Friedrich Gerstäcker
Das alte Haus
Friedrich Gerstäcker

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Kapitel 8.

Der Wirth »Zur Krone« in Hellburg hatte seinen kleinen Saal sowohl für diesen Tag, als für alle späteren Verhandlungen der Conferenz zur Verfügung gestellt. Hier war denn auch schon an diesem Morgen eine ziemlich zahlreiche und lebendige Gesellschaft versammelt, die theils aus den verschiedenen Verwandten und sonstigen sich berechtigt glaubenden Erben des Quetzlinberger'schen Nachlasses, theils aus den verschiedenen Advocaten bestand. Den letzteren waren kleine Tische mit Schreibmaterialien eingeräumt, wo sie theilweise emsig beschäftigt saßen, ihre Schriften zu ordnen, theils auch mit ihren Clienten sich unterhielten. Die übrigen Gruppen plauderten zusammen, gingen hier und da zu Zweien und Dreien im Saale auf und ab, oder saßen auch einzeln in schweigender Gravität, das Resultat der Zusammenkunft zu erwarten, und sich durch voreilige Freundlichkeit mit einem der anderen vorgeblichen Erben nichts zu vergeben. Jedenfalls hatte die ganze Gesellschaft einen bestimmten Zweck: den langen unerquicklichen Proceß endlich einmal zu einem Schlusse zu führen und zum ersten Mal die Ueberreste dessen zu überblicken, was Gerichtskosten und Advocaten von einem früher ziemlich bedeutenden Vermögen übrig gelassen haben mochten.

Das Ganze war bis jetzt auch in einem höchst geschäftsmäßigen steifen Tone betrieben worden. Die verschiedenen Verwandten, von denen sich hier die meisten zum ersten Male sahen, konnten aus ihren früheren Correspondenzen oder Verhandlungen überhaupt keine besondere Neigung zu einander gefaßt haben, und kamen sich deßhalb wohl sehr höflich, aber auch sehr kalt entgegen. Ja, selbst die Freundlichkeit Einzelner nahm man nur mißtrauisch und abwehrend auf.

Das Verhältniß der Erben war übrigens in so fern eigenthümlicher Art, da es in drei Classen zerfiel, von denen Doctor Hetzelhofer laut testamentarischen Papieren, wie schon erwähnt, die Verlassenschaft des ältesten Sohnes beanspruchte und darin von jenem sehr entfernten Verwandten des Quetzlinberger'schen Hauses, dem Doctor und Notar Quetzlinberger, unterstützt wurde. Man vermuthete natürlich dabei, und wahrscheinlich nicht ohne Grund, daß er diesem für solche Unterstützung bedeutende Vortheile in Aussicht gestellt haben mußte.

Ihm gegenüber stand der junge Schierling, als Nachkomme des Adoptiv-Sohnes, der durch sein Erscheinen Doctor Hetzelhofer's Ansprüche in den Hintergrund drängte. – Der Doctor konnte nämlich nicht beweisen, daß der junge Eduard Quetzlinberger, der eigentliche legitime Sohn des alten Testators, nach dem Tode dieses wieder zum Vorschein gekommen sei, und für den Fall galt der Adoptiv-Sohn, wie schon erwähnt, als Universal-Erbe. Eine Zeit lang war aber auch dieser völlig verschollen gewesen, und Doctor Hetzelhofer hatte seinen Proceß gegen die anderen Erben und Verwandten des Quetzlinberger'schen Hauses schon fast zu Ende geführt, als der Adoptiv-Sohn Schierling plötzlich wieder (wie es hieß, gerade von einer Wallfisch-Fahrt zurückgekehrt) auftauchte, dem Proceß dadurch eine neue Wendung und vollkommen frische Nahrung gab und des Doctors Ansprüche auf's Neue unsicher machte.

