Friedrich Gerstäcker
Die Colonie
Friedrich Gerstäcker

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32.

Abschiednehmen.

Das war ein Jubel in der Colonie, wie er seit langer Zeit nicht stattgefunden, und heut Abend von keiner Polizeistunde die Rede, denn die Soldaten hüteten sich wohl, sich auf der Straße blicken zu lassen. Das Volk hatte die Waffen in der Hand und trug Rottack fast auf Händen, daß er ihnen endlich den Weg gezeigt, das lästig gewordene und unerträgliche Joch abzuwerfen. Aber keine Unordnung fiel vor, auch selbst nicht die nächsten Tage. Jeder ging am andern Morgen seinen gewohnten Geschäften nach. Es war ordentlich, als ob sie sich das Wort gegeben hätten, dem Director zu beweisen, daß sie eben nicht durch Militär in Banden brauchten gehalten zu werden, um doch zu wissen, was Recht oder Unrecht sei.

Zwei Tage später traf Könnern mit Elise ein, die er in der Familie des Bäckermeister Spenker, den er früher kennen gelernt hatte, unterbrachte. Aber Elise sollte nicht mehr allein stehen auf der Welt. Das Hinderniß, welches zwischen ihrer Liebe stand – die Pflicht, für den Vater zu sorgen, war von ihr genommen, und die nächste Zeit dazu bestimmt, sie mit dem Geliebten zu verbinden. Selbst die Trauer durfte die Zeit nicht hinausschieben, denn sie stand allein und freundlos in der Welt und konnte ja nur als seine Gattin dem geliebten Manne folgen.

Etwas über eine Woche verging aber doch noch mit den Vorbereitungen, während sich in der Colonie nicht das Geringste veränderte. Der Director brütete Rache und sein Grimm wuchs von Tag zu Tag, je deutlicher er sah, wie vollkommen machtlos er jetzt den Kolonisten, trotz seiner Waffenmacht, entgegenstand. Die Colonisten selber aber kümmerten sich gar nicht um ihn, gingen ihren Geschäften nach und ließen ihn ruhig mit dem Baron über seinen finsteren Vergeltungsplänen grübeln und berathen.

Da wurde, an demselben Morgen, an welchem die Trauung der jungen Leute festgesetzt worden, zuerst ein Dampfer von Norden und dann ein anderer von Süden signalisirt, und Herr von Reitschen jubelte. Jetzt wurde ihm Hülfe, jetzt konnte er die erlittene Schmach fast auf frischer That rächen, und augenblicklich setzte er sich in ein Boot und ruderte mit vier Soldaten den Strom hinab.

Den Colonisten flößte er aber trotzdem keine Besorgniß ein, denn ein anderer Geist war in sie gefahren. Außerdem hatte die Mehrzahl der angesessenen Bürger eine Beschwerdeschrift nach Rio aufgesetzt, die jetzt an die Regierung abgehen sollte. Sie durften doch erwarten, daß sie gegen die Willkür eines einzelnen Mannes geschützt wurden und sich ihr Recht nicht selber zu holen brauchten, erstaunten aber doch, als ihr Herr Director schon gegen drei Uhr und zwar allein, zurückkehrte, rasch in das Directionsgebäude ging und sich dort einschloß. Was war da vorgefallen?

In der That hörten sie bald darauf, daß er unterwegs einem andern Boote des nördlichen Dampfers begegnet sei, der Depeschen für ihn überbrachte. Diese hatte er sogleich erbrochen und war dann auf der Stelle umgekehrt.

Freilich sagte er Niemandem, welche unerwartete Nachricht er da unten bekommen, aber wie ein Lauffeuer zuckte das Gerücht durch die ganze Colonie: Sarno kehrt zurück und der »neue Director« ist abberufen. Niemand wollte es trotzdem im Anfang glauben, denn die Nachricht klang zu gut, als daß sie wahr sein konnte. Immer wieder aber kam neue Bestätigung. Ein Colonist, der von unten mit seiner Jolle eintraf, behauptete sogar: Sarno sei dicht hinter ihm in des Dampfers Boot.

