Friedrich Gerstäcker
Die Colonie
Friedrich Gerstäcker

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23.

Die Abendgesellschaft.

In der Wohnung der Frau Gräfin sollte heut Abend große Gesellschaft sein und die Zimmer waren deshalb alle festlich mit Blumen geschmückt, die Cigarrentische ängstlich bei Seite geschafft und einige Dutzend Stearinlichter in den verschiedenen Räumen angezündet, ja, selbst Helenens Instrument in das Empfangszimmer gebracht worden. Auf acht Uhr lautete die Einladung und es fehlten noch etwa fünf Minuten daran, als die Frau Gräfin, in einem schweren Seidenkleid, das ihr Herr von Pulteleben extra aus Rio verschrieben und das sehr viel Geld gekostet hatte, in den Empfangssaal rauschte, um dort vor dem Spiegel ihre Toilette noch einmal zu mustern.

Helene saß am Fenster, hatte den Kopf in die Hand gestützt und schaute nach dem letzten Streifen fahlen Lichtes, der noch den westlichen Horizont begrenzte und die Contouren des malerisch eingeschnittenen Gebirgszuges scharf und deutlich in der klaren Luft abzeichnete.

»Wenn nur der Jeremias heut Alles richtig besorgt hat,« sagte die Mutter endlich und suchte vergebens in dem Spiegel eine Frontansicht von ihrem Rückgrat zu bekommen – »ich traue ihm nicht recht; er ist ein ganz entsetzlicher Mensch mit seinen Verkehrtheiten.«

»Ein Irrthum war dieses Mal in den Einladungen nicht möglich,« sagte Helene, »denn er hatte ja alle Namen deutlich aufgeschrieben.«

»Aufrichtig gesagt,« fuhr die Mutter fort, »ist es mir nicht recht angenehm, daß wir bei der heutigen Gelegenheit gerade wildfremde Menschen haben, von denen ein paar sogar mit dem früheren Director eng liirt waren. Der Baron wird wieder schön über die ›bürgerliche Versammlung‹ die Nase rümpfen.«

»Es sollte mir leid thun,« sagte Helene gleichgültig, »wenn der alte Adel des Barons sich dadurch unangenehm berührt fände; wenn er aber unter seines Gleichen leben wollte, hätte er nicht nach Brasilien auswandern, wenigstens hier keine deutsche Colonie zum Aufenthalte wählen sollen. Der eine der Herren ist übrigens, um Dich und den Herrn Baron zu beruhigen, von Adel und zwar ein früherer Artillerieofficier, ein Herr von Schwartzau.«

»Und wie heißt Dein kühner Pferdebändiger?«

»In der Colonie wird er kurzweg Herr Randolph genannt; ich weiß aber nicht einmal, ob das sein Vor- oder Zuname ist – wen interessirt das auch, wenn wir nur einen Namen haben, mit dem wir ihn anreden können.«

»Und Du nimmst weiter kein Interesse an ihm?« fragte die Frau und sah ihre Tochter forschend dabei an.

»Zu welchem Zweck kommen wir heut Abend hier zusammen?« fragte Helene kalt und stolz.

»Es ist gut,« sagte die Mutter und sah nach der Uhr, die sie am Gürtel trug – »ah, schon acht Uhr, und da hör' ich auch Jemanden auf der Treppe.«

Die Thür des Zimmers wurde in diesem Augenblick rasch geöffnet; Oskar trat herein und warf, wie gewöhnlich, seine Mütze in die Ecke.

»Er ist's richtig,« lachte er dabei, zu Helenen an's Fenster gehend; »hab' ich Dir's nicht gleich gesagt?«

»Wer ist's? Was habt Ihr nur wieder?« fragte die Mutter. »Du könntest Dich doch wenigstens heut Abend ein bischen zusammennehmen, Oskar, und Dein wildes, ungestümes Wesen lassen. Ist das nun eine Manier, die Mütze aufs Sopha zu werfen, wo wir jeden Augenblick unsere Gesellschaft erwarten! Wer ist wer?«

»Jener Mensch,« rief Oskar, »den wir neulich Morgens überholten, als uns die Pferde durchgegangen waren, und der Deinem Schimmel, glaub' ich, in die Zügel gesprungen, ist richtig unser heimlicher Violinspieler von früher her, hinter dem ich, wer weiß wie oft, mit einem Eimer Wasser hergekrochen bin und ihn nie habe erwischen können – aber abgewöhnt hab' ich's ihm wenigstens, daß er das Gekratze hat sein lassen.«

Helene antwortete nichts darauf und wandte sich wieder dem Fenster zu und Oskar, mit einer Quantität anderer Neuigkeiten im Kopfe, fuhr, ohne auf die Schwester weiter zu achten, fort:

»Und mit des Meier Frau ist es auch richtig – die ist in den Fluß gesprungen, weil sie der alte Einsiedler da drüben so furchtbar geprügelt hat, daß sie's zuletzt nicht mehr aushalten konnte.«

»Gemeines Volk!« sagte die Frau Gräfin wegwerfend; »aber ich glaubte, Du wolltest zu der Auction hinausreiten?«

»Da bin ich auch gewesen; die langweilige Geschichte hat eben so lange gedauert, da war gar kein Fertigwerden mit all' den tausend und tausend Kleinigkeiten.«

»Und hat Herr von Pulteleben viel gekauft?«

»Verwünscht wenig,« sagte Oskar; »ein Herr Könnern – Du mußt ihn schon in Santa Clara gesehen haben und er wohnte ja bei Sarno im Hause – schien ordentlich versessen auf Alles, was sich noch irgend brauchbar erwies, und es war gar nicht möglich, gegen ihn anzubieten.«

»Herr von Pulteleben ist zurück?«

»Hörst Du ihn nicht oben herumpoltern? Er kann wieder seine Stiefel nicht ankriegen.«

»Du bist ein schrecklicher Mensch, Oskar!« sagte die Mutter und sah nach ihrer Uhr – »aber wo unsere Gäste bleiben ist mir unbegreiflich.«

»Die Meisten sind erst jetzt von der Auction zurück,« sagte Oskar; »der Director war auch oben und wollte gern einige der guten Möbel haben, aber Gott bewahre, Herr Könnern brauchte sie selber – der muß schmählich reich sein.«

»Herr Könnern ist ja wohl auch mit eingeladen?« fragte die Frau Gräfin ihre Tochter.

»Ja,« sagte Helene; »er hat sich aber entschuldigen lassen.«

»So – entschuldigen? Wir sind dem Herrn wahrscheinlich nicht vornehm genug. Was sich, um Gottes willen, solche Menschen nur einbilden!«

»Da unten hör' ich Jemanden,« rief Oskar – »Jeremias unterhält sich – der Bursche ist heute göttlich – hast Du ihn schon in seiner Galatracht gesehen?«

Die Frau Gräfin hatte aber keine Zeit mehr zu antworten, denn in diesem Augenblick wurde die Thür weit aufgerissen und Jeremias, der wirklich heute im Glanz seines gewöhnlichen Ballornats erschien, meldete:

»Seine Ehrwürden der Herr Pastor Beckstein mit Ihro Ehrwürden der Frau Gemahlin.«

Oskar drehte sich auf dem Absatz herum und drückte sein Taschentuch in den Mund, und seine Mutter konnte ihm nur noch einen wüthenden Blick zuschleudern, denn im nächsten Moment mußte sie schon mit lächelndem Gesicht den Herrn Pastor begrüßen, der in schwarzem Frack, weißer Weste, gesticktem Vorhemdchen und eben solchem weißen Halstuch, weiter aber, etwas unpassend, mit Nanking-Beinkleidern in der Thür erschien und seine Frau hinter sich herschleppte.