So waren die verschiedenen Ansprüche im Laufe der Zeit auch auf die verschiedensten Namen und Familien übergegangen Nur die beiden Haupterben schienen den ihrigen von ihren Vorfahren mit geerbt zu haben, und Doctor Peregrinus Hetzelhofer stand noch immer den Ansprüchen des Konrad G. Schierling so hartnäckig entgegen, wie es seine Vorfahren vor fast neunzig Jahren gethan hatten.

Der Vergleich übrigens, den der junge Schierling den übrigen Erben angeboten und der den Doctor veranlaßt hatte, seine Zustimmung wenigstens zu dem Versuche zu geben, war um so annehmbarer, je größere Ansprüche der junge Mann auf das Ganze hatte. Er enthielt in der That das sehr uneigennützige Anerbieten des jungen Schierling, den übrigen Erben sämmtliche Grundstücke, wie überhaupt die ganze Erbschaft zu überlassen, mit einziger Ausnahme des alten, gewiß schon baufälligen, jedenfalls aber unbenutzbar gewordenen Hauses und benachbarten Grundstückes, unter der Bedingung jedoch, daß es ihm, wie es da stand, übergeben wurde, und kein Mensch weiter, selbst kein Gerichtsbeamter, den er nicht selber hineinführe, das Recht haben solle, es zu betreten. Eben so müsse es einzig und allein ihm überlassen bleiben, wie er es zu verwenden oder zu benutzen gedenke.

Dem Gros der Erben hätte allerdings nichts Erwünschteres kommen können, die Hauptansprüche an den Nachlaß in so billiger Weise befriedigt zu finden. Das alte Haus war jedenfalls das geringste werthvolle Stück der Nachlassenschaft, indem es die meisten Kosten verlangte, wieder hergestellt zu werden. Außerdem standen die Ansprüche des Doctor Hetzelhofer, sobald die Rechte des jungen Schierling anerkannt waren, ebenfalls in secundärer Stelle da. Er durfte dann nicht mehr die Universal-Erbschaft für sich in Anspruch nehmen, ja, bei einem Vergleiche nicht einmal höhere Ansprüche machen als sie selber, und wo sehr Viele von ihnen schon in Verzweiflung die letzte Hoffnung auf Erfolg aufgegeben hatten, läßt es sich denken, daß die Stimmung im Ganzen unter den Verwandten eine sehr günstige, besonders dem jungen Schierling geneigte war.

Der Einzige in der That, dem ein solcher Vergleich mit den früher erhobenen Ansprüchen nicht angenehm sein konnte, war Doctor Hetzelhofer und durch ihn Doctor Quetzlinberger. So wenig sich der Erstere aber etwas Derartiges merken ließ und seine gewöhnliche trockene Ruhe der erwarteten Entscheidung gegenüber beibehielt, so mürrisch und unzufrieden zeigte sich sein Verbündeter und Notar, der alle an ihn gerichteten Fragen, wenn überhaupt, nur grob und kurz beantwortete und seinen Sitz im Saale auch dicht am Ofen und so in eine Ecke gedrängt eingenommen hatte, daß er im Stande war, sich lästige Gesellschaft so viel als möglich fern zu halten.

Doctor Hetzelhofer dagegen ging mit auf den Rücken gelegten Händen langsam im Saale auf und ab, sprach mit Jedem, der ihm in den Weg kam, ohne sich jedoch mit irgend Jemandem lange einzulassen, und schien mehr die Stimmung zu erforschen, die unter den Erben herrsche, um seine eigenen Maßregeln danach zu nehmen. Seine eigenen Ansichten über die Sache behielt er dabei für sich und gab, wenn direct darum befragt, immer nur ausweichende Antworten.

Die Gesellschaft der Erben gehörte übrigens zu den gemischtesten. Den aristokratischen Theil derselben bildete aber ein altes Stifts-Fräulein aus einem hannover'schen Stift, das mit einem großen Paket Papiere angekommen war und diese jetzt allen Advocaten der verschiedenen Parteien, die sich ihrer kaum erwehren konnten, vorzulesen wünschte. Neben ihr stand ferner eine verwitwete Frau Kreisräthin Olekamp mit ihrer unverehelichten Tochter Fräulein Sigelinde Olekamp. Dann ärgerte besonders ein Schneider Quetzlinberger aus Bärenburg den Doctor und das Fräulein Olekamp, die er fortwährend »Herr Vetter« und »Frau Base« nannte.