Dem Baron war das Nämliche zu Ohren gekommen und er lief bestürzt zu Herrn von Reitschen hinüber. Der Director war aber für Niemanden zu sprechen, und die Soldaten, die ihm ebenfalls keine Rede standen, packten stumm und schweigend ihre Tornister. Dem Baron war genau so zu Muthe, als ob er ebenfalls packen müsse.

Die Trauung war vorüber – ein recht wehmüthiger Act, da sich für die arme Braut so viele schmerzliche Erinnerungen daran knüpften; und doch auch wieder, – wie dankbar war sie Gott, daß er ihr gerade in der Stunde ihrer größten Noth den lieben Beschützer und ihrem sterbenden Vater den letzten Trost gegeben hatte!

Rohrlands, die Tochter des Meister Spenker und Rottack waren Trauungszeugen gewesen; Jeremias stolzirte ebenfalls mit einem riesigen Blumenbouquet vorn im Knopfloche einher und eigentlich hatte das junge Paar schon am nächsten Morgen die Colonie auf einem Segelschiff verlassen wollen. Da sich jetzt aber weit bequemere Gelegenheit mit einem der Dampfer nach Santa Catharina oder Rio bot, sollte diese benutzt werden, und Rottack, der sie begleiten wollte, hatte es übernommen, die Passage unten für sie auszumachen.

Da begegnete ihnen, gerade als sie aus der Kirche kamen, ein Colonist und erzählte ihnen mit freudestrahlendem Gesicht, daß Sarno eben gelandet sei und Herr von Reitschen seinen unmittelbaren Abschied erhalten hätte.

Es war in der That so. Als Könnern mit seiner jungen Frau zum Fluß hinabeilte, um den Freund zu begrüßen, kam ihnen schon ein fröhlich wogender Menschenschwarm entgegen, und wenige Minuten später lagen sich die Freunde in den Armen.

»Sarno, mein lieber, guter Sarno, Sie zurück?«

»Ja, lieber Freund,« lächelte der Mann etwas verlegen. »Ich wollte eigentlich nicht, denn ich hatte das Dirigiren recht von Herzen satt bekommen, aber wie mir so von allen Seiten zugeredet wurde, ich mir zuletzt sagen mußte, daß ich mit gutem Willen doch hier vielleicht noch Gutes wirken könne, und der Minister auch in der That nicht gleich eine andere passende Persönlichkeit hatte, so – entschloß ich mich zuletzt, bis auf Widerruf wenigstens. Eigentlich ist aber hauptsächlich der Herr da an meiner Sinnesänderung schuld.«

Er deutete dabei mit dem Arm nach rechts hinüber, und als Könnern der Richtung mit dem Blick folgte, rief er erstaunt, fast erschreckt aus: »Günther! Sie wieder in der Kolonie?«

»Großer Gott!« seufzte Elise und deckte das Gesicht mit den Händen.

Günther stand schweigend vor ihnen; er sah bleich und ernst und angegriffen aus, und sein Blick ruhte mitleidig auf der jungen Frau. Endlich trat er zu ihr, und ihr Haupt zwischen seine Hände nehmend, küßte er sie leise auf die Stirn und sagte freundlich:

»Gott segne Sie, liebes Kind, und gebe Ihnen an Ihres braven Gatten Seite den Frieden, den Sie so lange entbehren mußten.«

»Wo ist er?« rief Rottack, der noch zurückgeblieben war, hinter der Gruppe – »Günther – Mensch, wo kommst Du her?« und im nächsten Augenblick lag er in seinen Armen – aber rasch richtete er sich wieder empor. Ein einziger Blick hatte ihm verrathen, daß nicht Alles so mit ihm sei, wie es solle – »was ist geschehen, Günther?« rief er, ihn auf Armes Länge von sich drückend – »Du siehst blaß und elend aus – warst Du krank?«

»Ja,« sagte Günther leise – »recht krank – aber es geht wieder besser, und ich – will mich hier in der Colonie noch ein wenig erholen, ehe ich die Heimreise antrete.«

Rottack sah ihn forschend an, aber Günther drückte ihm die Hand, die er noch gefaßt hielt, und sagte lächelnd:

»Aber jetzt, glaub' ich, ist es Zeit, daß wir zu Tisch gehen; Jeremias hat mir wenigstens schon gemeldet, daß Alles bereit bei Bohlos sei und selbst die vermehrten Gäste keinen wesentlichen Unterschied machen würden. Darf ich die junge Frau zur Tafel führen, Könnern?«