Die Frau war eine hagere, ausgetrocknete Gestalt mit etwas spitzer Nase und eben solchen Backenknochen, kleinen, grauen Augen und dünnen Lippen – außerdem allbekannt in Santa Clara als Schrecken der Dienstboten und – wenn das Gerücht nicht log – auch ihres eigenen Mannes. Jetzt aber erschien das ganze Gesicht nur Licht und Sonnenschein, so freute sie sich, die Frau Gräfin wohl und munter zu sehen, so glücklich war sie über das vortreffliche Aussehen der gnädigen Comtesse – von Oskar nahm sie keine Notiz, denn sie hatte noch zwischen ihrem Manne und der Thür durch sein Lachen gesehen und strafte ihn jetzt mit stiller, aber furchtbarer Verachtung.

Pastor Beckstein selber, eine grobe, vierschrötige Gestalt, schien sich noch nicht recht wohl in seiner Umgebung zu fühlen, und so behaglich er drüben in der Schenke hinter einer Flasche Bier oder einer Partie Solo saß, so beengt fühlte er sich von jeder anständigen Umgebung. Pastor Beckstein war auch in der That nicht in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen, sondern daheim ein gar ärmliches Dorfschulmeisterlein gewesen. Aus einem oder dem andern Grunde mußte er aber seinen Dienst quittiren, war dann eine Zeit lang Unterschaffner an einer Eisenbahn und wanderte zuletzt nach Brasilien aus. Hier, da er eben keine andere Stellung bekommen konnte, wurde er Geistlicher und kanzelte jetzt seine Zuhörer jeden Sonntag Morgen ab. Er hatte wenigstens, wie der Amerikaner sagt, the gift of the gab und mit einer Unzahl citirter Bibelstellen, die natürlich Niemand nachschlug, gelang es ihm, sich ziemlich geschickt in seiner Stellung zu behaupten – konnten die Colonisten doch auch keinen andern und besseren auftreiben.

Uebrigens war er, und besonders außerhalb der Kirche, tolerant genug, viel toleranter wenigstens, als die Frau Pastorin, die eine strenge Controle über sämmtliche Kirchgänger in der Colonie hielt. Aber auch sie schien das Umgehen der Kirche weniger für eine Sünde gegen Gott selber, als für eine persönliche Beleidigung ihres Mannes zu halten, und vergab es deshalb nie. – Sie ging natürlich in ein ziemlich abgetragenes schwarzes Seidenkleid wie eingeschnürt und ohne Crinoline, mit einer großen weißen Haube auf, die weiter nichts Merkwürdiges als zwei furchtbar große, reich gestickte, leider auch schon einmal ausgebesserte Zipfellappen und eine sehr große, orangenfarbige Rose trug.

Glücklicher Weise blieben diese Beiden nicht lange die einzigen Gäste, denn die Unterhaltung wäre unter so verschiedenen Elementen sehr bald in's Stocken gerathen. Bald danach meldete Jeremias: »Herr Balthasar Rohrland nebst Frau Gemahlin, Madame Rohrland.«

Madame Rohrland war ganz das Gegentheil der Frau Pastorin: ein kleines, rundes, munteres Frauchen, sehr einfach, aber gar nicht geschmacklos gekleidet, mit weiter keinem Schmuck, als ihrem Trauring und einer einzelnen Achatschnur um den Hals.

Rohrland selber war ein schlichter, praktischer Mann mit gesundem Mutterwitz, und er wie seine Frau bewegten sich vollkommen ungenirt in der bis jetzt noch immer etwas steifen Umgebung.

Mit dem Schlage halb Neun erschien Baron Jeorgy, und zwar grundsätzlich stets genau eine halbe Stunde später, als die an ihn ergangene Einladung lautete. Er war natürlich à quatre épingles gekleidet; seine Toilette ließ nichts zu wünschen übrig, und er hätte eben so gut damit bei dem Lever irgend eines europäischen Fürsten erscheinen können. Pastor Beckstein schrak auch wirklich ordentlich in sich zusammen, als er zufällig einmal einen Blick auf seine Nankings warf. Die Frau Pastorin haßte den Baron aber seit diesem Augenblicke noch viel mehr, als sie ihn je gehaßt hatte – es versteht sich von selber, nur seines Stolzes und Hochmuths wegen, der ihn sogar nicht ein einziges Mal in ihre Kirche ließ.

Jetzt erschien auch endlich – als Hausgenosse jedoch eben so gewissenhaft und laut von Jeremias angemeldet – Herr von Pulteleben, gleichfalls sehr elegant gekleidet, sogar mit einem noch neueren Frackschnitt als der Baron, was diesen wieder ärgerte. Herr von Pulteleben ging übrigens vor allen Dingen auf die Damen zu, diese zu begrüßen, machte dem Baron dann die gehörige Verbeugung und grüßte den Herrn Pastor mit seiner Gattin, die anfingen, sich in eine Ecke zu drücken und dort festzusetzen, in etwas summarischer Weise – was wieder einen Stachel in der Brust der Frau Pastorin zurückließ. Die Frau Pastorin sammelte überhaupt heut Abend Stacheln – wären es thatsächliche gewesen, ihr Herz hätte beim Nachhausegehen wie ein blutiges Nadelkissen aussehen müssen. Dann näherte sich Herr von Pulteleben der Frau Gräfin, um ihr nur vorläufigen, übrigens nicht befriedigenden Bericht über die Auction abzustatten. Die Frau Gräfin hatte nämlich gehofft, daß er eine ganze Menge sehr hübscher, wenn auch vielleicht sehr unnöthiger Dinge mitbringen würde, und sah sich darin eben nicht angenehm getäuscht.

Jetzt meldete Jeremias wieder einen neuen Gast, den Herrn Direktor von Reitschen, dem er aber vorher noch einmal, aus Ungeschicklichkeit oder Malice, die Thür vor der Nase zumachte und dann tausendmal um Entschuldigung bat.

Günther und Felix waren die Letzten, die erschienen, und Felix in der That noch bis zum letzten Augenblick unschlüssig gewesen, ob er gehen oder bleiben solle. Ja, noch vor der Thür hatte er des Freundes Arm gefaßt und gesagt:

»Laß mich lieber unten, Günther – es ist wahrhaftig besser, und die Frau da oben mag ihre Rolle weiter spielen nach Herzenslust. Wir sind ja Alle miteinander Komödianten auf dieser wunderlichen Weltbühne, und die Gesellschaft betrügt entweder selber oder verlangt dringend, betrogen zu werden – warum ihr also den Spaß verderben?«

»Ich würde Dir trotzdem zureden, mit hinauf zu kommen,« sagte Günther, »wenn ich nicht heute zufällig gehört hätte, daß diese Abendgesellschaft wirklich zu einer Art Verlobungsfeier benutzt werden soll, und ich kann mir denken, daß Dir das nicht angenehm wäre. Hast Du also nicht ganz besondere Lust mit hinauf zu gehen, so kehre ruhig nach Haus zurück; ich will Dich dann schon oben entschuldigen. Es findet sich später wohl einmal eine andere und bessere Gelegenheit, die Frau Gräfin wenigstens wissen zu lassen, daß man ihre wahre Abkunft kennt.«

»Glaubst Du, daß mich die Verlobung stören würde?« lachte der junge Graf bitter – »wahrhaftig nicht! Im Gegentheil gönne ich der nachgemachten Comtesse von Herzen diesen Herrn von Pulteleben, und ihm eben so gern die Kammerfrau als Schwiegermutter – ich würde mich sogar hüten, die Verbindung zu stören, und wenn mir das auch nur ein Wort kostete. Aber in einer Art hast Du Recht – wenn auch in einem andern Sinne, wie Du es gemeint – Helene selber könnte nämlich glauben, ich sei der Verlobung ausgewichen, und deshalb – gehen wir hinauf. Ich freue mich jetzt selber darauf, einmal einer ächt aristokratischen Gesellschaft in einer brasilianischen Colonie beizuwohnen.«

»Du willst mitgehen?«

»Gewiß,« lachte Felix, des Freundes Arm wieder ergreifend und ihn mit fortziehend; »es muß überhaupt schon fast dreiviertel sein, und wir werden jedenfalls mit Schmerzen erwartet. Wie sich die Frau Gräfin freuen wird, meine Bekanntschaft zu erneuern! Aber ich bitte Dich, Günther, nie selber über meine Entdeckung zu reden. Das Geheimniß ist mein eigen.«