Auch noch ein Paar arme Verwandte waren zugegen, deren Familien der Proceß bis jetzt wahrscheinlich weit mehr gekostet hatte, als sie je wieder hoffen durften, heraus zu ziehen. Diese hielten sich schüchtern zurück und dankten heute vielleicht zum ersten Male Gott für den Besitz eines Advocaten, der sie wenigstens dem enthob, selber sprechen zu müssen.

Noch eine andere Persönlichkeit hatte indessen den Saal betreten. Es war Schwiebus, der mit den Papieren für Doctor Quetzlinberger herüber gekommen war und jetzt, nachdem er sie abgeliefert, zurückblieb, die einzelnen Gruppen mit einem eigenthümlich theilnehmenden Blicke zu betrachten. Er stand, beide Hände tief in die Taschen seines großen braunen Rockes hinein geschoben, die Mütze, die er gewöhnlich trug, unter den linken Arm gedrückt, unfern der Thür, durch welche eilfertige Kellner jetzt Bouillon und Glühwein und Flaschen und Gläser herbeitrugen, dem nachzuhelfen, was der Eine Ofen in dem großen Zimmer doch nicht vermocht hatte zu leisten.

Da wurde plötzlich die Saalthür weit aufgerissen, und ein junger Mann mit bloßem Halse und freier offener Stirn, dem die weichen braunen Locken voll unter der Seemannsmütze vorquollen, blieb darin stehen und überschaute mit lachenden, fast etwas kecken Augen das wunderliche Gemisch von Personen, das sich hier ihm bot. Dicht neben Schwiebus, der ihn jetzt seinerseits mit scharfen, fast mißtrauischen Blicken betrachtete, stand er, die Arme in die Seite gestemmt, den einen Fuß etwas vorgeschoben, als ihm die warme Luft des Saales, die sich dem geöffneten Eingange zuzog, entgegenströmte. Da riß er sich plötzlich die Mütze vom Kopf, und die Haare aus der Stirn streichend, rief er aus:

»Wallrosse und Seeschlangen, was für ein lustiges Leben hier – und eine Hitze – ha – daß sie Einem den Athem fast versetzt. Um des Himmels Willen, meine Herrschaften, halten Sie denn das aus?«

Mit zwei Sätzen war er dabei, ehe nur irgend Jemand eine Ahnung von dem hatte, was er beabsichtigte, auf den nächsten Stuhl und Tisch gesprungen, drehte die oberen Fensterwirbel auf und öffnete eines der hohen Fenster, durch das die kalte Winterluft mit eisiger Schärfe in's Zimmer zog.

»Heiland der Welt!« schrie da das Stifts-Fräulein, das gerade am nächsten unter dem Zuge stand. »Sind Sie wahnsinnig, Herr, daß Sie bei zwölf Grad Kälte die Fenster aufreißen? Himmel, mein Rheumatismus!«

»Um Gottes Willen machen Sie das Fenster zu!« rief es aber auch gleichzeitig fast von allen Seiten, »es ist so schon eine Hundekälte hier im Saal. Na, das fehlte auch noch! Kellner! noch ein Glas Grog – aber so heiß, wie Sie es haben – Und mir auch eines – Herr, machen Sie nur das Fenster zu – und mehr Steinkohlen herauf – das Feuer muß ja ganz ausgegangen sein! – Segne meine Seele, der Mensch ist rein toll – Wer ist es denn eigentlich?« – klangen die verschiedenen Ausrufe meist laut und wirr durch einander, und der junge Herr Schierling stand indessen noch lachend oben an dem offenen Fenster, dem Toben, das er herauf beschworen, horchend. Der Regierungs-Rath Hechner, der dicht hinter ihm das Zimmer betrat, hatte indeß wenigstens rasch die Thür zugeworfen, um aus dem furchtbaren Zuge zu kommen, während ein Paar Kellner ebenfalls auf die Tische sprangen und, dem allgemeinen Nothschrei gehorchend, das Fenster wieder schlossen.

