Friedrich Gerstäcker
Die Colonie
Friedrich Gerstäcker

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30.

Herr von Pulteleben.

Nur verhältnißmäßig kurze Zeit war doch vergangen, seit Sarno die Colonie Santa Clara verlassen und Baron von Reitschen sein Regiment dort begonnen hatte, und welche traurige Veränderung brachte dieser kurze Wechsel in dem sonst so gemüthlichen, selbst freundlichen Ort hervor! Jede Beschäftigung schien darnieder zu liegen; die Colonisten zeigten zu keiner Arbeit mehr Lust; die Handwerker saßen den Tag über in der Schenke, um ihrem Ingrimm bei einem Glas oder mehreren Gläsern Bier Luft zu machen und Herr von Reitschen – regierte indessen ruhig weiter und verübte unter dem Schutz seiner stets bis an die Zähne bewaffneten Soldaten jede Willkür, die ihm irgend beliebte.

Die wenigen Menschen, die noch zu ihm hielten, wurden in jeder Weise begünstigt und konnten thun und lassen, was sie wollten; die Uebrigen durften nicht einmal ihr Recht fordern, wo es gekränkt worden, und die Soldaten besonders verübten in rohem Uebermuth so viel nutzlose Streiche, daß wirklich der urgeduldige deutsche Charakter dazu gehörte, das Alles zu ertragen, ohne gewaltsam dagegen aufzustehen.

Herr von Reitschen kümmerte sich um das Alles nicht; er machte mit dem Baron, von dem er jetzt unzertrennlich schien, seine regelmäßigen Spaziergänge – bei denen er aber stets einen Revolver bei sich führte – und hatte dem Baron sogar, was er den armen Parcerie-Arbeitern rund abgeschlagen, eine der bestgelegenen Colonien gratis überlassen, der Regierung gegenüber unter dem Vorwande natürlich, daß der Baron eine »Musterwirthschaft« darauf anlegen und dadurch den Ackerbau in der Colonie »wissenschaftlich« heben wolle.

Der gute Baron, der nicht einmal seine eigene kleine Chagra hatte lebensfähig verwalten können!

Natürlich machte das Alles nur immer mehr böses Blut, aber es half eben nichts – es blieb Alles beim Alten und nur der Polizeizwang wuchs von Tage zu Tage. Besonders litt darunter der arme Köhler, der immer noch in seinem Gefängniß stak und trotz seiner sonst gesunden Natur ein Fieber davongetragen hatte. So wenig weitere Beweise aber gegen ihn vorlagen, schien der Direktor fest entschlossen, sich an dem jungen Bauer für die erlittene Behandlung zu rächen, wo er die Gewalt dazu so trefflich in Händen hatte und was etwaige Klagen oder Beschwerden der Colonisten selber in Rio de Janeiro betraf, so vertraute er dabei mit ziemlicher Sicherheit dem Schlendrian der brasilianischen Obergerichte, deren Gefahr sich auf Null reducirte, wenn er seine eigenen dort lebenden Freunde mit in Rechnung brachte. Er wußte auch besser als mancher Andere, daß sich alle diese Beamten theils so oder so compromittirt hatten und nur dadurch, daß sie Einer den Andern hielten, konnten sie selber hoffen, keine Untersuchungen gegen sich und ihr eigenes Gebahren aufgebracht zu sehen.

Aeußerst wenig um die politischen, aber desto mehr um seine eigenen Verhältnisse kümmerte sich indessen Herr von Pulteleben, der bis dahin des festen und süßen Glaubens gelebt hatte, daß er mit schwellenden Segeln in einem reizenden und vollkommen sichern Hafen eingelaufen sei und mit der ersten Morgendämmerung zu seiner Bestürzung fand, er sei gar nicht mehr flott, sondern wie festgenagelt auf dem Trockenen in Schlamm und Sand sitze, mit keiner Aussicht, wieder loszukommen.