»Gewiß – aber glaubst Du, daß sie Dich wiedererkennt?«

»Ich glaube kaum – zu viel Jahre sind verflossen, seit wir uns nicht gesehen, und ich selber – bin alt dabei geworden; vielleicht kann ich jedoch ihrem Gedächtniß nachhelfen.«

»Da sind wir.«

»Allerdings; es weht ordentlich ein feierlicher Duft durch diese erleuchteten Hallen – wenn nur das Ganze nicht so nach dem Tischler röche – und Jeremias in Gala – Ich fürchte fast, Günther, daß wir nicht in standesgemäßer Toilette erscheinen.«

»Immer 'rein, meine Hörrschaften,« rief ihnen Jeremias unten im Hausflur entgegen – »immer 'rein, hür ist der Platz, wo Sie Staunenswerthes sehen und erleben werden – immer hereun! Erwachsene Herrschaften zahlen gar nichts und Säuglinge unter zwölf Jahren die Hälfte!«

»So recht, Jeremias,« lachte Günther – »ist die Gesellschaft versammelt?«

»Alle da, meine Hörrschaften,« erwiderte Jeremias mit größtem Ernste – »fehlten nur noch, wie der Dichter sagt, zwei lumpige Personen« – und damit stieg er die Treppe vor ihnen hinauf, riß die Thür auf und meldete:

»Herr Baron Günther von Schwartzau mit – Donnerwetter, ich weiß ja Ihren Namen nicht!«

Oskar lachte gerad' hinaus, und auch der Director konnte ein Lächeln nicht unterdrücken; nur die Frau Gräfin schoß einen zürnenden Blick auf den tactlosen Diener, und Baron Jeorgy schien ebenfalls bis in die Fingerspitzen hinein empört über diese Mißhandlung jedes Anstandes, jeder Sitte. Günther übrigens, ohne sich im Geringsten außer Fassung bringen zu lassen, nahm Felix bei der Hand, ging mit ihm auf die Gräfin zu und sagte mit einer leichten Verbeugung:

»Gnädige Frau, Sie waren so gütig, mich und Freund Randolph auf heut Abend einzuladen und ich erlaube mir deshalb, uns Beide hier vorzustellen.«

Die Frau Gräfin machte eine stumme Verbeugung gegen Herrn von Schwartzau, die nur an der äußersten Kante den neben ihm stehenden Freund einschloß; Helene aber, die hinter ihrer Mutter gestanden, trat jetzt vor und von Schwartzau die Hand reichend, sagte sie herzlich:

»Sie haben mir besonders eine große Freude gemacht, daß Sie der Einladung gefolgt sind, denn draußen im Walde wurde mir gar keine Zeit geboten, Ihnen so herzlich für die Hülfe zu danken, die Sie mir geboten, wie ich es wohl gemocht.«

»Comtesse,« sagte Günther, wirklich fast überrascht von der ausdrucksvollen, edlen Schönheit des Mädchens – »so sehr wir den Fall Ihretwegen bedauert haben, so glücklich hat uns der kleine Dienst gemacht, den wir Ihnen leisten durften. Uebrigens muß ich die Haupthandlung vollkommen von mir abwenden, denn Freund Randolph hier war der eigentliche Held des Morgens, indem er sich Ihrem Pferd entgegenwarf.«

Helene hatte sich mit ihrem Dank gegen beide Männer gewandt gehabt, aber während sie sprach doch immer nur Günther angesehen und höchstens einmal ihren Blick wie scheu zu seinem Begleiter, aber nie bis zu dessen Antlitz erhoben. Jetzt konnte sie es nicht länger vermeiden und auch ihm die Hand reichend und tief dabei erröthend, sagte sie, aber nicht mehr so zuversichtlich wie vorher:

»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich war an jenem Morgen so mit meinem wildgewordenen Thier beschäftigt, daß ich wirklich kaum mehr hörte oder sah, was um mich her vorging – viel weniger denn hätte Personen unterscheiden können. Nehmen auch Sie meinen herzlichsten Dank.«

»Bitte, mein gnädiges Fräulein,« sagte Felix ruhig, indem er die dargebotene Hand nahm, leicht an seine Lippen hob und dann wieder los ließ – »machen Sie keine Umstände. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich dem Pferd nur aus einer Art von alter Gewohnheit entgegensprang. Ich kann nämlich keine durchgehenden Pferde leiden und fahre ihnen immer in den Weg, wo ich sie eben treffe.«

»Sie wollen also damit sagen.« lächelte der Direktor, »daß Sie dem Pferde mehr des Pferdes als der Reiterin wegen in den Zügel fielen.«

»Genau dasselbe,« sagte Felix, sich hoch aufrichtend und den Director ansehend – »mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Herr Director von Reitschen,« sagte Günther, ihn vorstellend, und die beiden Männer verbeugten sich vornehm gegen einander.

»Der Herr Randolph hat etwas sehr Anständiges in seinem Benehmen,« flüsterte der Baron Jeorgy leise der Frau Gräfin zu, neben der er stand.

»Finden Sie?« sagte die Gräfin und musterte den Fremden mit einem gleichgültigen Blick; sie hatte ihr Auge auch schon wieder von ihm abgewandt, als es noch einmal dahin zurückkehrte und ihn aufmerksam betrachtete. Wo hatte sie denn das Gesicht schon einmal in ihrem Leben gesehen?

Helene erröthete noch tiefer, als der junge Mann ihren Dank auf so fast leichtfertige Art zurückwies; sein ganzes Benehmen dabei war aber dabei so achtungsvoll und gewandt, daß sie ihm auch wieder nicht böse sein konnte.

Jeremias störte die Unterhaltung auf sehr directe Weise, indem er ein großes Theebrett mit einer Anzahl Tassen und Rahmgießer, Zuckerdose und Rumflasche mitten zwischen die Gruppen hineinschob und auf das Verbindlichste fragte:

»Irgend etwas gefällig? Bitte, langen Sie zu. Herr von Schwartzau – hurrjeh, jetzt hätten Sie gleich die Rumflasche mit dem Ellbogen heruntergefegt!«

Bald war der Thee allgemein und ebenso das Gespräch, denn der Thee verschwemmt eigentlich jede Gesellschaft, und eine ernsthafte oder geistreiche Unterhaltung ist bei häufigem Genuß von Thee wohl kaum möglich. Er schläfert viel mehr ein, als daß er aufweckt, und daher sehr häufig die entsetzlichen Folgen, wenn bei Vorlesungen auch noch Thee herumgereicht wird.

Sehr natürlicher Weise drehte sich aber das Gespräch anfänglich fast ausschließlich um die Tagesbegebenheit – die Auction des Meier'schen Gutes und Eigenthums, den Selbstmord der Frau und den raschen, geheimnißvollen Abzug von Vater und Tochter, der mehr einer Flucht als einer wirklichen Abreise glich. Günther dankte auch Gott im Stillen, daß Könnern die Einladung ausgeschlagen, denn jedes Wort hier wäre ein Messerstich für ihn gewesen.

