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Zehntes Kapitel.

Die Entscheidung des Krieges rückte immer näher. Die Augen der ganzen Welt waren auf das Fleckchen Erde gerichtet, auf dem die Düppeler Schanzen als starre große Festungen aufragten, und vor denen das preußische Heer den harten, schweren Belagerungskampf aufgenommen hatte. Das Osterfest war in Kampf und Arbeit vorüber gegangen, die Tage wurden milder, und der herbe, frische Duft des Frühlings lag schon in der Luft.

Jens Larsen hatte die Gegend verlassen und war nach Flensburg gegangen. Er hatte Gesine gesagt, daß er in geschäftlichen Angelegenheiten dorthin müßte und noch nicht sagen könnte, wann er wiederkäme, und sie fühlte sich so sicher in dem Schutz der starken Inge, daß sie sich nicht fürchtete, mit der kranken Mutter bei ihr allein zu bleiben.

Inge war aber in diesen Tagen nicht so stark und fest wie sonst. Sie trug nicht den Kopf hoch und frei und sah jedermann klar ins Auge, sondern sie saß oft lange Zeit still in der Ecke am Herd, das Strickzeug lag in ihrem Schoß, und sie starrte vor sich hin. Ihre Hände waren dann so fest umeinander gekämpft, als hätte sie sie in großer Qual gerungen. Gesine sah es wohl, aber sie wunderte sich nicht darüber. Der Krieg nahm jedem etwas und gab dafür eine Bürde zu tragen an Angst und Sorgen. Da war es kein Wunder, wenn man die Bewohner vom Sundewitt mal mit gerungenen Händen und trüben Augen sah, und wenn selbst eine starke Frau wie Inge Hansen einmal unterlag. Sie wußte ja nicht, daß Inge Hansen den schweren Kampf mit sich selbst kämpfte.

An einem Mittag kam Peter zurück. Inge war gerade im Holzstall und fütterte die Kühe, als er eintrat.

»Komm, nu kann ich das wieder machen,« sagte er ganz ruhig und nahm ihr die Arbeit ab, als wäre er bloß eine halbe Stunde fort gewesen.

»O Peter,« rief sie, als sie ihn sah, »o Peter!«

Sie war ganz blaß geworden und setzte sich auf den Holzblock. Sein faltiges Gesicht hellte sich auf, und er kam zu ihr und strich ihr über die Schulter.

»Da bin ich wieder,« sagte er.

Nun umfaßte sie ihn mit beiden Armen und legte den Kopf an seine Schulter, als ob sie Schutz bei ihm suchte, und sagte: »Ja, wie gut, Peter, wie gut!«

Er wunderte sich über sie, denn so kannte er seine starke, mutige Frau gar nicht. Er meinte, daß sie sich wohl um ihn geängstigt hätte, und bei dem Gedanken wurde er sehr gerührt und drückte ihren Kopf fester an sich, strich ihr über das Haar und sagte: »Ich bin ja wieder da, Lütt, nu bin ich ja wieder da.«

Lütt war sein Zärtlichkeitsausdruck für sie. Er gebrauchte ihn sehr selten, denn es lag so gar nicht in seiner Natur, seinen Empfindungen viel Worte zu geben. Aber gerade dieses »Lütt« hatte für Inge einen eigenen Zauber. Es lag eine große, beschützende Liebe darin, die über sie wachte, und gerade, weil sie eine starke und stolze Natur war, tat es ihr wohl, sich manchmal klein und geschützt und geborgen zu fühlen.

Heute empfand sie es besonders; aber sie gab ihn jetzt frei und stand auf. Peter klopfte die Kuh, die sich nach ihnen umgesehen hatte und mit ihrer Kette klirrte, und schüttete ihr Heu hin.

»Hest nix von Hannes hört?« fragte er während der Arbeit so nebenbei.

Sie schüttelte traurig den Kopf, und sie sprachen nicht weiter davon. Aber bei dem einen Blick, den sie gewechselt hatten, wußte sie, daß sie eine Sorge hatten und eine Hoffnung – ihren Jungen, und das war doch das stärkste Band, das sie verbinden konnte.

