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Siebentes Kapitel.

In der Nacht, die darauf folgte, war Frau Larsen so krank, daß Inge und Gesine aufblieben, weil sie das Schlimmste befürchteten. Sobald der Morgen graute, lief Gesine ins Dorf, um Hilfe zu holen. Sie dachte nicht mehr daran, daß ihr Vater die Preußen haßte und verboten hatte, einen deutschen Arzt um Rat zu fragen, sie dachte überhaupt nicht an Freund und Feind in ihrer Herzensangst. Im Schulhaus bei der Kirche war ein Johanniterlazarett eingerichtet. Sie ging ohne Zögern hinein und fand dort auch einen Arzt, der sich gleich bereit erklärte mitzukommen. Er untersuchte Frau Larsen lange, machte ein sehr ernstes Gesicht und verordnete allerlei.

Später kam Jens. Gesine fürchtete sich nun doch davor, ihm zu sagen, was geschehen war; deshalb hatte Inge es übernommen. Sie war allein in der Küche, als er hereinkam.

»Guten Morgen,« sagte er.

»Guten Morgen, Jens,« antwortete sie, »es ist gut, daß du kommst. Deine Frau ist sehr krank.«

Er sah sie forschend an. Lag nicht Triumph oder Schadenfreude auf ihrem Gesicht? War es nicht eine Vergeltung für sie, daß er jetzt so vor ihr stehen mußte, – arm und heimatlos, für seine schwerkranke Frau auf ihre Gnade angewiesen? Aber von solchen Gedanken war nichts in ihrer Miene zu lesen. Sie sah gut und mitleidig aus, trat an ihn heran und sagte ihm, daß einer von den preußischen Ärzten dagewesen wäre und die Kranke untersucht hätte.

Er antwortete nicht gleich, denn er mußte den Gedanken erst in seiner ganzen Tragweite erfassen: – man hatte gegen sein Verbot gehandelt, eigenmächtig, ohne ihn zu fragen. Der Zorn lohte in ihm auf. War er nichts mehr, rechnete man ihn nicht mehr, seit der Larsenhof nicht mehr stand? Wollte man ihn nun beiseite schieben? Über ihn weg entscheiden und handeln? Er war dunkelrot geworden und schrie das alles heraus, hob die Faust und wollte dröhnend auf den Tisch schlagen. Aber Inge fiel ihm in den Arm und sagte ruhig in befehlendem Ton: »Sei still, Jens Larsen, stör deine Frau nicht.«

So war lange nicht zu ihm gesprochen, und der Atem verging ihm einen Augenblick fast vor Erstaunen, aber seine innere Erregung legte sich nicht so schnell. Er hatte das Gefühl, als stürzte alles über ihm zusammen, und er packte Inge plötzlich fest am Handgelenk, neigte sein heißes Gesicht dicht zu ihr hin und sagte mit heiserer, gedämpfter Stimme: »Du! Weißt du denn, wie mir zumute ist? Mein Hof ist niedergebrannt, meine Frau stirbt, Gesine wird Thies Matthiessens Frau. Dann hab ich nichts mehr, dann bin ich ganz allein und ganz frei, ich, der reiche Jens Larsen vom Larsenhof. Meinst du, daß ich mich dann noch um irgend etwas oder irgend jemand schere? Du! Inge Süderssen?«

Er umklammerte ihr Handgelenk so fest, daß es sie schmerzte, und aus seinen Augen brach eine heiße Flamme. Da überfiel die Frau eine Angst, denn sie wußte, daß sie sich in einer großen Gefahr befand, nicht nur in diesem Augenblick, sondern in der ganzen Zeit, die jetzt kam. Sie wurde sehr blaß und wich zurück, und bei dieser Bewegung kam Jens zur Besinnung. Er ließ sie los, und sie standen sich noch einen Augenblick gegenüber, schweigend, mit schwerem Atem. Dann wandte er sich um und ging in die Kammer, in der seine Frau lag.