»Apropos, Herr von Schwartzau,« wandte sich plötzlich der Direktor an diesen – »will sich denn Ihr Freund Könnern bleibend bei uns niederlassen? Wie ich erst verstand, war er blos auf einer Durch- oder Kunstreise hier. Nach den bedeutenden Einkäufen aber, die er heute besonders an Möbeln und anderen, schwer zu transportirenden Gegenständen gemacht, sieht es doch viel eher aus, als ob er sich hier eine Wirtschaft und einen eigenen Herd gründen wolle.«

»Ich muß sehr bedauern, Ihnen darüber keine genaue Auskunft geben zu können, Herr Baron,« sagte Günther, »denn ich selber habe hier das Erste von diesen Einkäufen gehört. Möglich, daß er dazu den Auftrag von Herrn Meier selber bekommen, denn so viel ich weiß, gedenkt jener Herr hierher zurückzukehren. Er hat wahrscheinlich nur das Ueberflüssige verkaufen lassen.«

»In der That? Und waren Sie näher mit der Familie befreundet?«

»Ganz und gar nicht – ich habe das Haus kurz vor ihrer Abreise zum ersten Mal betreten.«

»Sonderbar,« sagte der Direktor; »es scheint eigentlich Niemand im ganzen Ort zu sein, der sie kennt.«

»Ich weiß Niemanden. Sie haben wenig oder gar keinen Umgang mit Fremden gehabt.«

»Und weshalb könnte die Frau den Tod gesucht haben?«

»Das Geheimniß ruht wohl mit ihr im Grabe,« sagte Günther ausweichend, »denn ich glaube nicht, daß die Familie selber darüber Auskunft geben würde. Sie soll übrigens immer tiefsinnig gewesen sein, und es ist möglich, daß die vollkommen abgeschiedene Lebensweise nicht wenig dazu beigetragen hat, eine solche krankhafte Idee zum Ausbruch zu bringen.«

Das Gespräch drehte sich endlich wieder anderen Gegenständen zu, und Jeremias reichte zum zweiten Mal den Thee zwischen die Frau Pastorin und Madame Rohrland hinein, die eben tief in wirthschaftliche Dinge verwickelt waren.

»Ja,« entgegnete die Frau Pastorin auf eine Aeußerung der andern Dame bezüglich des Strickens, indem sie Jeremias die wieder gefüllte Tasse abnahm und sich Zucker und Milch nahm – »das ist gar nichts – denken Sie nur, was ich für Füße zu besorgen habe, die Strümpfe verlangen. Ich muß für meinen Mann und mich, für meine fünf Kinder und auch noch für den Schwager von meinem Mann, also für acht Personen, stricken.«

»Alle Wetter!« sagte Jeremias erstaunt – »für zweiunddreißig Beine!«

Die Frau Pastorin warf ihm einen wüthenden Blick zu, und Jeremias ging weiter, wo Herr von Pulteleben neben Helenen und dem Director stand.

»Trotzdem, daß wir selber bei den Cigarren interessirt sind,« lachte Helene, »halte ich es doch für eine entsetzliche und fatale Gewohnheit, die aber nicht abzuschaffen ist und deshalb ertragen werden muß.«

»Und doch stände es in der Gewalt der Damen, das zu thun,« sagte der Director galant; »die jungen Damen sollten sich nur alle verschwören, keinen Mann zu küssen, der raucht.«

»Das hälfe gar nichts,« meinte Jeremias trocken, indem er das Theebrett vorschob – »bitte, langen Sie zu, mir schläft der Arm schon ein – die jungen Damen sollten sich lieber verschwören, Jeden zu küssen, der nicht raucht – was nachher für ein Gereiße um den Herrn Director wäre!«

Helene und Herr von Bulteleben lachten dieses Mal und der Direktor sah Jeremias über die Schulter verächtlich an, was aber an diesem völlig abprallte.

Oskar, welchen die Gesellschaft langweilte, hatte sich an's Instrument gesetzt und spielte einen Walzer, aber so falsch und außer allem Tact, daß ihn selbst seine Mutter bat, aufzuhören.

»Bitte, Comtesse,« fragte der Direktor, »wollten Sie nicht die Freundlichkeit haben und etwas zum Besten geben? Ich habe schon so viel von Ihrem Spiel gehört, aber noch nie die Freude gehabt, selber Ohrenzeuge zu sein.«

Helene verneigte sich leicht, zog ihre Handschuhe aus und ging auf das Clavier zu. Jeremias blieb mit dem Theegeschirr vor Herrn von Pulteleben stehen.

»Und sind Sie nicht musikalisch, würdiger Greis?« sagte der junge Mann, indem er zulangte und sich eine Tasse bereitete.

»Ich leider nicht,« meinte Jeremias, indem er zusah, wie sich Jener ein Stück Zucker nach dem andern in die Tasse warf – »aber ich stamme aus einer ganz musikalischen Familie.«

»So?«

»Ja,« sagte Jeremias – »ich habe drei Schwestern, die sind alle musikalisch, die eine schlägt das Clavier, die andere spielt das Pianoforte und die dritte ist Wittwe – nehmen Sie nicht noch ein Stückchen Zucker?«

»Ruhig da,« sagte Günther, als Helene gerade zu präludiren begann, und Jeremias drückte sich mit dem jetzt überall herumgereichten Brett zur Thür hinaus.

Helene, die einen vortrefflichen Lehrer gehabt, spielte wirklich wunderschön, und das Beste dabei – mit tiefem Gefühl – und wie seelenvoll trug sie jetzt das Adagio von Mozart vor, wie kräftig und frisch sprang sie zu dem Allegro über, durch das immer und immer wieder die süßen und wehmüthigen Klänge zuckten.

Felix lehnte mit ineinander geschlagenen Armen an dem Fenster nächst dem Clavier. Er hatte kalt und gleichgültig bleiben wollen, aber die Töne sprachen zu mächtig zu ihm. Es war die nämliche Melodie, mit der ihm Helene, als er den letzten Abend unter ihrem Fenster gespielt, geantwortet hatte, und jetzt – er deckte seine Augen mit der Hand und Alles, was ihn umgab, schwamm in einem wilden, wirren Chaos zusammen, aus dem nur die Töne wie Sphärenmusik zu ihm herüber drangen.

Jetzt schwiegen sie – »Bravo, Bravo, vortrefflich – wirklich meisterhaft!« tönte es von allen Seiten – nur Felix wandte sich ab und schaute stumm und still in die dunkle Nacht hinaus, deren frischer Luftzug seine Schläfe kühlte – die leeren Beifallsphrasen thaten ihm weh.

Ein anderer Spieler hatte den Platz am Pianoforte eingenommen – die junge Frau Rohrland, die eine sehr hübsche Polka ganz allerliebst und mit großer Fertigkeit abspielte, und Felix hörte es gar nicht, als eine leise Stimme an seiner Seite sagte:

»Sind Sie nicht auch musikalisch?«

Der junge Mann schrak empor, als ob er einen Stich in's Herz bekommen hätte, und als er sich wandte, stand neben ihm Helene, das schöne Antlitz fragend zu ihm ausgehoben, Während der Glanz der Lichter ihr goldblondes Haar wie mit einem Heiligenscheine zu umziehen schien.

»Sind Sie nicht auch musikalisch?« wiederholte Helene die Frage, als sie sah, daß sie der Fremde fast verwirrt anstarrte, als ob er die Worte überhört hätte.

»Ich? Nein,« stammelte Felix und biß die Zähne auf einander, daß er sich, gerade dem Mädchen gegenüber, so schwach und unbeholfen gezeigt – »nein Comtesse,« wiederholte er fest und fast rauh – »mir träumte einmal, daß ich spielen könnte – aber die Zeit liegt dahinten und – ich sehne sie auch nicht zurück.«

»Und hören Sie gern Musik?« fragte Helene weich.

»Nein,« erwiderte der junge Graf nach einigem Zögern, »Musik sollte ein Genuß, eine Erholung für uns sein, und mir – reißt sie nur immer wieder alte Erinnerungen und Bilder wach, die besser abgethan im Dunkeln schlafen. Ich hasse Musik!«

»Oder fürchten sie,« sagte Helene ernst.