»Aber, mein bester Herr Schierling!« rief der Regierungs-Rath dabei, »sind Sie denn rein des Teufels, daß Sie uns Alle in den Tod hinein erkälten wollen? Wir hier haben ja doch keine solche Eisbären-Naturen, daß wir erst über dem siebenzigsten Grad Norder-Breite anfangen, uns wohl und heimisch zu fühlen.«

»Gut, gut!« rief der junge Mann achselzuckend, indem er von dem Tische wieder hinunter in die Stube sprang und den Kellnern das Feld räumte, »wenn Sie denn absolut in dieser dunstigen Atmosphäre ersticken wollen, habe ich auch nichts weiter dagegen einzuwenden. Aber, Wetter noch einmal! hier ist ja die ganze werthe Verwandtschaft. – O, Hechner, haben Sie doch die Güte, mich einmal vorzustellen.«

Der Advocat Hechner, ein Bruder des Regierungs-Rathes und der Rechtsanwalt des jungen Schierling, der ebenfalls seinen Sitz an einem der kleinen Tische hatte, war schon aufgestanden, ihn zu begrüßen.

»Mit Vergnügen!« rief er dabei – »meine Herren und Damen, ich habe hiermit die Ehre, Ihnen meinen werthen Clienten, Ihren lieben Verwandten, den Herrn Konrad G. Schierling vorzustellen, in dessen Auftrage ich bis jetzt eben die Unterhandlung geführt und dessen Vorschläge zu einer gütlichen Ausgleichung des langen Processes ich die Ehre hatte, Ihnen zu bringen. – Herr Schierling, hier ist Herr Doctor Peregrinus Hetzelhofer – der Herr da am Tisch, Herr Doctor und Notar Quetzlinberger aus Schmalkalden, hier die Frau Kreis-Räthin Justine Olekamp mit Fräulein Tochter. Ferner hier das gnädige Stifts-Fräulein von Olekamp aus Hildesheim; ferner hier der Herr Schneidermeister Quetzlinberger aus Bärenburg.«

»Freut mich recht sehr, Herr Vetter, Ihre werthe Bekanntschaft zu machen – Donnerwetter, haben Sie kalte Hände!« sagte Herr Quetzlinberger aus Bärenburg zu dem jungen Schierling durchdringend und seine Hand nehmend. Diese schüttelte er übrigens herzhaft und schien gar nicht übel Lust zu haben, sie für den Lauf des Tages zu behalten.

»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite,« sagte Herr Schierling verbindlich, machte sich aber doch zu gleicher Zeit von dem neugefundenen Vetter frei und wandte sich an die Damen, gegen die er fortfuhr: – »aber ich muß, wie ich sehe, tausendmal um Verzeihung bitten des Fensters wegen. Die Damen sind alle so in Pelzkrägen und Muffs eingepackt, daß sie keineswegs meine Ansicht über die hier herrschende Temperatur zu theilen scheinen. Es sollte mir unendlich leid thun, Ihnen irgend eine Unbequemlichkeit verursacht zu haben.«

Er drehte sich dabei halb um, zu sehen, ob vielleicht noch andere Damen hinter ihm ständen. Da fiel sein Blick auf den hier postirten Schwiebus, der allen Bewegungen des jungen Mannes bis dahin mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war, und nur zusammenzuckte, als er ihn »Schierling« nennen hörte.