Peter ging nun öfter für ein paar Tage weg, um den Marketendern und dem Restaurateur, der sich in der Büffelkoppel niedergelassen hatte, neue Zufuhr zu holen. Von Jens kam keine Nachricht. Seine Frau fragte manchmal nach ihm, aber wenn sie ihr sagten, er hätte nichts von sich hören lassen, dann legte sie beruhigt den Kopf wieder auf die Seite. Es ging ihr besser. Das Fieber hatte nachgelassen, aber die Schwäche war doch noch so groß, daß sie nicht aufstehen konnte. Sie klagte, daß die Augen ihr weh täten und schwarze Schatten ihr den Blick trübten, und Gesine legte ihr ein nasses Tuch darauf, um das Fieber herauszuziehen, denn sie meinte, das säße noch darin, und daher kämen die Schmerzen. Inge sprach nie von Jens, aber sie stand jetzt oft an der Tür ihres kleinen Hauses und spähte die Straße hinauf, und wenn sie lange, lange dort gestanden hatte, ging sie müde wieder in die Küche zurück.

Immer neue Truppen gelangten ins Sundewitt. Sie zogen durch Nübel, müde und abgespannt nach den langen Märschen, denn sie kamen aus Jütland, wo sie erfolgreiche Gefechte gehabt hatten. Ihre Uniformen waren graugrün von Staub und Nässe, die Stiefel beschmutzt, und auch auf den blassen, erschöpften Gesichtern lag der Staub in einer dicken Kruste. Inge holte oft Milch zur Erquickung für die Durchmarschierenden. Es war das einzige, was sie geben konnte, und es wurde von den meisten gern genommen. Sie und Gesine füllten immer wieder die Gläser und reichten sie den Verschmachteten. Die griffen mit beiden Händen zu, ohne hinzusehen, wer ihnen die Erquickung bot, und zogen dann weiter, taumelnd vor Müdigkeit. Eines Tages brach einer auf der Treppe zusammen und lag da wie tot. Er war einer der letzten gewesen, und die andern waren schon weiter gezogen. Inge versuchte, ihn aufzurichten, aber sie konnte es nicht, er fiel immer wieder schlaff zurück. Da setzte Gesine sich auf die Stufen und nahm seinen Kopf in ihren Schoß. Sie machten ihm die Uniform auf, und Inge holte Wasser und bespritzte ihn damit. Gesine saß still da und sah nieder auf das blasse, von Staub und Schmutz entstellte Gesicht, und hatte in diesem Augenblick keinen andern Wunsch und keinen andern Gedanken, als daß sich die fest geschlossenen Augen einmal öffnen möchten und sie ansehen. Als er aber gar keine Anstalten dazu machte, legte Inge ihm nasse Tücher auf die Brust und auf den Kopf. Endlich kam ihm langsam das Leben zurück. Er schlug die Augen auf und sah gerade in Gesines Gesicht, das mit dem Ausdruck der Sorge und des Mitleids über ihn gebeugt war. Sie sahen sich lange stumm an, dann fragte Gesine leise: »Geht es Ihnen jetzt besser?«

Da bedeckte plötzlich ein tiefes Rot sein schmales, junges Gesicht, und er stieß mit etwas atemloser Stimme hervor: »Es ist das erstemal, daß ich schlapp geworden bin. Aber es ist nun gewiß schon vorüber.«

Er richtete sich mit großer Anstrengung hoch, blieb aber auf den Stufen sitzen. Inge brachte ihm ein Glas Milch, das er in durstigen Zügen austrank. Dann stand er langsam auf und knöpfte sich den Rock wieder zu, und Gesine hob den Helm auf, der noch im Staube der Landstraße lag und reichte ihn ihm.

»Wollen Sie sich nicht noch ein bißchen ausruhen?« fragte sie besorgt.