»Fürchten? Es giebt wenig, was ich auf der Welt fürchte, Comtesse – und doch könnten Sie Recht haben – ich fürchte sie vielleicht.«

»Und bietet uns nicht auch gerade die Musik so manchen süßen Trost in Schmerz und Leid?«

»Sie reden, Comtesse,« sagte Felix, fast spöttisch lächelnd, »als ob Sie schon ein Leben voll bitterer Erfahrungen hinter sich und nicht – einen Blumengarten knospender Erwartungen vor sich hätten.«

»Lieber Gott,« sagte das Mädchen unbefangen – »Jeder von uns trägt seine Last an Sorgen und Schmerz, die sich oft hinter der glattesten Stirn verstecken – wer will sagen, daß er die schwereren trüge. – Aber wir werden zu ernst,« brach sie freundlich ab – »wissen Sie, Herr Randolph, daß wir Beide eine merkwürdige Uebereinstimmung in unseren Träumen haben?«

»Wir Beide?«

»Ja, – auch mir träumte neulich einmal, daß Sie – spielen könnten, und doch hatte ich Sie selber kaum mehr als einmal und nur flüchtig auf der Straße gesehen. Finden Sie das nicht wunderbar?«

»Allerdings – sehr wunderbar!« rief Felix und schaute überrascht zu ihr auf, Helene sah ihn aber so ruhig und unbefangen an, daß er den Kopf wieder abwandte und sagte: »Aber wer kann für seine Träume? Sie kommen eben und gehen und drücken dabei trotzdem ihre Fährten in unsere Erinnerung, daß wir in späteren Jahren die wirklichen von den geträumten kaum noch unterscheiden können. Lassen Sie uns Beide unsere Träume vergessen!«

Dunkles Roth schoß in Helenens Züge und ihre Lippen öffneten sich wie zu einer Erwiderung, aber kein Wort verließ sie, und der laute Applaus der eben beendeten Polka, bei dem besonders Pastor Beckstein mit seinen breiten Händen wacker arbeitete, brachte die Gesellschaft wieder untereinander, die sich jetzt um Frau Rohrland drängte und ihren Dank für den Genuß aussprach. Helene wurde dadurch ebenfalls von Felix getrennt und Oskar's laute Ankündigung, daß der Tisch gedeckt sei und der Gäste harre, machte überhaupt jede weitere Unterhaltung unmöglich.

Herr von Pulteleben hatte sich rasch zu Helenen durchgearbeitet, um ihr seinen Arm anzubieten, Baron Jeorgy bot den seinen der Frau Rohrland, da der Direktor schon die Frau Gräfin um die Ehre gebeten, und der Herr Rohrland führte, zur augenscheinlichen Erleichterung ihres Gatten, die Frau Pastorin zu Tische; die übrigen Gäste folgten mit Oskar der kleinen Eskorte in das Speisezimmer, wo sich dieser indessen den Spaß gemacht hatte, die von seiner Mutter vorher sorgfältig geprüfte und durch kleine Namenszettel bezeichnete Rangliste der Sitzenden gründlich durcheinander zu werfen und zu verwirren.

Die Frau Pastorin kam dadurch oben an die Tafel, mit Herrn Randolph an der einen und dem Direktor an der andern Seite; neben diesen die Frau Gräfin, Pulteleben zwischen den Pastor und Herrn Rohrland, Oskar selber zwischen dessen Frau, mit der er sich gern unterhielt, und den Baron, der ihn nicht leiden konnte, Günther auf die andere Seite zwischen Frau Rohrland und Helenen, die wiederum rechts von Felix zu sitzen kam.

Ehe die Verwirrung auch nur bemerkt wurde, hatten die Frau Pastorin und mehrere Andere, die ihre Zettel aufgelegt fanden, schon Platz genommen. Unter ihnen, das Gefühl gekränkter Eitelkeit in Fracturbuchstaben an der Stirn, der Baron, der dabei der Gräfin einen Bände sprechenden Blick zuwarf.

Die Gräfin, in dem Gefühl vollständiger Sicherheit, Alles nach besten Kräften angeordnet zu haben, trat nur eben noch einmal in die Thür, um Jeremias noch ein paar Befehle hinaus zu rufen, und als sie sich wieder umdrehte, war das Unglück geschehen.

»Aber, meine Herrschaften,« rief sie entsetzt – »wie – »wie haben Sie sich denn gesetzt?«

»Wie unsere Zettel lagen, meine Gnädigste,« antwortete der Baron scharf – es war die einzige Rache, die er nicht unter seiner Würde hielt.

»Aber das ist ja ganz falsch – eine Verwechselung!«

»Ach, wie sitzen ja recht hübsch hier,« sagte die Frau Pastorin, die sich an der Seite des Herrn Directors wohl fühlte – »wir bleiben so, nicht wahr?«

»Ja, wir bleiben so,« lachte auch die kleine muntere Frau Rohrland, der Oskar schon mit ein paar Worten seinen Streich erzählt hatte – »so ein Durcheinander ist ganz hübsch und gemüthlich.«

Die Gräfin warf ihrem Sohn einen Dolchblick zu, dem sich aber Oskar wohl zu begegnen hütete, und von Pulteleben, der noch immer seinen Platz nicht eingenommen hatte und hinter seinem Stuhl in Erwartung einer Aenderung stehen geblieben war, setzte sich endlich auch seufzend und mit einem kläglichen Blick zwischen den Herrn Pastor und Herrn Rohrland hinein. Dann kam Jeremias mit der Suppe, und unter den also Zusammengewürfelten begann bald, mit dem Klappern der Teller und Löffel, eine lebhafte Unterhaltung.

Herr von Pulteleben allein fand sich auf seinem Platz vollkommen an die Luft gesetzt. Wie hatte er sich das Alles ausgedacht, die Rede, welche er zu halten sich vorgenommen »mit der jungen Dame an meiner Seite« – rechts saß der Pastor, links der trockene Kaufmann Rohrland, und seine Schwiegermutter in spe konnte er nicht einmal ansehen, um den geeigneten Moment aufzufangen, er hätte denn um den dicken Beckstein herumgucken müssen.

Helene, die ebenfalls augenblicklich ihren Bruder in Verdacht hatte, die Verwirrung bewirkt zu haben, fühlte sich am unbehaglichsten zwischen den beiden Fremden, noch dazu, da Felix mit der größten Unbefangenheit ein vollkommen gleichgültiges Gespräch mit ihr anknüpfte und sogar mit dem Wetter begann. Sie gab ihm auch nur kurze einsilbige Antworten – und doch war ihr das Herz dabei so weh – so sonderbar bedrückt – sie wußte sich selber nicht ordentlich Rechenschaft zu geben, weshalb – und ihr Nachbar an der andern Seite, Herr von Schwartzau, beschäftigte sich ausschließlich mit seiner Nachbarin zur Rechten.

Am besten nahm die Frau Pastorin die Gelegenheit wahr, die sich ihr vielleicht nicht so bald wieder bot, ihren Nachbar, den Herrn Director, gründlich mit ihren Ansichten über Gemüsebau und Schweinezucht bekannt zu machen, die, wenn er sie befolgen wollte, die segensreichsten Folgen für die Colonie tragen mußten.

Der Director versuchte, um dieser Plage zu entgehen, verschiedene Male, sich ausschließlich der Frau Gräfin zuzuwenden – aber umsonst. Die Frau Pastorin hielt, was sie einmal hatte – welches Zeugniß ihr auch ihr Mann zu Zeiten ausstellte – und er mußte sich endlich in sein Schicksal ergeben und ruhig und geduldig ausharren.

Die Gräfin hatte indessen über den Tisch hinüber, so oft das nur unbemerkt geschehen konnte, die Züge des jungen Grafen gemustert, der sich unter dem bescheidenen Namen Randolph bei ihr eingeführt. Wo nur hatte sie das Gesicht schon gesehen – wo diese Züge, die ihr so merkwürdig bekannt waren und durch eine zufällige Ähnlichkeit mit einem jungen Brasilianer in Santa Catharina ihr Gedächtniß immer wieder auf eine falsche Fährte brachten? – Felix konnte es eben so wenig entgehen, daß ihn die Dame oft und stark fixirte, wenn er auch dann nie nach ihr hinübersah – aber ein paar Mal zuckte es wie ein leichtes, fast spöttisches Lächeln um seine Lippen und beunruhigte sein vis-à-vis zuletzt so, daß sie sich fest vornahm, ihn gleich nach Tisch selber zu fragen, wo sie sich schon einmal im Leben getroffen hätten, ob in Rio oder wirklich auf Santa Catharina. Sie war dadurch so in ihre Gedanken vertieft geblieben, daß sie ganz überhörte, wie Herr von Pulteleben in einem geringen Grade von Verzweiflung schon ein paar Mal hinter seinem dicken Nachbar weggerufen hatte: »Beste Frau Gräfin, beste Frau Gräfin!« – und der Pastor, durch den Schall getäuscht, sich dann jedesmal nach der verkehrten Seite umsah.

