Friedrich Gerstäcker
Das alte Haus
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel 11.

Welch ein Sturm von Gedanken wogte an dem Abend durch ihre Seele! Die alten Träume drohten in ihr Nichts zurück zu sinken, denn die Gestalten gerade, die sie auf's Neue in's Leben gerufen, verläugneten sich selbst, lösten sich ab von dem schattigen Hintergrunde und traten in das wirkliche praktische Leben ein. Wie neu geboren kam sie selbst sich dabei vor – es war, als ob Jemand sie mit starker Hand gewaltsam von einem finsteren Abgrund zurückgezogen hätte, und doch – der Abgrund lag noch da, sie sah die düstere Tiefe neben sich, ob sie das Haupt auch wandte. Sie fühlte die Gefahr und wußte nicht, ob sie auch sicher überstanden sei.

Ihr Leben hätte sie darauf gelassen, daß es Gundelrebe sei, als er damals das Haus betrat, und tausend kleine Züge seitdem dienten nur dazu, sie mehr und mehr in ihrem Glauben zu befestigen. Und jetzt? – warf er das Alles mit einem Worte zu Boden. So treuherzig sah er dabei aus, so lieb und wahr, und seine Hand hätte sie dabei ergreifen und halten mögen, wie es das Kind in jenem Traume gethan, sie zu schützen vor dem Schauerlichen, was sie zu gleicher Zeit umgab. Und war es Wahrheit? – äffte sie nicht auf's Neue ein fremder Spuk? wollte sie jenes Wesen, halb Traum, halb Leben, nicht am Ende doch blos sicher machen, um sie so viel gewisser in seinem Garne zu fangen? Das Herz zerdrückte es ihr fast in Ungewißheit und Zweifel – in Glauben und Mißtrauen, und sie konnte den morgenden Tag kaum erwarten, der ihr ja alle Räthsel lösen sollte.

Sie wußte dabei, welchen entscheidenden Einfluß das erste Betreten jenes alten Hauses auf sie ausüben mußte, kannte genau die Gefahr, der sie sich Preis gab, wenn sie die Räume gerade so wieder fand, wie sie fürchtete, und dennoch harrte sie der Stunde mit einer wahren Freudigkeit entgegen. War doch Alles besser als diese furchtbare Ungewißheit, dieses Zittern und Bangen vor einer vielleicht ja doch nur eingebildeten Gefahr.

Lieb war es ihr jetzt, heute Abend ungestört zu sein und den Eltern nicht Red' und Antwort stehen zu müssen. Aber auch die eigenen Gedanken peinigten sie zuletzt. Sie hatte aufbleiben und die Mutter erwarten wollen; um halb eilf Uhr aber, als diese noch nicht zurückgekehrt, suchte sie ihr Lager, und müde vom Denken und Sinnen, entschlief sie bald.

Wie lange sie so gelegen, wußte sie nicht – ihr kam es vor, als ob es nur ganz kurze Zeit gewesen, als ein leises Klopfen an ihre Thür sie weckte. Erst hörte sie es nur wie im Traume, aber immer lauter und deutlicher wurde es, und erschrocken richtete sie sich zuletzt empor. In ihrem Zimmer brannte eine Nachtlampe mit transparentem Zifferblatte – der Zeiger der kleinen Uhr deutete gerade auf Zwölf, und der Mond schien dabei voll und klar durch die dünnen Gardinen in das Zimmer und auf ihr Bett. Hatte sie denn geträumt? – Wieder klopfte es da, und eine leise Stimme, die ihr das Blut in den Adern stocken machte, rief:

»Marie!«

»Wer ist da?« fragte sie erschrocken, und die Laute konnten sich kaum den Lippen entringen.

»Wer? – ich – Gundelrebe – oder, wenn Sie wollen, Gustav Schierling. – Haben Sie Ihr Versprechen schon vergessen? Es ist zwölf Uhr vorbei; der heutige Tag hat begonnen, und ich habe das Recht, mein Eigenthum zu betreten. – Wollen Sie mir nicht folgen?«

»Jetzt? – in der Nacht?« rief Marie.

»Warten wir bis zum Tage,« sagte die Stimme draußen, »dann ziehen wir morgen mit einem ganzen Schwarm von Gerichts-Beamten, Polizeidienern und Neugierigen hinein, und möchten Sie in deren Gegenwart den Ort zum ersten Male betreten?«

»Nein – nein!« sagte Marie rasch, indem sie sich von ihrem Lager erhob; »aber jetzt . . .«

»Fürchten Sie sich vor mir?« fragte die Stimme wieder, so weich, so herzlich, so bittend.