Von dem Augenblick an, wo er Helenens Brief erhielt, war er solcher Art von dem Gipfel seiner Hoffnungen heruntergerutscht – im Anfange zwar noch langsam und widerstrebend, je mehr er aber in Schuß kam, desto rascher, und jetzt fuhr er mit einer Schnelle in die Tiefe der prosaischen Wirklichkeit hinab, daß ihm ordentlich selber die Sinne darüber vergingen.

Umsonst hatte er sich mit einer wahrhaft rührenden Ausdauer bemüht, von der einst gehofften Schwiegermutter genügende Auskunft über Helenens räthselhaftes Betragen zu erhalten. Das Einzige, was er von ihr erhielt, war die Erlaubniß, die einlaufenden Rechnungen zu bezahlen, und daß er unter solchen Umständen darin bald ermüdete, läßt sich denken.

Das erste Resultat war, daß die Arbeiter ihre Beschäftigung einstellten, was ihn aber nicht im Geringsten mehr interessirte, denn er hatte den Arbeitsplatz schon lange nicht mehr betreten und er schloß nur daraus, daß noch genügender Absatz vorhanden sei, weil die aufgestapelten Kisten mit frischen Cigarren zusehends abnahmen – ohne daß er selber freilich das Geld für eine einzige derselben einkassirt hätte.

In der Colonie konnten diese Vorgänge natürlich auch nicht unbeachtet bleiben, denn daß die Comtesse ihrer Mutter Wohnung verließ und zu fremden Leuten zog, war ein zu sehr in die Augen springendes Factum. Aber mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigt, bildete man sich rasch eine eigene Motivirung dieses Schrittes, die auch manches Wahrscheinliche für sich hatte. Diese lautete: die alte Frau Gräfin wolle der Comtesse den Herrn von Pulteleben zum Mann aufdringen, die Comtesse wolle aber den Herrn von Pulteleben nicht haben und da sie allbekannt stets sehr selbstständig aufgetreten, so war sie einfach aus dem Hause gezogen, bis es der ihr nicht zusagende Bräutigam verlassen habe. Sobald der fort war, würde sie natürlich zu ihrer Mutter zurückkehren.

Das klang freilich nicht sehr schmeichelhaft für Herrn von Pulteleben, aber der arme Teufel sah, wenn er recht darüber nachdachte, selber keinen andern Grund für das merkwürdige Betragen seiner früheren Braut, und begriff dann nur nicht, weshalb sie früher so freundlich mit ihm gewesen war und selbst die Verlobung stillschweigend geduldet hatte. – Er ärgerte sich jetzt noch, wenn er daran zurückdachte, daß er sich nicht wenigstens an jenem Abend den Verlobungskuß hatte geben lassen, und daran war Niemand weiter schuld, wie der nichtsnutzige Junge, der Oskar, mit seinen albernen Streichen. Ueber die Tafel hinüber ging das freilich nicht.

Und was sollte jetzt werden? Sein Geld ging auf die Neige, neuen Zuschuß von Hause konnte er kaum unter drei Monaten erwarten – und was würden sie zu Hause sagen, wenn sie von der rückgängig gewordenen Verbindung mit der Comtesse hörten? – Er wollte – er mußte fort – aber die Schwiegermutter – er hatte eine Heidenangst vor der Frau Gräfin und saß heute wieder in seinem Zimmer, wo er schon so oft gesessen, und überlegte und grübelte, wie er sich am besten und anständigsten aus der Affaire ziehen könne.

Draußen wurden Schritte laut und gleich darauf ging die Thür auf, durch die Oskar, eben von einem Ritt zurückkehrend, trat und sich mit einem »Donnerwetter, ich bin müde!« auf das Sopha warf. Herr von Pulteleben rührte sich nicht, und Oskar, der ihn eine Weile von der Seite betrachtete, lachte; endlich sagte er:

»Na, Pulteleben, Sie schneiden ja ein Gesicht, als ob Ihnen die Petersilie verhagelt wäre. Was ist nun wieder los?«

»Nichts Besonderes, das ich wüßte,« erwiderte der junge Mann, gerade nicht in der Stimmung, eine Unterhaltung mit seinem Besuche anzuknüpfen.