»Mein lieber – lieber Günther!«

»Schon gut, ich werde meinem Amte Ehre machen – und nun vorwärts!«

Mit dem Vorwärts ging es aber nicht so rasch, denn der Ruf, daß Sarno wieder zurück sei und wieder bei ihnen bleiben würde, hatte die Colonisten in Masse aus den Häusern gejagt. Manche waren wohl früher nicht mit Allem einverstanden gewesen, was er gethan, denn eine solche Schaar deutscher Colonisten gleichmäßig zufrieden zu stellen, wäre überhaupt ein Kunststück. Das neue Directorium hatte ihnen aber erst gezeigt, was sie eigentlich an Sarno verloren, der stets rechtlich und gerecht an ihnen gehandelt, und die Freude, ihn wieder zu haben, war desto größer.

Man drängte um ihn her. Jeder wollte ihm die Hand schütteln und ihm sagen, wie sehr es ihn freue, daß er wieder da sei, und mit allen den Begrüßungen kam der Mann fast gar nicht zu Tisch. Endlich machte er sich aber doch los, und jetzt gingen die Colonisten daran, auch äußerlich ihre Freude auszudrücken.

Alle möglichen und unmöglichen Fahnen, besonders deutsche und brasilianische, wurden vorgesucht, und wo keine da waren, rasch ein Betttuch genommen und irgend ein rother, blauer oder grüner Streifen aufgesetzt. In kaum einer Stunde wehte die ganze kleine Colonistenstadt voller Flaggen, waren fast alle Fenster mit Blumen und Guirlanden geschmückt, alle Menschen in ihrem Sonntagsstaat – und Jeremias schien der Nerv dieser ganzen Bewegung.

Nach und nach kam denn auch die Ursache dieser Wirkung zu Tage, welche die Colonie fast ausschließlich Günther zu verdanken hatte. Von Santa Catharina aus hatte dieser schon an den Minister des Innern seinen Bericht über das Treiben der Frau Präsidentin gemacht, wie der Präsident fortwährend leidend sei und die Frau einen Schwarm von Gesindel anstelle, der nicht allein die Entrüstung jedes braven Mannes, Deutschen wie Brasilianers, errege, sondern auch den Bestand der Colonien zu gefährden drohe. Er hatte dabei nicht unterlassen, Sarno's Wirksamkeit in Santa Clara und die Art und Weise zu schildern, mit der jetzt auf das Willkürlichste über ihn verfügt werden sollte.

Das war vorausgegangen, und als er nun selber nach Rio kam und dem Minister eine Menge neuerer Daten geben konnte, während dieser indessen Zeit gehabt, seine eigenen Erkundigungen einzuziehen, war ein Beschluß zum Bessern bald gefaßt. Es stellte sich jetzt heraus, daß die Abberufung Sarno's in vollkommen ungerechtfertigter Weise geschehen sei. Außerdem hatte der Minister noch viel mehr über die Wirksamkeit der Frau Präsidentin erfahren, als Günther selber wußte. Der sehr leidende Zustand des sonst tüchtigen Präsidenten machte da eine Verbesserung des Geschehenen möglich. Der Präsident selber wurde pensionirt, Herr von Reitschen aber, der Director von Santa Clara, einfach seines Dienstes entlassen, und die Maßregel noch durch eine Rüge, seines willkürlichen Verfahrens wegen, verschärft. Ebenso rief diese Ordre auch die Soldaten wieder aus der Colonie, in der sie der Regierung nicht nöthig schienen, und der Dampfer, der diese Nachricht und zugleich Sarno und Günther wieder mit nach Santa Clara brachte, hatte Befehl, den Director von Reitschen mit dem Militär nach Santa Catharina zu führen, von wo es dem Ersteren frei stand, einen andern ihm passenden Weg zu nehmen. Der andere Dampfer brachte die Post von Rio Grande und ging von hier nach Rio de Janeiro hinauf.