Gesine sah ihn ängstlich an, als er eintrat, denn sie hatte gehört, daß er laut und zornig gesprochen hatte, aber er sagte nichts und achtete überhaupt nicht auf sie, sondern setzte sich mit einer so schweren Bewegung neben das Bett, daß der Stuhl in allen Fugen krachte. Da ging sie leise hinaus, um von Inge Hansen zu hören, wie der Vater die Nachricht aufgenommen hatte.

Inge Hansen war nicht in der Küche. Sie ging sie suchen und fand sie draußen vor der Haustür. Es zogen preußische Truppen durch. Inge hatte einen Krug Milch mit hinausgenommen und ließ ein paar Verschmachtete daraus trinken. Gesine fand, daß sie sehr blaß aussah. Als die Soldaten vorbei waren und sie sie fragte, wie der Vater die Nachricht aufgenommen hätte, bekam sie nicht viel Antwort.

Jens Larsen aber hatte drin in der Kammer bei seiner kranken Frau eine dunkle Stunde. Die bösen Stimmen in seinem Innern hatten Gewalt über ihn, und er wehrte ihnen nicht und kämpfte nicht gegen sie an. So wie gestern der Zorn gegen den Larsenhof über ihn gekommen war, daß er mit Steinen nach ihm geworfen hatte, so empfand er ihn heute gegen seine Frau. Die geballten Fäuste auf die Knie gestemmt, so saß er neben ihrem Bett und starrte auf ihr fieberheißes Gesicht, das sich rot gegen die blaugewürfelten Kissen abhob. Der Groll gegen sie fraß sich immer tiefer in sein Herz ein, indem er daran dachte, was aus ihm und seinem Leben durch ihre Schuld geworden war. Das heißt, was er ihre Schuld nannte, das war ja eigentlich nur ihre Art, die eben mit der seinen nicht zusammenpaßte, das war der Mangel an Liebe und Vertrauen, der sich in ihrem Zusammenleben immer bemerkbar gemacht hatte; und wenn er heute eine große Abrechnung hielt, dann mußte er sich selbst mindestens ebensoviel Schuld beimessen wie ihr. Aber das tat er nicht, sondern in Gedanken häufte er eine große Sündenlast auf das Haupt der kranken Frau. Immer mehr fiel ihm ein: wie sie dieses getan und jenes unterlassen hatte. Es waren im Grunde alles nur Kleinigkeiten, aber sie hatten ihn geärgert, niedergezogen, sie hatten seinem Leben gerade das genommen, was es schön macht, was man nicht mit Worten nennen kann und was Inge Hansen ihrem Manne täglich und stündlich gab – wenn sie ihm an kalten, dunklen Abenden entgegenging, sich den Strick seines Karrens um die Schulter schlang und ihm ziehen half, wenn sie ihm selbst den warmen Schal um den Hals legte, den sie für ihn gestrickt hatte, und wenn sie die Ehre seines Hauses so hoch hielt, daß sie rief: »Jens Larsen, für dich ist hier kein Platz!«

Immer mußte er jetzt Vergleiche ziehen zwischen ihr und Inge, und immer fielen sie zuungunsten der Kranken aus.

»Ja, du – du!« stieß er hervor und kämpfte die Hände so fest zusammen, daß die Nägel ihn ins Fleisch drückten. Dann stand er plötzlich auf und riß das Fenster auf. Ihm war auf einmal zum Ersticken heiß und schwül geworden. Die eisigkalte Winterluft drang in die Kammer und traf die Kranke. Er sah es und meinte, es müßte ihr gut tun, denn sie war ja so heiß. Er selbst empfand es auch als Wohltat.