»Was der Lene in den Kopf gefahren ist,« nahm Oskar das Gespräch auf, der die Niedergeschlagenheit seines Gesellschafters natürlich auf die Quelle zurückführte – »das weiß der Henker! Das Mädel muß übergeschnappt sein, denn sie nimmt meinen Besuch nicht einmal mehr an. Was sagen Sie dazu?«

Herr von Pulteleben antwortete nicht, er war entschlossen, den jungen Grafen todtzuschweigen.

»Die Alte steckt dahinter,« fuhr Oskar aber trotzdem und etwas unehrerbietig diese »Alte« auf die Frau Gräfin beziehend fort – »so viel ist sicher, und Sie müssen durch irgend etwas bei ihr in's Fettnäpfchen getreten haben. Machen Sie nur um Gottes willen wieder Frieden mit ihr, denn das ist hier im Hause jetzt gar nicht mehr auszuhalten. Ihr seid Alle unausstehlich und das Schlimmste dabei, daß man Euch noch dazu Alle einzeln aufsuchen muß, um sich einzeln über Euch zu ärgern.«

Herr von Pulteleben schwieg. Er hatte auch andere Ansichten über die »Alte«, denn von seiner Seite war in der That Alles geschehen, ein mögliches Mißverständniß – wenn er auch nicht wußte, durch was es entstanden sein konnte – aufzuklären. Helene war verändert, seit sie den Brief gelesen hatte, so viel blieb sicher, aber was in dem Briefe gestanden und wie weit er damit in Beziehung stehen konnte, begriff er nicht, wenn nicht – er sprang mit einem Mal von seinem Stuhl auf und lief in der Stube auf und ab, ohne Oskar's Gegenwart weiter zu berücksichtigen. – Hatten sie – es lief ihm mit einem unbehaglichen Gefühl über die Seele – hatten sie vielleicht nach Deutschland geschrieben und von dort aus Nachricht erhalten, daß seine Verhältnisse nicht so glänzend waren, wie er hier zuweilen angedeutet?

»Na, wo brennt's nun wieder?« sagte Oskar, der dem Hausgenossen erstaunt zugesehen hatte.

Herr von Pulteleben war aber schon mit sich einig – er hatte noch nie so schnell gedacht. – Um aus dieser Ungewißheit gerissen zu werden, mußte er und zwar gleich, mit der Gräfin sprechen. Es war überhaupt nothwendig, daß er sie aufsuchte, denn so konnte ihr Verhältniß nicht mehr fortbestehen und ein entscheidender Schritt mußte nach der einen oder andern Seite hin geschehen.

»Lieber Oskar,« sagte er plötzlich zu dem jungen Manne – »Sie erlauben wohl, daß ich mich anziehen kann, ich – muß Ihre Frau Mutter sprechen.«

»Ja, ich habe nichts dagegen,« lachte Oskar – »aber Sie sind ja angezogen.«

»Ich – habe schon einen Spaziergang gemacht und – möchte meine Wäsche wechseln.«

»So – aha, und da soll ich derweil gehen?« sagte Oskar, sich langsam erhebend – »nun meinetwegen. Aber, Pulteleben, noch Eins, weshalb ich eigentlich heraufgekommen war. Bitte, borgen Sie mir doch bis morgen früh zwanzig Milreis; ich brauche sie nothwendig.«

Herr von Pulteleben, der schon angefangen hatte, seine Cravatte abzubinden, hörte mit seiner Beschäftigung auf und sah sich nach dem jungen Mann um.

»Lieber Oskar,« sagte er endlich, »es thut mir wirklich leid, keine zwanzig Milreis mehr übrig zu haben, denn Ihre Frau Mutter hat in der letzten Zeit so bedeutend auf mich gezogen, daß ich – daß ich wirklich das wenige mir noch Gebliebene zusammenhalten muß.«

»S–o?« sagte Oskar gedehnt und sah von Pulteleben an.