Jetzt endlich konnte er seine Ungeduld nicht länger bezähmen, stand auf, trat hinter den Stuhl der Gräfin und flüsterte:

»Beste Frau Gräfin, glauben Sie nicht, daß es – daß es jetzt etwa Zeit sein dürfte, der Gesellschaft – der Gesellschaft den wichtigen Schritt mitzutheilen? – Wir sind schon beim Dessert.«

»Sie haben Recht,« erwiderte die Gräfin, rasch aufstehend und einen flüchtigen Blick über die Gäste werfend – »es wird in der That Zeit; bitten Sie den Baron darum, er wollte den Toast übernehmen.«

Herr von Pulteleben verneigte sich – es war ihm in der That nicht recht, jetzt erst noch einmal den Baron darum zu bitten, aber es ließ sich nichts mehr an der Sache thun. Er warf einen Blick nach Helenen hinüber, die das Flüstern bemerkt und dessen Bedeutung errathen haben mochte, denn sie erbleichte sichtbar.

Herr von Pulteleben war aber in diesem Augenblick viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um das zu bemerken oder zu beachten. Er trat zum Baron und flüsterte diesem einige Worte leise zu.

»Mein lieber junger Freund,« sagte der Baron achselzuckend, »hier unten von der Tafel? Wünschen Sie das wirklich?«

»Ich bitte Sie dringend darum im Namen der Frau Gräfin«

»Bitte, lieber Baron,« winkte ihm auch die Dame von ihrem Platze zu.

»Hm,« sagte der Baron und wischte sich mit der Serviette den Mund – »hm – es ist – eigentlich gegen meine Grundsätze, aber – wenn Ihnen damit ein Gefallen geschieht, junger Freund« – und er stand dabei langsam von seinem Stuhl auf und legte seine Finger auf den Fuß des vor ihm stehenden, erst gefüllten Glases, während er mit der andern Hand leicht seinen Messerrücken dagegenschlug.

»Meine Herrschaften!«

»Wollen Sie Käse?« fragte Jeremias, der das Anschlagen des Glases gehört hatte und mit dem Käseteller auf den Baron zufuhr.

»Meine Herrschaften!« wiederholte der Baron, indem er Jeremias mit seinem Teller verächtlich den Rücken zukehrte und alle Gäste ihn erwartungsvoll ansahen. »Es ist mir die sehr angenehme und ehrenvolle Pflicht geworden, die Namen zweier junger Leute neben einander zu nennen, die gesonnen sind, hinfüro eben so neben einander durch dieses Leben zu wandern. Ich weiß, daß Sie Alle von Herzen in meine Wünsche einstimmen werden, daß ihnen nämlich eben dieses Leben nur Rosen und keine Dornen, nur Sonne und keinen Schatten . . .«

»Hübsch in Brasilien,« sagte Jeremias halblaut.

»Nur Freuden und keine Leiden bieten möge,« fuhr der Baron fort, »und ich bitte Sie deshalb, mit mir anzustoßen auf das Wohl von Comtesse Helene und Herrn Arno von Pulteleben – Sie leben hoch!«

»Hoch! Hoch!« rief Alles von den Stühlen aufstehend und die Gläser erhebend und gegen einander stoßend.

»Jetzt ist die Bombe geplatzt,« sagte Jeremias und sprang an einen Nebentisch, wo er sich ebenfalls ein Glas bis zum Rande mit Rheinwein füllte.

Neben Helenen war Felix von Rottack aufgestanden und ihr sein Glas entgegenhaltend, sagte er artig, aber kalt:

»Erlauben Sie, Comtesse, daß ich der Erste sei, der Ihnen seinen aufrichtigen Glückwunsch zu Ihrer Verlobung mit Herrn von Pulteleben bringt – es ist ja auch das Einzige, was wir anderen armen Teufel bringen können, die außerdem nur noch den Glücklichen beneiden mögen, daß er die – schönste Blume Santa Claras pflücken darf.«

Helene, als sie ihr Glas mit dem seinigen berührte, sah scheu zu ihm auf, denn sie fühlte das Bittere im Tone. Jeder Blutstropfen hatte dabei ihr Angesicht verlassen und ein so tiefer Schmerz lag in diesem Moment in ihren Zügen, daß Felix unwillkürlich davor erschrak und mit leiser, herzlicher Stimme hinzusetzte: »Seien Sie glücklich!«

Herr von Pulteleben mußte um den ganzen Tisch herum, um zu seiner Braut zu gelangen Er hatte erst auf des Barons Toast noch etwas erwidern wollen, aber es ging nicht; der Spectakel war zu groß geworden, und er drängte sich jetzt nur zwischen die Uebrigen hinein, um nicht ganz aus dem Wege gesetzt zu sein.

»Das ist ja in der That eine große Ueberraschung,« sagte die Frau Pastorin, die das Geheimniß schon einige Tage früher als die betreffenden Personen selbst gewußt hatte – »ei, da gratulir' ich ja recht von Herzen und von ganzer Seele und mit ganzem Gemüth, und der Herr gebe seinen reichsten Segen dazu – und was man Ihnen sonst noch alles Gute wünschen kann!«

Helene stieß mit Allen an – sie wußte gar nicht mit wem – sie bemerkte auch kaum, daß ihr Bräutigam sich ihr nahte und verlegen sein Glas mit dem ihrigen berührte; sie hörte nur, wie er flüsterte:

»Meine liebe, liebe Helene – oh, daß ich Sie jetzt so nennen darf!«

Der Herr Director Reitschen, der eben sein Glas erhoben hatte, fühlte sich leise am Ellbogen berührt und wandte sich danach. Er sah auch Jeremias mit dem gefüllten Pokal vor sich; ehe er es aber verhindern konnte, stieß der kleine Bursche, ihm freundlich und vertraulich zunickend, mit ihm an und leerte seinen Wein dann auf Einen Zug.

Der Baron war ein entsetzlicher Zeuge dieser Zwischenscene gewesen.

Die Gläser wurden wieder gefüllt, und vielleicht zum Beweis, wie unvorbereitet ihnen Allen diese Nachricht kam, las der Herr Pastor jetzt ein langes Gedicht ab, das er zur Feier dieser ›unerwarteten‹ Gelegenheit verfaßt hatte.

Während sie übrigens standen, zog ihnen Jeremias, der seine besonderen Gründe haben mochte, den Nachtisch nicht zu lange auszudehnen, vorsichtig die Stühle weg, stellte sie in die Ecke und meldete zugleich, daß der Kaffee im andern Zimmer servirt sei. Die Uebrigen sahen es auch alle, nur Beckstein, mit seinem etwas unleserlich geschriebenen Gedicht beschäftigt, hatte nicht darauf geachtet, wollte sich nach Beendigung desselben wieder niedersetzen, und wäre mitten in die Stube geschlagen, wenn ihn der dicht hinter ihm stehende Rohrland nicht noch gefaßt und gehalten hätte.

Der Kaffee wurde im andern Zimmer servirt, und dort hatte sich Felix wieder von den Uebrigen zurückgezogen. Günther, der es merkte, trat zu ihm und sagte freundlich:

»Ziehe doch nicht ein so furchtbar grämliches Gesicht, Felix. Siehst ja, bei Gott, aus, als ob wir nicht zu einer Verlobung, sondern viel eher zu einem Begräbniß geladen wären!«

»Es hat auch so etwas Aehnliches,« sagte der junge Mann düster; »aber wahrhaftig, Günther, ich wollte, ich wäre gar nicht hierher gekommen. Ich fühle, daß ich anfange, bitter und vielleicht ungerecht zu werden, und Andere entgelten lasse, was – möglicher Weise Andere gar nicht verschuldet haben.«

»Du bist und bleibst ein Träumer,« sagte Günther; »aber warte nur, wenn ich Dich erst im Walde draußen habe, will ich Dich schon curiren. Morgen früh um acht Uhr geht's an die Arbeit.«

»Ich wollte, ich wäre schon draußen. Glaubst Du nicht, daß wir uns jetzt empfehlen könnten?«

»Nur noch einen Augenblick; ich muß etwas mit dem Direktor besprechen, was mir morgen einen Weg erspart, und habe ihm bis jetzt nicht beikommen können.«

»So eile Dich, mir brennt der Boden unter den Füßen.«

Günther mischte sich wieder in die Gesellschaft, um des Directors habhaft zu werden, der gerade mit dem Pastor in einer sehr eifrigen Debatte über die Einführung von Futterkräutern in die Colonie verhandelte.

