Zeit dazu, denn sie fürchtete sich, zu Jens in die Küche zu gehen. In ihrem Innern dachte sie immer: »So geht es nicht, so darf es nicht sein.« Als sie schließlich in die Küche kam, stand Jens am Fenster und sah auf den Hof. Da nahm sie ihre ganze Kraft zusammen, trat zu ihm und sagte: »Du mußt jetzt gehen, Jens.«

Er sah sie an. »Muß ich, Inge?«

Sie nickte. »Wenn Peter hier ist, darfst du wiederkommen.«

»Kannst du mich fortschicken, wenn meine Frau stirbt?« fragte er nun mit zusammengebissenen Zähnen.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie stirbt nicht. Es geht ihr heute besser.«

»Das, ist ein letztes Aufflackern. Ich weiß, daß sie stirbt.«

Nun schwiegen sie beide lange Zeit. Endlich raffte er sich auf und sagte: »Aber ich gehe, wenn du es willst. Doch wenn ich wiederkomme, Inge –«

Da wich sie vor ihm zurück und sagte: »Dann ist Peter wieder hier.«

Und nun ging er.


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