»Ueberhaupt,« fuhr dieser fort, »müssen Sie in den letzten Tagen mehrere recht hübsche Einnahmen gehabt haben, denn ich sehe, daß sich die Cigarrenkisten da unten auffallend vermindern.«

»Da fragen Sie meine Mutter,« rief der junge Bursche, »die besorgt das; ich habe mit Müh' und Noth tausend Stück für mich gerettet.«

»Gerettet? – hm!«

»Also Sie haben nichts?«

»Im Augenblick wirklich nicht. Zu was brauchen Sie's denn?«

»Na, wissen Sie,« sagte Oskar, »wenn Sie nichts haben, kann Ihnen das auch einerlei sein. Guten Morgen!« Und damit verließ er das Zimmer und warf die Thür hinter sich in's Schloß.

»Weiter fehlte mir gar nichts,« brummte von Pulteleben, riegelte hinter ihm zu und begann dann mit äußersten Sorgfalt seine Toilette zu machen. Selbst den schwarzen Frack bürstete er sehr sorgfältig aus, seufzte über einige Mottenlöcher, die ihm hineingefressen waren, klingelte dann und als Dorothea heraufkam, ließ er sich bei der Frau Gräfin melden, »da er etwas Wichtiges mit ihr zu sprechen habe.«

Das Mädchen kam nach einiger Zeit zurück und berichtete, es würde der Frau Gräfin sehr angenehm sein, und von Pulteleben stieg jetzt genau mit dem nämlichen Gefühl die Treppe hinab, als ob in der ersten Etage ein Zahnarzt wohne, unter dessen Händen er sich einer sehr gefürchteten Operation unterwerfen wolle.

Die »Frau Gräfin« – wir müssen sie doch jetzt schon so fort nennen, da ja von Pulteleben auch keine Ahnung vom Gegentheil hatte – saß in voller Toilette auf ihrem Sopha, denn auch sie war eben im Begriff gewesen, auszugehen und einen Besuch bei Rohrlands zu machen. Immer wiederholte sie diese Besuche, in der steten Hoffnung, Helenen dort einmal allein zu treffen und sprechen zu können, und immer wich ihr Helene aus, ja, schloß sich sogar ein, wenn sie es erzwingen wollte.

»Sie haben gewünscht, mich zu sprechen, Herr von Pulteleben?«

»Ja – Frau Gräfin,« sagte der junge Mann, mit dem Hut in der Hand und sich verlegen nach einem Stuhl umsehend – »ich – und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie . . .«

»Und mit was kann ich Ihnen dienen? Bitte, nehmen Sie Platz,« sagte die Gräfin.

»Sie erlauben – ja, Frau Gräfin – Sie können sich doch wohl denken,« sprang von Pulteleben verzweifelt gleich mitten in die Frage hinein, »daß mir der jetzige Zustand – die Vernachlässigung meiner – Ihrer Fräulein Tochter, der Comtesse, unerträglich werden muß, und ich habe mir Tag und Nacht den Kopf darüber zerquält, was die Veranlassung dazu gewesen sein könnte. Wenn – wenn Sie mich nur über eins beruhigen möchten.«

»Und das wäre?«

»Der Brief?« sagte von Pulteleben entschlossen.

»Welcher Brief?« fuhr die Frau Gräfin auf und schoß einen mißtrauischen Blick nach ihrem vis‑à‑vis. Hatte Helene etwa ihr Geheimniß verrathen? Aber von Pulteleben verscheuchte bald diese Befürchtung.