In dem kleinen Hof waren die Regenpfützen jetzt zu Eis gefroren. Peter hatte sie sorgsam mit Asche bestreut, besonders auf der Strecke von der Küchentür bis zum Holzstall. Dort hantierte er jetzt herum. Wenn er zu Hause war, hatte er immer etwas im Holzstall zu tun. Er hatte sich in der einen Ecke eine kleine Werkstatt eingerichtet, in der er alles, was im Hause entzwei ging, wieder zurecht leimte oder zimmerte. In guten Zeiten hatte der Holzstall auch wohl mal eine Kuh beherbergt und auf kurze Zeit das Pferd und den kleinen Wagen, die Peter sich von seinen Ersparnissen angeschafft hatte. Das war nun durch die Kriegsnot längst alles dahin. Aber seit gestern standen zwei Kühe vom Larsenhof darin, und ein Wagen war unterwegs, das Heu und das Viehfutter zu holen, das man gestern aus der Scheune hinausgetragen hatte, um es vor dem Verbrennen zu retten. Von Peter sah Jens nicht viel, nur ab und zu einen Zipfel seiner wollenen Jacke oder der blauen, vertragenen Hose, und allmählich drang der Geruch seiner Pfeife bis zu ihm. Als er eine Weile so gestanden hatte, mit unklaren, stürmenden Gedanken beschäftigt, kam Gesine von der Küche herein.

»O!« rief sie sofort erschrocken, stürzte auf das geöffnete Fenster zu und schloß es. »Die kalte Luft, Vater! Mutter liegt im Fieber.«

»Ach,« sagte er und wandte sich ärgerlich ab, »dann ist ihr die frische Luft gerade gut.«

Er sah ihr noch eine Weile zu, wie sie sich am Bett der Mutter zu schaffen machte, dann ging er in die Küche. Hier war Inge sehr beschäftigt. Im Herd brannte ein helles Feuer, und die Soldaten, die vorn in der Kammer und auf dem Boden einquartiert waren, kamen und lieferten ihre Portionen ab, die Inge für sie kochte. Sie sangen und pfiffen, bis Inge ihnen sagte, nebenan läge eine Schwerkranke, sie möchten leise sein. Da gingen sie vorsichtig auf ihren nägelbeschlagenen Stiefeln auf den Zehen und sprachen mit gedämpfter Stimme. Und Jens wunderte sich, wie Inge diese Krieger mit einem Wort und einem Blick regierte.

Er ging nun hinaus ins Dorf. Es war ganz überfüllt mit Soldaten; vor allen Häusern standen sie oder lagen in ihre Mäntel gewickelt im Stroh. Die Kirche und der Kirchhof waren zu einer kleinen Festung gemacht; es wurde noch daran gearbeitet. Vom Wenningbund her ertönte das heftige Feuern der schweren Geschütze, die ihre verderbenbringenden Grüße nach den Düppeler Schanzen hinübersandten.

Jens hatte zu tun. Er mußte sich nach seinen Wagen und seinem Vieh umsehen, die vorläufig in verschiedenen Ställen untergebracht waren, und Schritte tun, es zu verkaufen.

Als der Mittag, nahte, drängte sich ihm die Frage auf, wo er wohl etwas zu essen bekommen sollte. Zu Fiete Musbeck konnte er nicht gehen, denn der hatte selbst nichts mehr, kaufen konnte er sich auch nichts, denn es gab nirgends etwas zu kaufen. So irrte er umher mit seinem Hunger, und schließlich stand er doch wieder vor Peter Hansens Haus. Auf der Diele und in der kleinen Stube vorn saßen die Soldaten mit ihren Schüsseln, und in der Küche schöpfte Inge für Peter und Gesine aus einem großen Topf. Als Jens eintrat, reichte sie ihm auch einen Teller, als ob das ganz selbstverständlich wäre. Er sah, daß sie nur einen Topf auf dem Herd hatte, aus dem sie alles Essen schöpfte. Da fragte er erstaunt: »Ist das nicht das Essen von den Soldaten?«

Inge nickte. »Ja, sie bringen es mir, ich koche es ihnen, und dafür dürfen wir mitessen. Wir haben ja nichts mehr.«

Jens fühlte eine Schwäche in den Händen, die den Teller hielten, und er setzte ihn schnell auf den Tisch. Dabei vermied er Gesines Blick. Sie dachten wohl jetzt beide daran, wie er auf dem Larsenhof die Eßvorräte im Keller versteckt hatte, damit die Preußen sie nicht finden sollten. Einen Augenblick überkam ihn der Trotz. Er wollte nichts essen, was von den Preußen kam, und seine Frau und Gesine sollten es auch nicht tun. Aber der Hunger war stärker als der Trotz, und er aß doch.