Herr von Reitschen lag jetzt die höchst angenehme Pflicht ob, dem Manne, den er vorher verdrängt hatte, seine Papiere wieder zu übergeben und überhaupt die ganze Macht in seine Hände zu legen. Er entzog sich dem aber. Er hatte vollkommen genug gehabt an den Ovationen, die man seinem Nachfolger unter seinen Augen brachte; er mußte sogar noch die ganze Nacht die Ständchen, Jubelrufe und Hurrahs hören, die in der Nähe des Directionsgebäudes stets mit frischer Kraft ausbrachen. Das war ihm doch ein wenig zu stark. Ohne selbst von seinem alten Freund, dem Baron, Abschied zu nehmen, der durch diese Vernachlässigung der Form nur noch mehr niedergedrückt wurde – übergab er das ganze Directionswesen seinem Schreiber, der ihm nach erfolgter Uebergabe folgen konnte, und schiffte sich, noch vor Tag, auf dem schon zu diesem Zweck heraufbeorderten Boote des Dampfers ein. Die Soldaten mußten ihn ebenfalls begleiten, denn trotz der frühen Stunde fürchtete er immer noch eine feindliche Demonstration von Seiten der Colonisten. Man achtete aber gar nicht auf ihn; Herr von Reitschen verschwand spurlos aus der Colonie, und als die Sonne aufging, war der Platz geräumt.

An diesem Tage war auch die Abreise der von hier nach dem Norden gehenden Passagiere festgesetzt, denn der Dampfer wollte den Nachmittag die Mündung verlassen. Es waren Könnern mit seiner jungen Frau und Graf Rottack, der sich entschlossen hatte, nach Rio, ja vielleicht mit Könnern nach Deutschland zurückzukehren.

Eigentlich hatten die Passagiere schon zu Mittag an Bord gehen wollen, es war aber noch etwas an der Maschine zu repariren und der Dampfer, der unterwegs schlechtes Wetter gehabt, gründlich zu reinigen. Die Abreise verzögerte sich deshalb um einige Stunden.

Die kleine Gesellschaft saß noch in Bohlos' Hotel, während das Gepäck schon unter Jeremias' Obhut an die Landung geschafft war.

Rottack stand in der Thür, hatte eben zugesehen, wie Bux vorbeigeführt wurde, um nach Santa Catharina transportirt zu werden, und sprach mit dem Bruder von Köhler's Frau, der eben von der Chagra herunterkam und nicht genug erzählen konnte, wie glücklich die jungen Leute seien, als Günther an ihm vorbeikam, seinen Arm ergriff und ihn langsam mit sich die Straße hinunter führte.

»Aber sage mir nur, was hast Du, Günther?« fragte der junge Mann, indem er den Arm, den er in dem seinen hielt, herzlich drückte; »Du siehst bleich und elend aus und – das Schlimmste – es hat sich ein Ausdruck von recht tiefem Schmerz in Dein sonst so freundliches Antlitz eingenistet. Weshalb bist Du nicht nach Deutschland – nach Thüringen zurück? Du warst so glücklich in dem Gedanken an die Heimath!«

Sie waren an Rohrland's Haus vorbeigegangen und betraten hier ein Terrain, auf dem Büsche und junge Palmen lustig aufgewuchert waren; nur die freigehaltene Straße zog sich hindurch.

»Felix,« sagte Günther leise, ohne den Freund anzusehen, »erinnerst Du Dich jenes Morgens, als ich Dich am Strand bei jener Chagra traf?«

»Als ob es gestern gewesen wäre.«

»Erinnerst Du Dich, als wir nachher zusammen in die Berge ritten, daß ich Dir erzählte, wie ich im Nebel und zwischen den brandenden Wogen an demselben Morgen zwei Schwäne gesehen, die so geisterhaft vor mir hergestrichen und zuletzt weit – weit hinaus in das düstere Meer verschwunden seien, und wie mir dann so weh, so unsagbar weh geworden – wie mir ein Gefühl das Herz gedrückt, dem ich nicht Namen geben konnte – so einsam – so öde schien mir in dem Augenblick die Welt?«

»Ich erinnere mich,« sagte Felix leise.

»Felix,« fuhr Günther fort, indem er stehen blieb und dem Freund in's Auge sah – »in jener Nacht starb meine Anna – an jenem Morgen lag sie kalt und bleich auf ihrem Lager dort – dort, wohin die Schwäne in den Nebel zogen!« – Und was der starke Mann bis dahin standhaft ertragen, das brach jetzt aus in ungezügeltem Schmerz, als er das Haupt an die Brust des Freundes lehnte.