»Ich komme gleich!« erwiderte Marie und begriff in dem Augenblicke selber nicht, woher sie den Muth bekam, dem fremden Manne in Nacht und Dunkelheit zu folgen und alle Schrecken jener gespenstigen Räume noch einmal durchzuleben. Rasch warf sie dabei ihren warmen Morgenrock über, nahm aus dem Wandschrank, der durch eine Tapetenthür verschlossen war, ihren Mantel, setzte die Capuze auf, zündete an der Nachtlampe das auf dem Tische stehende Licht an und öffnete dann die Zimmertür.

»Sind Sie entschlossen?« fragte Schierling, der sie hier geduldig erwartet hatte.

»Ich bin es,« sagte Marie. »Führen Sie mich in Gottes Namen. Seinem Schutze vertraue ich mich an.«

»Er mag uns leiten,« sagte der junge Mann, ernst das Haupt neigend, – »und nun hinüber,« setzte er dann mit heiterer Miene und Stimme hinzu. – »Aber wozu nehmen Sie das Licht? – der Mond scheint so hell auf unseren Pfad, daß wir dessen nicht bedürfen.«

»Lassen Sie es mir,« bat Marie, – »ich – ich fürchte mich vielleicht vor dem dunklen Gange,« setzte sie lächelnd hinzu.

»Durch den können wir ja leider nicht gehen,« sagte Schierling. »Hat Ihr Vater den nicht mit jener dicken Mauer verbauen lassen? Wir müssen heute einen weiten Umweg machen.«

»Treppauf?« fragte Marie erstaunt, als er sich dorthin wandte.

»Allerdings,« sagte ihr Führer, der jetzt voranschritt, ohne sich nach ihr umzuschauen. »Das Siegel unten darf ich nicht eher erbrechen, als bis die Gerichte dabei sind. Da wir aber darauf nicht warten wollen, so müssen wir uns einen anderen Eingang suchen. Wissen Sie da oben nicht Bescheid?«

»Als Kind bin ich oft auf dem Boden gewesen,« sagte Marie schüchtern, und habe von dort nur mit heimlichem Schauder die düsteren, blinden Dachfenster des Nachbarhauses angesehen – gehen wir da hinauf?«

Ihr Führer nickte nur mit dem Kopfe und stieg rasch die steinerne Treppe hinan. So leise trat er dabei auf, daß sie seinen Schritt nicht einmal hörte. Dabei fiel ihr auf, daß die Treppenlampe noch brannte; waren denn ihre Eltern noch nicht aus der Gesellschaft zurück? – Bei deren Heimkehr wurde sie sonst stets ausgelöscht. – Aber sie behielt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die gegenwärtige Situation nahm ihre Aufmerksamkeit viel zu sehr in Anspruch. Todtenstille herrschte im Hause, in dem Alles im tiefen Schlafe lag, und sie brauchten nicht zu fürchten, gestört zu werden. Dabei schien der Mond durch die nach dem Hofe zu angebrachten Fenster überall auf die Treppe und machte das Licht, das Marie aber trotzdem in der Hand trug, fast unnöthig. So stiegen sie drei Treppen hoch und betraten den durch eine Gitterthür von dem übrigen Hause abgeschiedenen, aber nicht verschlossenen Boden. Diese Thür war nur angelehnt, und Marie erinnerte sich jetzt wieder des ganzen Weges, den sie als Kind oft genug gelaufen, seit der Zeit aber noch nicht wieder betreten hatte.

Den Boden entlang schritt ihr schweigsamer Führer, und ihr Licht flackerte plötzlich, als sie der Zug eines offenstehenden Dachfensters traf. Entweder hatte es die Nachlässigkeit eines der Mädchen offenstehen lassen, oder auch der Wind aufgeworfen, der in voriger Nacht ziemlich stark von Südwesten her geweht hatte. Eine kleine Treppenleiter lehnte daran, die man dahin gestellt, um noch nicht wieder abgenommene Waschleinen zu befestigen.

Ihr Führer stieg ohne Weiteres hinaus und drehte sich erst da nach ihr um, ihr die Hand zu reichen. Marie zögerte.