»Der Brief, den die junge Dame an jenem Abend aus Ihrem Zimmer brachte,« sagte er entschlossen, »denn von jenem Augenblick an datirt sich die mir so ungünstige Veränderung und ich kann in der That jetzt nicht anders glauben, als daß irgend eine mir böswillig gesinnte Hand darin Nachrichten über mich gegeben hat, die zu widerlegen mir wahrscheinlich ein Leichtes sein würde, wenn ich – nur eben wüßte, worauf sie basirten.«

»Beruhigen Sie sich darüber,« erwiderte die Gräfin, der damit ein Stein vom Herzen fiel; »der Brief hatte nicht das Geringste mit Ihnen zu thun und betraf in der That auch nur gleichgültige Gegenstände. Meine Tochter benutzte das nur als Vorwand. Seien Sie versichert, daß von Ihnen nie auf ungünstige Weise die Rede gewesen ist, und ich hoffe selbst jetzt noch, Helene zu bestimmen, ihre Meinung zu ändern. Lassen Sie uns die Sache nur ruhig abwarten und nichts übereilen. Wir müssen im Gegentheil unser in der letzten Zeit sehr vernachlässigtes Geschäft wieder mit frischen Kräften in die Hand nehmen und ich bin dann überzeugt . . .«

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche,« sagte von Pulteleben, den schon bei Erwähnung des ›Geschäfts‹ ein eigenes Grauen beschlich; wußte er doch jetzt, daß sich das Ganze allein darauf beschränkte, zu einem ihm vollkommen räthselhaften Betrieb nur fortwährend frische Summen aus ihm herauszudrücken. Selbst die Aussicht auf die für das Rittergut zu erwartenden Gelder hatte bei ihm den Zauber eingebüßt, der sie sonst verklärte. – »Ich für meine Person setze nicht mehr die geringste Hoffnung auf die Comtesse, denn – wie groß auch meine Liebe für sie war und ist, darf ich doch nicht daran denken, mich ihr aufzudringen, und jedem weiteren Schritt von meiner Seite ließe sich kein anderer Name geben.«

»Aber, lieber Pulteleben!«

»Deshalb,« fuhr aber der junge Mann unbeirrt fort, »bin ich auch fest entschlossen, mich – von dem Geschäft zurückzuziehen, da ich – doch auch nachgerade anfange einzusehen, daß ich einer solchen Arbeit nicht gewachsen bin und Oskar – sich entschieden weigert, mir darin beizustehen.«

»Aber das wird sich Alles reguliren,« suchte ihn die Gräfin zu beschwichtigen; »wir müssen nur nicht verlangen, daß wir mit einem Schlage Schätze sammeln wollen. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß wir mit dem neuen Tabak . . .«

»Ich bin fest entschlossen, für meine Rechnung keinen Tabak mehr zu kaufen,« sagte der zur Verzweiflung Getriebene. »Wollen Sie es auf eigene Rechnung fortführen, so wünsche ich Ihnen alles Glück und allen Segen dabei, Frau Gräfin, aber ich bitte Sie ernstlich, mich von diesem Augenblick an von jedem Betrieb desselben zu dispensiren.«

»So?« sagte jetzt die Frau Gräfin, die wohl fühlte, daß die Bande gelockert, ja vielleicht schon gelöst waren, die den jungen, schüchternen Menschen bis dahin an sie gefesselt gehalten, indem sie zu ihrer letzten Waffe griff; denn sagte sich Helene jetzt vollständig von ihr los, von was sollte sie dann mit ihrem Sohne leben? – »und das sind Sie im Stande, mir in's Gesicht zu sagen? Das halten Sie jetzt für gut und nützlich, nachdem Sie mich erst, eine arme Frau, die von Geschäften gar nichts verstehen kann, verleitet haben, meine ganzen Existenzmittel in ein solches Unternehmen zu stecken?«

»Aber, Frau Gräfin!« rief von Pulteleben wirklich entsetzt, denn auf diese Anschuldigung war er nicht gefaßt gewesen.