Er schüttelte den Kopf. »Ich muß weiter.«

»Wohin marschieren Sie?«

»Nach der Büffelkoppel und Wilhoi.«

»O,« sagte sie erfreut, »das ist ja hier ganz nah. Es ist ja jetzt auch schon kühler, da marschiert es sich leichter.« Im Sprechen war sie vorwärts gegangen, und er kam mechanisch mit. Sie sprach nun weiter. »Da die Bäume, das ist schon die Büffelkoppel. Hier ist die Kirche, und daneben ist das Hospital.«

Sie sahen jetzt auch die Truppe, die am Hospital wieder zusammentrat. Da blieb sie stehen und sagte: »Ich will nun umkehren.«

Er blieb gleichfalls stehen. Sie sahen sich an, ohne zu sprechen, und über ihre beiden jungen Gesichter ging ein Zug der Verlegenheit.

»Ich sehe, wir bleiben ja nun hier,« sagte er schließlich zögernd. »Wir sehen uns gewiß wieder. Wir müssen uns wiedersehen.«

In ihren Augen leuchtete es auf, und sie nickte mit dem Kopf.

»Wie heißt Ihr Regiment?« fragte sie und sah auf seine Achselklappe mit dem E und der Königskrone.

»Königin Elisabeth,« sagte er stolz; es schien, als ob seine ganze Gestalt sich straffte und neue Kraft bekäme. Dann drückte er ihr die Hand. »Tausend Dank!«

Gesine sah ihm noch einen Augenblick nach, dann ging sie mit klopfendem Herzen nach Hause zurück. Inge stand noch in der Haustür. Sie sagte nichts, als Gesine zu ihr trat, aber sie legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. So standen die beiden lange und sahen in den dämmernden Abend hinein.

»Das ist jetzt eine schwere Zeit,« sagte Gesine endlich, als sie sich losließen und ins Haus zurückgingen. Es war eigentlich das erstemal, daß sie so etwas gegeneinander aussprachen.

Und Inge, die ruhige, starke Inge, warf beide Arme gegen die Wand und sagte: »Man kann es kaum ertragen!« Dann legte sie den Kopf gegen die Arme und blieb lange so stehen.

Sie war nicht mehr die ruhige, starke Inge von früher. Vier-, fünfmal am Tage sprang sie mitten in einer Arbeit auf, lief vor die Haustür und sah die Straße hinunter, die nach Flensburg führte. Dann überfiel sie manchmal ein heißer Schreck, und eine dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht, wenn ihr plötzlich klar wurde, daß es nicht Peter war, nach dem sie ausschaute, – und gesenkten Hauptes ging sie in ihr Haus zurück. Aber am nächsten Tage stand sie wieder da. In stillen Stunden, wenn sie allein war, ballte sie dann die Hände und preßte sie gegen die Schläfen. »Was ist das? Das soll und darf nicht sein!« Wie einen Befehl rief sie sich das zu.

Sie wußte ja ganz genau, was es war, – die große, unstillbare Sehnsucht nach Jens.

Solange er in Nübel gewesen war, solange sie wußte, er konnte jeden Augenblick eintreten und sich da auf den Stuhl am Herd setzen, er würde abends kommen und von seinen Erlebnissen erzählen, sie würde ihn sehen und seine Stimme hören, da war sie ruhig gewesen, da hatte sie so stolz und stark sein können und ihm die Tür weisen, wenn Peter nicht da war. Aber nun, nachdem er ihr hier ins Gesicht gerufen hatte, sie liebte ihn ja immer noch, nun sie wußte, daß auch seine Liebe nicht erstorben war, – nun, wo er fort war und nicht gesagt hatte, ob er morgen wiederkommen würde oder erst in Wochen oder überhaupt nicht, da war sie ganz schwach.

Ihre ganze Sehnsucht war erwacht, all ihre Gedanken waren bei ihm, und es gab kein Mittel dagegen. Oft meinte sie, sie müßte Gott danken, daß er ihr noch die Kraft gegeben hatte, ihn fortzuschicken, und dann dachte sie wieder, es würde besser sein, wenn er hier wäre, damit sie gegen etwas Wirkliches anzukämpfen hätte, nicht nur gegen das Gefühl. Ihr war, als ob die Liebe, die so lange zurückgedämmt worden war, nun bei dem einen Wort von ihm plötzlich wieder hervorgebrochen wäre und alles überschwemmt hätte. Und sie rang die Hände, und ihr Herz schrie nach Hilfe und Errettung, sie kämpfte einen Kampf, der schwerer, heißer und qualvoller war, als der der Krieger vor Düppel.