Rottack hielt ihn schweigend umfaßt; er sprach kein Wort – kein Wort des Trostes, denn er wußte selber recht gut, daß gerade in den fließenden Thränen der einzig mögliche Trost liegen konnte für solchen Schmerz.

»Armer Freund,« flüsterte er endlich leise, und Günther richtete sich in seinen Armen empor.

»So – jetzt ist mir wohl,« sagte er, indem ein schwerer Seufzer seine Brust hob – »jetzt ist mir leicht; fortwährend von Fremden umgeben, fortwährend gezwungen, den Schmerz in die eigene Brust zurück zu bannen, das thut doppelt weh!«

»Armer, armer Freund! – Und wo erhieltest Du die Nachricht?«

»Vor wenigen Tagen in Rio – der Dampfer, der mich in die Heimath führen sollte, brachte den Brief von dort. Mein Entschluß war bald gefaßt – jetzt kann ich nicht zurück, und ich begleitete Sarno, um hier noch manche Arbeit zu beenden, die ich – gehofft hatte, von Anderen beendet zu sehen. – Aber nun leb' wohl, Felix, – wie ich höre, willst Du Könnern begleiten – ich bin nicht im Stande, zu den glücklichen Menschen zurückzukehren! Könnern und Elise dürfen auch nie erfahren, was ich Dir eben vertraut – es würde ihr Glück trüben. Bringe ihnen noch meinen Gruß und – leb' wohl!«

»Du willst fort?«

»Hier steht mein Pferd – Gott mit Dir, mein lieber Freund, und mögest auch Du die Ruhe finden, nach der Du Dich so oft gesehnt!«

Die beiden Männer hielten sich lange in schweigender Umarmung; dann riß sich Günther los, bestieg sein Pferd, winkte noch einmal mit der Hand zurück und war im nächsten Augenblick im Walde verschwunden.

Graf Rottack ging ernst und schweigend in die Stadt zurück. Es war ihm recht weich um's Herz geworden nach dem Abschied von dem Freunde, und allerlei alte, trübe Gedanken zuckten ihm durch's Hirn. – Als er wieder an Rohrland's Haus vorüberging, stand eine junge Dame an dem einen Fenster, die sich scheu zurückzog, als sie ihn bemerkte. – Es war Helene. – Fast unwillkürlich grüßte der junge Mann im Weitergehen und blieb dann stehen.

»Ich bin eigentlich recht unfreundlich gewesen, daß ich nicht einmal von ihr Abschied genommen habe,« murmelte er leise vor sich hin. – Er sah nach seiner Uhr – es blieb ihm noch eine halbe Stunde Zeit. – »Was kümmert's denn mich, wenn sie – ei, ich will aus Brasilien von keinem Menschen im Bösen scheiden – am wenigsten von ihr!« und rasch entschlossen schritt er in das Haus hinein.

Ein kleiner Bursche dort zeigte ihm die Thür des Zimmers, in dem das »Fräulein« wohnte. Er klopfte an und ein kaum hörbares Herein! antwortete ihm – Helene stand mitten im Zimmer, ihn zu erwarten. Sie war ganz einfach gekleidet, nur mit einem schwarzen Band im Haar als Schmuck, und sah ungewöhnlich bleich aus.

»Comtesse,« sagte er, »ich bin im Begriff, dieses Land für immer zu verlassen, und – wollte das nicht thun, ohne Ihnen vorher Lebewohl zu sagen.«

»Das ist recht freundlich von Ihnen,« hauchte Helene, und Rottack konnte es nicht entgehen, daß sie sich befangen, ja ängstlich beklommen fühlte, so viel Mühe sie sich gab, es zu verbergen. Das aber machte ihn selber verlegen, und wie er das fühlte, suchte er auch den kaum begonnenen Abschied noch zu kürzen.