»Ist das männlich, ist das selbst nur ehrlich gehandelt?« fuhr die Frau fort, die wieder Boden zu fühlen glaubte. – »Ich habe mein ganzes Vertrauen auf Sie gestellt gehabt, junger Mann, ich sah, daß ich es mit einem braven, rechtlichen Menschen zu thun hatte und überließ Ihnen ohne Rückhalt Alles, und jetzt wollen Sie, wo einmal eine flüchtige Wolke vor die Sonne tritt, muthlos und feig die Flinte in's Korn werfen und mich im Stich, mich allein mit allen übernommenen Verbindlichkeiten lassen? Können Sie das über's Herz bringen, dürfen Sie das? Nein, ich sehe, daß Sie den unüberlegten Schritt schon bitter bereuen; ich trage Ihnen auch keinen Groll deshalb nach, Arno – ich will sogar diesen Augenblick, der recht, recht bitter für mich war, das sage ich Ihnen aufrichtig, vergessen – es soll nicht einmal der Schatten desselben mehr zwischen uns liegen!«

»Frau Gräfin!«

»Keine Entschuldigung, lieber Arno,« sagte die Dame, die ihre besonderen Gründe hatte, sich auf keine Einzelheiten einzulassen. »Ich gehe jetzt zu meiner Tochter Helene – in wenigen Tagen kommt außerdem der schon längst erwartete Dampfer, der mir sicher meine Briefe bringt, und – Sie werden mir noch fußfällig abbitten, daß Sie je an mir gezweifelt haben. – Werd' ich Ihnen doch beweisen können, daß ich wirklich wie eine Mutter für Sie gesorgt!«

»Beste Frau Gräfin!«

»Es ist schon gut,« lächelte seine Gönnerin – »wir sprechen heut Abend weiter darüber. – Guten Morgen, lieber Arno – guten Morgen!«

Die Frau Gräfin stand auf, grüßte noch einmal freundlich mit der Hand und rauschte dann durch die Thür die Treppe hinunter. Hätte sie aber ahnen können, was in Arno von Pulteleben's Busen vorging, sie hätte ihn nicht so rasch verlassen – wenigstens jetzt noch nicht.

Gerade als die Gräfin um die Ecke bog, kam Jeremias in das Haus herein und stieg langsam die Treppe herauf. Herr von Pulteleben hatte ihn kommen sehen und erwartete ihn oben. Leise murmelte er dabei: »Ja, ich weiß schon, mit Helenen sprechen, Briefe von Deutschland erwarten, mit den Wechseln, die nie eintreffen! – Nein, Frau Gräfin, das zieht nicht mehr und wenn ich da nicht Gewalt brauche, bin ich wieder angeführt! – He – Jeremias – Jeremias! Kommen Sie einmal rasch herauf!«

»Nun?« sagte Jeremias, indem er dem Rufe Folge leistete, »was haben Sie denn heute so Eiliges? Die Post geht noch nicht!«

»Jeremias,« sagte von Pulteleben, der sich in sichtbarer Aufregung befand, »wollen Sie – wollen Sie zwei Milreis verdienen?«

»Sind Sie ein komischer Mensch!« schmunzelte Jeremias; »können Sie mir einen vernünftigen Grund sagen, warum nicht?«

»Wo ist Oskar?«

»Sitzt drüben bei Buttlichs und trinkt eine Flasche Bier.«

»Gut, dann schaffen Sie mir dieses Gepäck in Bohlos Hotel hinüber. Wenn Sie binnen jetzt und fünfzehn Minuten drüben sind, bekommen Sie zwei Milreis; für jede Minute, die Sie früher abmachen, lege ich Ihnen hundert Reis auf, für jede, die Sie später dort hinkommen, ziehe ich Ihnen hundert ab. Sind Sie das zufrieden?«

»Aber die Koffer sind ja noch nicht einmal gepackt!«

»Das ist in zwei Minuten geschehen und zählt nicht.«

»Hurrjeh!« sagte Jeremias, indem er aufgriff, was auf den Stühlen lag und rücksichtslos in die offenen Koffer hineinstopfte – »mein Karren steht gerade unten an der Thür, in sieben und einer halben Minute bin ich drüben.«

»Um Gottes willen, Sie zerdrücken mir ja Alles!« rief Herr von Pulteleben, über den Eifer jetzt ordentlich erschreckt, den der kleine Bursche entwickelte.