»Ueber das Dach?« sagte sie erschrocken und furchtsam, »müssen wir dort hinaus?«

»Es giebt keinen anderen Weg,« erwiderte Schierling, »aber fürchten Sie sich nicht. Nur wenige Schritte auf festem Steingesims sind es hinüber, und ich halte Sie fest und sicher. Vertrauen Sie sich mir, Marie, ich würde Sie wahrlich an keinen Ort bringen, wo auch nur die mindeste Gefahr für Sie zu fürchten wäre. Reichen Sie mir Ihre Hand.«

Marie stand noch einen Augenblick zögernd an der Treppe, der Mond schien ihr dabei voll und hell in das bleiche Angesicht, aber sie war zu weit gegangen, um jetzt noch zurück zu können. Das Geheimniß, das an ihrem Leben zehrte, lag vor ihr, bereit, sich ihr zu erschließen – ein kühner Schritt, und sie brachte es in ihres Blickes Bereich, und selbst im Ueberlegen hob sie schon fast willenlos den Fuß und stieg auf das Steingesims hinaus, dessen sie sich recht gut aus früherer Zeit erinnerte.

Die Luft war warm, fast sommerlich, der Südwestwind, der schon seit zwei Tagen geweht, hatte den letzten Winterschnee von den Dächern geschmolzen, und kein Lüftchen regte sich. Still und ruhig lag die Stadt zu ihren Füßen, und die düsteren Dächer der Häuser, die sich vor ihr ausdehnten, glichen einem weiten Meere riesiger, dunkler Wogen, die einst Gottes Hand da festgebannt und gehalten im Ueberstürzen. Sie wußte dabei selber kaum, wie sie hinauf auf den schmalen Fenstersims kam, so rasch stand sie oben; aber des jungen Mannes Hand hielt und unterstützte sie und leitete sie sicher auf der schmalen, aber festen, kaum zehn Schritte langen Bahn hin, die nach dem nächsten, aber verschlossenen Dachfenster des alten Hauses führte.

»Sehen Sie nur nicht in den Hof hinab, Marie,« flüsterte ihr dabei der Führer zu; »Sie könnten sonst schwindelig werden – hier treten Sie her – Sie hätten das Licht zurücklassen sollen, und doch können wir es vielleicht drüben auf der dunklen Treppe brauchen. – So, sehen Sie, hier sind wir schon – nun halten Sie sich nur an dem Rande hier fest – so – jetzt haben wir unser Ziel erreicht.«

»Jesus, meine Güte!« schrie in diesem Augenblicke tief unter ihnen eine Frauenstimme aus einem der Häuser herüber, und Marie sah sich rasch und erschrocken danach um.

»Es ist nichts,« lächelte ihr aber der Führer zu, »irgend eine alte Frau, die der Schimmer Ihres weißen Kleides ober der Schein des Lichtes erschreckt hat, und die jetzt ein Gespenst zu sehen glaubt – folgen Sie mir nur!« – Mit den Worten verschwand er vor Mariens Augen in das Dachfenster, ohne daß sie jedoch gesehen hätte, wie er es öffnete; ja, als sie ebenfalls die Hand danach ausstreckte, war es noch scheinbar fest verschlossen.

»Wie komme ich hinein?« sagte sie mit doch etwas erschrockener Stimme. Es kam ihr unheimlich vor, da draußen so allein zu stehen, und durch die altersblinden Scheiben konnte sie im Innern auch nicht das Mindeste erkennen.

»Drücken Sie nur leise dagegen,« lachte Schierling's Stimme, der dicht dahinter stehen mußte, »das alte Zeug ist ja so morsch und wurmzernagt, daß es schon dem geringsten Drucke weicht.« – Marie hatte ihre Hand auch in der That kaum gegen das Fensterkreuz gestemmt, als es ihrem Drucke nachgab. Das morsche Holz brach, und der ganze rechte Flügel stürzte nach innen klappernd und klirrend zu Boden.

»So,« lachte Schierling, »das war rasch geschehen! Nun aber hinab! denn die ganze Nachbarschaft braucht doch eben auch nicht auf uns aufmerksam zu werden.« Und wieder ihren Arm ergreifend, hob er sie erst mit leichtem Schwung von dem niederen Gesims auf den Boden herab, half ihr über das niedergestürzte Fenster und anderes Geröll, das dort herum lag, hinweg, und schritt dann mit ihr rasch den dunklen Gang entlang, über den jetzt nur Mariens Licht einen ungewissen, zitternden Schimmer warf.



 << zurück weiter >>