Soldaten kamen, um sich ihre Schüssel nachfüllen zu lassen, und da es draußen kalt war, blieben sie in der Küche. Sie sprachen von den Schanzen, die fast uneinnehmbar schienen, und von der Belagerung. Die Meinungen waren verschieden. Einige glaubten, daß sie gestürmt werden sollten, und andere, daß der Feind durch eine hartnäckige Belagerung zur Übergabe gezwungen werden würde – eins aber stand bei allen fest: »Wir weichen nicht eher, als bis Schleswig-Holstein frei ist.«

Wenn sie das sagten, dann leuchtete es in Peter Hansens altem Gesicht auf, und er fing an, das Schleswig-Holsteinlied zu brummen. Jens Larsen saß ruhig dabei und hörte zu.

Am Nachmittag, als die Hausarbeit getan war und Gesine und Inge still in der Küche saßen, sprach Gesine plötzlich von ihrer Herzensnot. Sie wußte selbst nicht, wie sie dazu gekommen war. Vor zwei Tagen hatte sie die schöne Inge nur dem Namen nach gekannt, und heute schon öffnete sich ihr Herz der Frau, die sie so einfach und selbstverständlich bei sich aufgenommen hatte und das Letzte mit ihnen teilte, und sie fand ihr gegenüber die Worte, alles zu sagen, was sie bisher still in sich verschlossen hatte.

Inge hörte ruhig zu. Es war also wieder auf dem Larsenhof eine Verlobung ohne Liebe geschlossen, und Jens Larsens Tochter kam zu ihr und klagte ihr ihre Not.

Sie schlang den Arm um Gesines Schultern, als wollte sie sie schützen und sagte: »Sei ohne Sorge, jetzt ist der Krieg, und wir wissen alle noch nicht, was er bringt. Wenn er aber vorüber ist, und dein Vater verlangt etwas von dir, was dir Schmerzen macht, dann sage es mir, dann will ich mit ihm sprechen.«

Da atmete Gesine auf wie befreit. Sie hatte das Gefühl, als ob diese Frau auch über ihren Vater etwas vermöchte.

»Du mußt ja erst die Liebe kennen lernen,« fuhr Inge nach kurzer Pause fort.

Gesine sah fragend auf, und dann erzählte sie allerlei von Thies, weshalb sie ihn nicht lieben könne. Der Mann, den sie einmal heiratete, der müßte besser und edler sein als alle anderen, meinte sie.

Aber Inge schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte sie, »das ist gar nicht nötig. Du mußt ihn nur sehr lieb haben, mit all seinen Schwächen und Fehlern, damit du ihm helfen kannst. Und je mehr du ihm hilfst, desto mehr wirst du ihn lieben.«

Gesine verstand sie nicht ganz, sie sah mit weit offenen Augen wie in ein fernes Märchenland. »Dann muß ich mir ja aber ganz groß vorkommen ihm gegenüber,« sagte sie zögernd, »und das ist doch nicht das richtige.«

Da lächelte Inge leise vor sich hin und sah auf ihre gefalteten Hände im Schoß. »Groß! Wenn man liebt! – Frauenliebe ist so demütig.«

Dann stand sie auf und sah nach dem Feuer im Herd. In diesem Augenblick trat Peter in die Küche, und Gesine dachte, ob der es wohl wäre, der Inge Hansen so die Liebe gelehrt hatte?


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