»Schad' nichts, bügeln wir Alles wieder aus!«

»Hier die Stiefel.«

»Nehmen wir in die Hand.«

»Den Plaid.«

»Können wir oben aufschnallen.«

»Die Hutschachtel.«

»Schmeißen wir auf den Karren – und die Cigarrenkiste auch.«

»Die bleibt hier.«

»Desto besser – geben Sie einmal den Schlafrock her.«

»Da klingelt noch etwas darin.«

»Macht nichts – werden ein Paar Silberstücke sein – können Sie drüben herauspuddeln – einer wär' fertig.«

»Da hängt noch eine Weste – halt, das Handtuch bleibt auch hier.«

»Sollten Sie sich eigentlich zum Andenken mitnehmen,« meinte Jeremias; »Jemine, ist das ein Vergnügen! – Sonst noch 'was – Haarlocken vielleicht oder getrocknete Blumen?«

»Hinunter mit dem, ich mache indessen den andern fertig!«

Jeremias packte den einen Koffer auf und die Dorothea stürzte erschreckt aus der Küche heraus, als er damit auf der obern Treppe ausrutschte und sechs oder acht Stufen mit furchtbarem Spectakel hinabpolterte. Jeremias war aber nicht der Mann, sich bei Kleinigkeiten aufzuhalten, und stand im Nu wieder auf den Füßen.

»Herr du meine Güte!« rief Dorothea bestürzt – »ist denn Feuer oben?«

»Noch nicht, aber's riecht schon nach Rauch,« sagte Jeremias und war im Handumdrehen die zweite Treppe hinunter.

Zehn Schritt vom Hause stand sein Karren, den er rasch vor die Thür zog; der Koffer lag darauf und mit immer drei Stufen auf einmal lief er nach dem zweiten, den ihm Herr von Pulteleben schon durch die Thür entgegenzog.

Wie er mit einer Masse kleinen Handgepäcks beladen auf die erste Etage kam, stand die Dorothea da, schlug die Hände zusammen und sagte:

»Aber Herr von Pulteleben, wollen Sie denn auch fort?«

»Ich werde eine kleine Reise machen, Dorothea,« sagte der junge Mann, der sich selber vor der alten Magd genirte, seine Flucht einzugestehen; »hier ist etwas für Ihre Bemühungen für mich,« und er drückte ihr dabei fünf Milreis in die Hand.

»Ach, ich danke auch schön – das war ja gar nicht nöthig – na, da wird's aber recht einsam bei uns werden.«

»Guten Morgen, Dorothea!«

»Guten Morgen, Herr von Pulteleben!«

Unten an der Treppe begegnete er dem Bäckermeister Spenker, der eben hinauf wollte.

»Ach, Sie wollen wohl verreisen, Herr von Pulteleben, da ist mir's sehr lieb, daß ich Sie noch treffe. – Ich wollte meine Miethe holen. Die Frau Gräfin hat mich wieder so lange damit hinausgezogen.«

»Die Frau Gräfin wird jeden Augenblick wieder zurück sein,« sagte Herr von Pulteleben – »ich habe die Kasse nicht mehr – guten Morgen, Herr Spenker!«

»Sie haben die Kasse nicht mehr?« brummte der Bäckermeister leise vor sich hin, als Herr von Pulteleben schon aus dem Hause war – »na, da bin ich wirklich neugierig, wer sie jetzt hat. Das ist eine Staatswirthschaft!«

»Wollen Sie nicht lieber warten, bis die Frau Gräfin zurückkommt?« schmunzelte Jeremias, als er sein Tragband draußen umhing und sich vorspannte, und sah dabei Herrn von Pulteleben mit einem höchst komischen Blick von der Seite an; »würde ihr doch unendlich leid thun –«

»Sieben Minuten sind schon um,« sagte Herr von Pulteleben, nach seiner Uhr sehend.

»Und in dreien bin ich drüben!« rief Jeremias und rasselte auch im nächsten Augenblick mit seinem Karren die Straße hinab, als ob er vor eine Feuerspritze gespannt wäre und zur Rettung eilte. Herr von Pulteleben konnte gar nicht mit ihm Schritt halten. –



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