Die Frau Gräfin ging mit Herrn von Pulteleben Arm in Arm im Saale auf und ab, während Jeremias gerade mit dem Kaffee hereingetreten war, und der Baron stand nicht weit von Felix an der Seite mit seiner Tasse und beobachtete Helenen, die neben der jungen Frau Rohrland auf dem Sopha saß.

Die Gräfin schwelgte in dem Gefühl, ihren Zweck erreicht zu haben – die nächste Zeit war ihr wieder gesichert, und auf weiter dachte sie ja überhaupt nie hinaus.

»Ach, Jeremias,« rief Oskar, der sich bis jetzt damit beschäftigt hatte, einen defecten Stuhl als »Falle« irgendwo am Tische aufzustellen, mit der stillen Hoffnung, daß sich Jemand darauf setzen würde – »thun Sie mir den Gefallen und holen Sie mir ein Glas Wasser – ich werde Sie königlich belohnen!«

»So? Sie wollen mir wohl einen Orden geben?« sagte der kleine Bursche, ohne weitere Notiz von ihm zu nehmen – »da hinten steht die Caraffe mit Gläsern – bitte, langen Sie zu – oder wollen Sie lieber den Kaffee haben? Der ist dünn genug.«

Die Frau Gräfin ging an Felix vorüber und warf ihm einen flüchtigen, sehr vornehmen Blick zu, vor welchem der junge Mann die Zähne fest zusammenbiß. Als sie sich wandte, verließ sie Herr von Pulteleben, um nach Helenen hinüber zu gehen. Wie die Dame wieder an Felix vorüberrauschte und mit dem Fächer dabei wedelte und Herrn Rohrland gnädig zuwinkte, der ihr das heruntergefallene Taschentuch aufgehoben, wandte sie sich plötzlich gegen den jungen Grafen, und in einer imposanten Stellung vor ihm haltend und ihn vom Kopf bis zu den Füßen musternd, sagte sie scharf:

»Apropos, mein Herr, wie war doch gleich Ihr Name – ah, ja, Randolph – wo habe ich Sie eigentlich schon gesehen, denn Ihr Gesicht kommt mir merkwürdig bekannt vor. Waren Sie nicht einmal Commis auf Santa Catharina?«

»Es wundert mich kaum, daß Sie mich nicht mehr kennen, Madame Baulen,« sagte Felix und sah sie fest an, »denn als Sie den Dienst meiner Mutter verließen, trug ich noch keinen Bart. Mein Name ist Felix Randolph, Graf von Rottack.«

Er sprach das Erste mit nur halblauter Stimme, seinen Namen jedoch klar und deutlich, wie für die ganze Gesellschaft bestimmt. Hätte aber ein Erdbeben das Haus in seinen Grundfesten erzittern machen und Wände und Decken durcheinander geworfen, die Frau Gräfin Baulen würde nicht mehr und furchtbarer erbebt sein, wie sie jetzt, an allen Gliedern gelähmt, vor ihm stand und ihn mit stieren, entsetzten Blicken anstarrte.

»Um Gottes willen, was ist Dir, Mama?« rief Helene, welche in diesem Augenblicke auf sie zuflog und sie mit ihren Armen stützte.

»Nichts als ein leichtes Unwohlsein,« sagte Graf Rottack kalt, verbeugte sich flüchtig und schritt auf Günther zu, der eben mit dem Director gesprochen hatte. Er nahm auch ohne Weiteres dessen Arm und führte ihn vor die Thür hinaus.

»Willst Du fort?« fragte dieser.

»Ich sagte Dir vorhin, daß ich schon zu lange geblieben bin,« erwiderte Felix, und ihre Hüte von den Haken nehmend, schritten die beiden Freunde in die Nacht hinaus.

Die Gräfin hatte sich indessen gewaltsam gesammelt, und ihr Auge scheu umherwerfend, traf ihr Blick den des Barons, welcher ein sehr erstaunter Zeuge der ganzen Scene gewesen, aber leider etwas zu schwerhörig war, um Alles genau zu verstehen. Nur den letzten Namen hatte er vernommen. Er trat indessen rasch auf sie zu und fragte artig:

»Ist Ihnen nicht wohl, meine Gnädige? Wenn die Comtesse vielleicht ein wenig englisches Salz in der Nähe hätte!«

»Ich danke Ihnen, Baron,« wies aber die Gräfin die Hülfe zurück – »ich danke Dir, mein Kind – es ist schon vorüber. Meine albernen Nerven spielen mir manchmal einen solchen Streich.«

Herr von Pulteleben, welcher von der ganzen Scene gar nichts gesehen und gehört hatte, da er sich gerade auf den von Oskar hingestellten Stuhl gesetzt hatte und beinahe damit umgefallen wäre, schlug jetzt einen Spaziergang im Garten vor. Es war eine wundervolle Nacht, und er hoffte jedenfalls auf eine Promenade Arm in Arm mit seiner Braut. Die meisten Gäste waren aber müde, da sie heute den ganzen Tag auf der Auction zugebracht, der Director schien ebenfalls erschöpft, da er noch außerdem dem Wein sehr tüchtig zugesprochen, und es dauerte nicht lange, so rüstete sich Alles zum Aufbruche.

Eine kleine Verwirrung entstand jetzt, da durch irgend ein Versehen – Oskar war außer sich über Jeremias' Tölpelhaftigkeit – alle Tücher und Hüte an falsche Platze und in die größte Unordnung gerathen waren. Aber auch das regulirte sich endlich, und während Oskar noch ein wenig in den Garten ging, um dort unten in aller Bequemlichkeit und in der frischen Nachtluft seine Cigarre rauchen zu können, trat Herr von Pulteleben noch einmal in das Zimmer der Damen – hatte er doch jetzt ein Recht gewonnen, sich ihnen vertraulich zu nähern – und bat Helenen, daß sie ihm erlauben möchte, ihr noch einmal zu sagen, wie glücklich sie ihn heute gemacht habe.

»Bleiben Sie noch hier, lieber Arno,« sagte auch die Gräfin, denn sie nannte ihn von heut an vertraulich bei seinem Vornamen – »ich habe selber noch mit Ihnen zu reden, und zu Bett zu gehen, ist es doch eigentlich noch zu früh.«

»Aber was hattest Du nur vorhin mit dem jungen Fremden, Mama?« fragte Helene; »er verließ uns auch nachher so plötzlich.«

»Er hatte sich schon vorher bei mir empfohlen,« sagte die Mutter, die ihre ganze Fassung schon lange wieder gewonnen und ihren weiteren Plan entworfen hatte – »Wir sind wirklich alte Bekannte von Deutschland her – er ist der Sohn einer Jugendfreundin von mir, der Gräfin Rottack.«

»Ein Graf Rottack?« rief Herr von Pulteleben erstaunt, und Helene sah ihre Mutter überrascht und fragend an.