»Vielleicht habe ich dann in Deutschland einmal wieder das Glück, Ihnen zu begegnen, Comtesse, denn ich glaube kaum, daß ich je nach Brasilien zurückkehren werde.«

»Herr Graf,« sagte Helene leise, und sie mußte sich Mühe geben, deutlich zu sprechen, »da wir uns wahrscheinlich nie wiedersehen, möchte ich nicht, daß wir auf diese Weise von einander scheiden. – Ich habe einen Verdacht, Sie wissen, daß mir der Titel Comtesse nicht gebührt. – Wenn dem nicht so wäre, nehmen Sie hier meine Erklärung . . .«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Rottack überrascht – »ich – wußte nicht, daß er Ihnen unangenehm war, da Sie – ihn so lange schon geführt . . .«

»Und glauben auch Sie, daß ich die Hand zu einer Täuschung geboten hätte, wenn ich selber darum gewußt?« sagte Helene bitter. »Ich hatte gehofft, Sie wenigstens würden besser von mir denken; aber – lassen Sie es gut sein,« unterbrach sie sich selbst – »ich habe so wenig Freunde auf der Welt, daß ich dem letzten vielleicht, der hier von mir geht, kein hartes Wort zum Abschied sagen möchte. Leben Sie wohl, Herr Graf, und – möge Ihnen die Erinnerung an Brasilien nicht nur lauter traurige Bilder bieten!«

Sie reichte ihm dabei mit einem leichten, wehmüthigen Lächeln unbefangen ihre Hand. Felix nahm dieselbe, aber er ließ sie nicht gleich wieder los und sagte, viel herzlicher, als er bisher zu ihr gesprochen:

»Gnädiges Fräulein, es ist etwas in Ihrem Leben vorgegangen. das seinen Schatten über Ihre Seele wirft. Sie sind nicht glücklich, und der Blick, den Sie mich eben in Ihre Vergangenheit thun ließen, verräth mir mehr, als Sie vielleicht glauben. – Sehen Sie mir in's Auge – halten Sie mich Ihres Vertrauens werth, so nehmen Sie die Versicherung, daß ich es wirklich treu und ehrlich mit Ihnen meine. Ich verlasse allerdings in einer halben Stunde schon dieses Land, aber ich kann Ihnen vielleicht selbst noch von Deutschland aus nützen. Sie entdecken mir auch kein Geheimniß,« fuhr er fort, als Helene zitternd und schweigend vor ihm stand – »ich kannte Ihre Mutter in meinem elterlichen Hause – ich wußte . . .«

»Es ist nicht meine Mutter!« stöhnte Helene, und ihre Hand aus der seinen ziehend, deckte sie ihr Antlitz damit.

Graf Rottack stand sprachlos vor Staunen vor ihr.

»Es ist nicht Ihre Mutter?« wiederholte er endlich, und die Worte rangen sich ihm nur mühsam aus der Brust.

»Nein,« hauchte Helene – »aber lassen Sie mich jetzt. Ich habe Ihnen schon mehr gesagt, als ich eigentlich sollte; aber es war – es war mir nur ein – ein peinlicher Gedanke, Sie von hier scheiden zu sehen und zu fühlen, daß Sie – mich verachteten. Leben Sie wohl, Herr Graf, und wenn Sie einen Funken von Mitleid für mich haben, so – verlassen Sie mich jetzt!«

»Nein, Helene, nicht so!« rief Felix, dem ein Sturm von Gedanken und Gefühlen das Hirn durchzuckte – »nicht so dürfen wir scheiden! Hier liegt mehr versteckt, als Sie mir sagen wollen – oh, wenn Sie Vertrauen zu mir hätten – wenn Sie mein Herz sehen und dann wissen könnten, wie gern ich Ihnen wirklich dienen möchte.«

»Herr Graf!« bat Helene scheu.

»Sie klagen, daß Sie keinen Freund in dem weiten Lande haben,« fuhr Rottack leidenschaftlich fort – »daß es Ihnen peinlich sei, mich scheiden zu sehen mit einer falschen Meinung von Ihnen, und doch halten Sie Ihr Vertrauen zurück – geben mir nur Andeutungen, die mich noch verwirrter machen müssen, und stoßen die Freundeshand selber zurück, die sich Ihnen entgegenstreckt.

»Herr Graf, ich weiß nicht,« wehrte Helene ab, denn ein eigenes beklemmendes Gefühl überkam sie, unter dem sie kaum athmen konnte.