Die Tage gingen hin, und die Kanonade zwischen den Schanzen und den preußischen Strandbatterien wurde immer heftiger. Dann kam eine Nacht, da war der Himmel blutigrot, und die Luft zitterte und dröhnte von dem ununterbrochenen Schießen. Die Leute im Sundewitt kamen aus den Häusern und liefen auf die Anhöhen und sahen hinüber über den Alsensund und auf das brennende Sonderburg. Es kam eine Furcht über sie, und sie meinten, dies wäre schlimmer als das Jüngste Gericht. Die Frauen verhüllten ihr Gesicht und jammerten, und die Männer standen beieinander und berieten, wo dieses Feuer wäre und wo jenes, ob der Kornspeicher von Klaus Johns noch stände und ob Gerd Petersen seine alte, gelähmte Mutter wohl schon in Sicherheit gebracht hätte. Sie kannten ja alle die, die da wohnten. Die brennenden Granaten flogen über den Sund, und manchmal vergaß einer alle Not und allen Jammer und rief: »Hüi, is dat schön!« – als wäre er bei einem Feuerwerk. Aber wenn die andern dann still waren, fiel ihm alles wieder ein, und er schämte sich.

Gesine stand an einem Baum auf einer Anhöhe, von der sie alles übersehen konnte. Menschen waren um sie herum, Leute vom Sundewitt und Soldaten, und neben ihr stand der Elisabether. Sie wußte jetzt, daß er Unteroffizier war und Fritz Mahlke hieß. Er sprach zu ihr vom Kriege und erklärte ihr manches, was sie nicht verstand. Alle Anstrengungen waren vergessen, er war jetzt wieder ganz frisch und konnte die Zeit nicht erwarten, wo die Schanzen genommen werden würden. Gesine sah hinüber auf die brennende Stadt und sagte: »Wieviel Schreckliches werden wir noch erleben müssen.«

Dann erzählte sie ihm, was der Krieg ihr schon alles genommen hatte, als ob es notwendig wäre, daß er das alles wußte. Der Larsenhof lag in Schutt und Trümmern, ihre Mutter war krank und konnte keine genügende Pflege bekommen, und von ihrem Vater hatte sie seit langer Zeit nichts mehr gehört. Sie schwiegen dann beide lange. Er dachte zum ersten Male ernstlich nach über die Not, die der Krieg den Landbewohnern brachte, und sie empfand, daß über all dem Jammer etwas stand, was größer war – die befreiende Tat, für die jeder sein Opfer bringen mußte.

Als sie später nach Hause ging, begleitete er sie. Es war sehr dunkel, und es gab keinen rechten Weg, wo sie gehen mußten. Da schritt er voran, nahm ihre Hand und führte sie. Der rote Feuerschein stand noch am Himmel, und die Kanonen donnerten. Sie aber gingen schweigend weiter. Fritz Mahlke dachte daran, wie so manches Mädchen ihm im Arm gelegen hatte in diesen Kriegswochen, wie er gedankenlos genommen hatte, was ihm in den Weg kam. Bei dieser aber wäre es ihm wie Sünde vorgekommen.

Am nächsten Tage kam er zu Hansens, als ob das ganz natürlich wäre und er hier und nirgends anders seinen Ruhetag verbringen müßte. Er saß in der Küche und sah den Frauen bei der Arbeit zu, und als sie im Kuhstall zu tun hatten, half er ihnen. Nachmittags lehnte er in der Haustür, als Gesine mit ihrer Näharbeit auf der Bank vor dem Hause saß. Es war das erstemal in diesem Jahr, daß man draußen sitzen konnte. Da erzählte sie ihm von Thies. Sie sagte alles ganz genau, wie es war. Er hörte ruhig zu, und als er ging, sah er sehr ernst und nachdenklich aus. Sie aber flüchtete über den Hof in den Holzstall. Sie konnte jetzt keinen Menschen sehen oder sprechen, nicht einmal Inge. Ganz hinten in die Ecke verkroch sie sich, warf sich ins Heu und weinte. Aber sie wußte selbst nicht recht warum.


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