»Ja – ist das etwas so Außerordentliches?« fuhr diese fort – »Randolph war nur sein Vorname, und er theilte mir eine erschütternde Nachricht mit – den Tod einer Verwandten von ihm, was mich etwas angegriffen hat. Uebrigens will er hier nicht gekannt sein, lieber Arno, und ich bitte Sie darum, sich nicht merken zu lassen, daß ich sein Geheimniß verrathen habe – aber Sie gehören ja doch jetzt natürlich mit zur Familie. Was ich Euch Beiden nur noch sagen wollte – ich habe mir die Sache heute hin und her überlegt, und – da Ihr doch jetzt mit einander verlobt seid, so thut es eigentlich kein Gut, die Sache so lange hinaus zu schieben, und ich wünsche deshalb, daß die Hochzeit recht bald – sobald als irgend möglich gefeiert werde.«

»Beste Mutter, Sie machen mich so unendlich glücklich!« rief Herr von Pulteleben entzückt aus.

»Aber, Mama, das ist ganz gegen unsere Abrede,« sagte Helene, und ein eigenes eisiges Gefühl erfaßte ihr Herz.

»Liebes Kind« sagte die Mutter, »die Verhältnisse reißen uns zu Zeiten mit fort, ohne daß wir sie nach unseren Wünschen regeln oder beherrschen können, und eben diese Verhältnisse zwingen uns, von hier fort und nach Santa Catharina zu ziehen.«

»Nach Santa Catharina?« rief Herr von Pulteleben erstaunt – »woraus schließen Sie das?«

»Ich habe den Gedanken schon einige Zeit mit mir herumgetragen,« fuhr die Gräfin fort, »da besonders für unser Geschäft Santa Clara ein nichts weniger als passender Platz ist.«

»Aber wird die Insel besser sein, Frau Gräfin?«

»Entschieden – aber Du darfst nicht glauben, Helene, daß ich einen solchen Schritt leichtsinnig und auf das Gerathewohl thun würde, und ich habe mich vorher sorgfältig nach allen Verhältnissen der Insel erkundigt. Erstens bekommen wir dort die Arbeiter viel billiger, dann haben wir die Auswahl unter den besten Tabaksorten, die gerade von dort aus in Massen nach dem Süden verschickt werden und viel billiger sind als hier, und dann – die Hauptsache – finden wir selber einen viel besseren Markt für unser Produkt, da wir von dort aus in directer Verbindung mit dem Süden, ja selbst mit Montevideo und Buenos-Ayres stehen.«

»Aber, Mama, wenn Du Dich darin nur nicht irrst, und auf bloße Vermuthung hin eine solche Reise . . .«

»Bloße Vermuthung – das Kind glaubt nichts, Pulteleben, was sie nicht sieht – Sie werden doch Ihre rechte Noth mit ihr bekommen. So laß Dir denn sagen, daß ich, um ganz sicher zu gehen, schon vor mehreren Wochen an die Präsidentin geschrieben und mit dem letzten Dampfer Nachricht bekommen habe, wie die Sachen dort stehen – und zwar sehr günstige Nachricht.«

»Aber der Brief, welchen Du erhieltest, war ja von Deutschland, mit dem kleinen Wechsel darin.«

»Das Kind bringt Einen noch zur Verzweiflung, Pulteleben,« lächelte die Mutter – »ich habe zwei bekommen, einen von Deutschland und einen von Santa Catharina, den mir der Director selber mitgebracht; wenn Du dem aber, was ich sage, nicht glauben willst, so sollst Du Dich wenigstens selber überzeugen – hole mir einmal den Brief herüber; er liegt auf meiner Toilette; der in dem gelben Couvert – es ist nur der eine da.«

Helene erhob sich, um den Auftrag auszuführen, als sie die Gräfin wieder zurückrief.

»Ach nein, bleib da,« sagte sie, »ich habe ihn weggeschlossen.«

»Wenn Du mir den Schlüssel giebst, Mama, hol' ich ihn.«

»Nein, ich gehe selber, Du reißt mir sonst meine Papiere durcheinander,« – und von dem Sopha aufstehend, ging sie in ihre Kammer, aus der sie gleich wieder mit dem gelb couvertirten Briefe zurückkam.

»Da,« sagte sie, indem sie der Tochter den Brief in den Schooß warf, »nun lies selber, was die Präsidentin schreibt. Danach werden Sie sich ebenfalls überzeugen, lieber Arno, daß wir wirklich gar nicht besser thun können, als nach der Insel überzusiedeln. Die Kosten sind unbedeutend, und wir bringen in zwei Monaten reichlich die möglichen Mehrausgaben wieder ein. Ehe wir aber die Reise zusammen machen, werden Sie selber einsehen, daß es nöthig ist, die Trauung vorher zu halten – schon des Geredes der Leute wegen. Nun, lies nur laut, Helene, Arno soll ebenfalls wissen, was die Präsidentin über unsern Umzug denkt. Sie ist unendlich liebenswürdig, und bietet uns sogar an, in ihrem Hause zu wohnen, bis wir uns eine eigene Wohnung hergerichtet haben.«

Helene hatte den Brief überflogen und sah jetzt darüber hinaus ihre Mutter groß und starr an.

»Nun, was hast Du denn? So lies doch! Die Präsidentin schreibt doch eine ganz leserliche Hand. Aber ich vergaß – der Brief ist ja portugiesisch, und Sie verstehen ihn nicht, Arno – gieb ihn mir, ich werde ihn übersetzen.«

»Der Brief hier« sagte Helene mit fast tonloser Stimme, ohne ihn aus der Hand zu geben, ohne ein Auge von ihrer Mutter zu verwenden, »ist nicht von Santa Catharina.«

»Nicht von Santa Catharina?« rief die Gräfin, sich erschreckt halb vom Sopha erhebend – »dann – dann habe ich die Couverts verwechselt – gieb ihn mir – gieb ihn mir!« – und in einer Aufregung, die Herrn von Pulteleben staunen machte, streckte sie die Hand nach dem Briefe aus.

»Laß ihn mir noch eine Weile, Mutter,« erwiderte aber Helene aufstehend – »er ist so interessant, daß ich ihn gern noch einmal lesen möchte – gute Nacht!« – und ehe sie die Mutter daran verhindern, oder der verblüffte Bräutigam ein Wort dagegen einwenden konnte, schritt sie durch die Stube in ihr dicht daran stoßendes Zimmer und riegelte die Thür hinter sich ab.

»Aber ich begreife gar nicht,« sagte Herr von Pulteleben, ebenfalls aufstehend und seine Schwiegermutter in spe etwas verdutzt ansehend – »was hat nur Helene? Sie war ja auf einmal so furchtbar ernst geworden!«

Die Gräfin wollte etwas darauf erwidern – wollte Herrn von Pulteleben eine ausweichende Antwort geben, aber sie vermochte es in diesem Augenblick nicht.

»Ich bitte – lieber Arno – lassen Sie – lassen Sie mich jetzt allein,« sagte sie verstört – »ich habe mit dem Mädchen zu reden – Sie – Sie wissen, welche wunderlichen Launen sie hat.«

»Ich möchte um Gottes willen nicht stören,« sagte der junge Mann, indem er seinen Hut ergriff – »es sollte mir unendlich leid thun, wenn ich vielleicht . . .«

»Es ist nichts – Helene ist – ein verzogenes Kind.«

»Aber liebenswürdig verzogen,« lächelte Herr von Pulteleben in einem vollständig mißglückten Versuch, dem Gespräch eine freundlichere Richtung zu geben. Er fühlte selber, daß er in diesem Augenblick hier unten total überflüssig sei – wenn er auch noch lange nicht begriff weshalb, und in tiefen Gedanken stieg er die Treppe zu seinem eigenen Zimmer empor und legte sich zu Bett. Kaum hatte er das Zimmer verlassen und die Gräfin hörte ihn auf den knarrenden Stufen, als sie an Helenens Thür ging und dort – fast wie schüchtern – anklopfte.

»Helene!«

Keine Antwort von innen. Sie pochte stärker.

»Helene! – Mach' auf – laß uns vernünftig mit einander reden.«

Keine Antwort. Im Zimmer war Alles todtenstill, und doch konnte sie durch das Schlüsselloch erkennen, daß das Licht noch drinnen brannte.

»Helene! Sprich wenigstens mit mir!«

Kein Laut tönte von innen heraus, und seufzend wandte sich die Frau Gräfin endlich ab und suchte ihr eigenes Lager.



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