Felix mochte ahnen, was in dem Herzen des Mädchens vorging. Er sah ihr treuherzig in's Auge, und dann ihr noch einmal die Hand reichend, sagte er herzlich:

»Glauben Sie in diesem Augenblick, ich sei Ihr Bruder, Helene. Schütteln Sie die Fesseln der Etiquette ab, die uns nur zu oft hindern, den Weg einzuschlagen, den wir sonst für den rechten und, guten halten. – Machen Sie mich zu Ihrem Freund und, beim ewigen Gott, Sie haben Niemanden auf der weiten Welt, der es treuer und aufrichtiger mit Ihnen meint!«

Helene rang mit sich – zu plötzlich, zu überraschend war ihr das Alles gekommen, um ihre Gedanken ruhig sammeln, um überlegen zu können. Noch nie aber hatte sie so das Gefühl ihrer Einsamkeit übermannt, wie in diesem Augenblick – noch nie hatte ein Wesen auf der weiten Welt so herzlich, so einfach zu ihr gesprochen, und als ihr scheuer Blick sich zu dem jungen Manne hob und in dessen Auge Alles, Alles bestätigt fand, was er ihr geboten, da faßte sie sich gewaltsam zu einem Entschluß, und mit leiser, aber fester Stimme sagte sie:

»Ich glaube Ihnen, Graf Rottack – ich will Ihnen glauben – ich würde Ihnen auch in diesem Augenblick vertrauen – wie einem Bruder« – setzte sie kaum hörbar hinzu – »aber für mich selber ist meine ganze Vergangenheit in ein geheimnißvolles Dunkel gehüllt, und die allein Licht darüber geben könnte – bindet ein Schwur.«

»Ein Schwur?« sagte Rottack erstaunt – »aber woher dann – ich begreife nicht, wie Sie da überhaupt . . .«

Helene stand noch immer zögernd vor ihm – aber wußte er nicht schon ihr Geheimniß und sah er sie nicht mit den großen, treuen Augen, die jeden Spott, jeden Hohn verbannt hatten, so ehrlich an?

»Ich will Ihnen Alles sagen, was ich weiß, Graf Rottack,« rang es sich ihr endlich aus der Brust – »hier, dieser Brief kam durch eine Verwechselung des Couverts in meine Hände« – halb abgewandt reichte sie ihm denselben.

»Darf ich ihn lesen?«

»Lesen Sie ihn!« flüsterte Helene und barg wieder ihr Antlitz in den Händen.

Rottack hatte den Brief hastig geöffnet und mit den Blicken verschlungen. »Und der Name Ihrer Mutter?« fragte er.

»Sie weigert sich, ihn zu nennen – ein Schwur binde ihre Lippen.«

»Ein Schwur?« rief Rottack, den Kopf verächtlich zurückwerfend; »den kenne ich – er heißt Selbstinteresse – aber ich begreife noch immer nicht – Doch das ist hier nicht der Ort zu erfragen,« unterbrach er sich rasch, als er den Brief zusammenfaltete und wieder auf den Tisch legte. »Und nun, mein liebes Fräulein,« setzte er hinzu, während er aufs Neue ihre Hand ergriff und es wie ein lichter Sonnenstrahl über sein Antlitz zuckte – »nehmen Sie tausend, tausend Dank für das Vertrauen, das Sie mir geschenkt – wenn ich es Ihnen auch nur durch Ueberraschung abgepreßt. – Aber jetzt fort – Du mein Himmel, mir schwindelt der Kopf ordentlich von all' den Gedanken, die mir jetzt das Hirn durchkreuzen – und doch war ich nie so glücklich, nie so lebensfroh, wie gerade in diesem Augenblick!«

»Sie wollen fort?« rief Helene erschreckt, denn sie konnte sich Rottack's Betragen nicht erklären.

»Gewiß,« lachte dieser – »unten warten sie ja mit dem Boot auf mich – aber sie müssen noch länger warten, denn ich habe vorher einen wichtigen Besuch zu machen – und dann komme ich wieder her – in einer halben Stunde bin ich wieder hier.« – Und ohne Abschied sprang er in jubelndem Uebermuth aus dem Zimmer und die Straße hinab.



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