»Schwiebus!« sagte der Famulus da, wie er die Augen des jungen Fremden auf sich gerichtet sah, sich gewissermaßen dadurch selber vorstellend, »Famulus Schwiebus!«

»Alle Wetter!« rief da der junge Schierling rasch und drehte sich jetzt gegen den Famulus um, »alte Bekannte, he? – Nicht wahr, wir sind uns schon einmal im Leben begegnet – in Hamburg, wenn ich nicht irre – erinnern Sie sich meiner noch?«

Der Famulus begegnete starr dem Blicke, und als der Fremde die Hand nach der seinen ausstreckte und sie ergriff, zitterte bei der Berührung sein ganzer Körper wie Espenlaub. Er öffnete auch den Mund, wie um etwas zu entgegnen, aber kein Wort kam über seine Lippen.

»Bitte, mein bester Herr Schierling,« unterbrach da das Stifts-Fräulein das kaum begonnene Gespräch der beiden Männer. Mit einem lang gefalteten, sehr geschäftsmäßig aussehenden Actenstück hatte sie sich dabei bis zu ihm durchgedrängt und berührte jetzt leise und entschlossen den Arm des langsam nach ihr Umschauenden – »dürfte ich Ihre Zeit wohl einmal, nur auf wenige Minuten in Anspruch nehmen, um Ihnen eine höchst wichtige Mittheilung aus diesen Papieren zu machen?«

»Eine Mittheilung zu machen?« sagte der junge Schierling, Schwiebus' Hand dabei loslassend.

»Nur etwas vorzulesen, das sich auf unsere früheren Familien-Verhältnisse . . . .«

»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« unterbrach sie aber der junge Mann, das drohend gegen ihn angehaltene Papier mit komischem Schrecken von sich abwehrend, »ich verstehe auch nicht das Geringste von Geschäftssachen, und Herr Notar Hechner wird Ihnen da mit Vergnügen für mich jede gewünschte Auskunft geben.«

»Aber ich habe Herrn Notar Hechner schon viermal vergebens ersucht,« sagte das Stifts-Fräulein beleidigt.

»Gnädiges Fräulein haben mir die bezüglichen Stellen schon verschiedene Male genannt,« berichtigte freundlich der Advocat, »aber eben so viele Male habe ich Ihnen auch erklärt, daß sie nicht das Mindeste mit unserem speciellen Falle zu thun haben, sondern sich vollkommen in dem Gesammt-Vergleich der Erben erledigen.«

»Wenn ich vielleicht dem gnädigen Fräulein Base in irgend etwas behülflich oder dienlich sein könnte,« mischte sich hier Herr Quetzlinberger aus Bärenburg mit einer zierlichen Verbeugung in das Gespräch. »Es würde mir eine besondere Ehre sein, meiner Verwandtschaft mit irgend etwas aus der Verlegenheit zu helfen. Nur nicht mit Geld, hahaha! – Geld ist bei mir immer das Wenigste, Fräulein Base – immer das Wenigste, hahaha!«

Das Stifts-Fräulein durfte unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht gerade grob werden, aber sie dachte auch gar nicht daran, sich mit dem allzu dienstfertigen Verwandten – dessen Verwandtschaft sich nun doch einmal nicht ableugnen ließ – näher einzulassen, als die Verhandlungen hier unumgänglich erforderten. Sie schob deßhalb ihr Manuscript, sehr zur Beruhigung des Herrn Notar Hechner, in einen riesigen Strickbeutel, den sie am Arme trug und der, seiner Länge nach zu urtheilen, wirklich nur für derartige Actenstücke gearbeitet schien, und zog sich mit einer leise dankenden, aber auch entschieden ablehnenden Verbeugung gegen Herrn Quetzlinberger aus Bärenburg in den entgegengesetzten Theil des Zimmers zurück. Jedenfalls suchte sie dort ein anderes Opfer.

Schwiebus hatte indessen keinen Blick von dem jungen Schierling verwandt, der aber jetzt von Doctor Hetzelhofer angeredet und beschäftigt gehalten wurde. Nichts desto weniger drehte er sich mehrmals nach der Stelle um, auf der Schwiebus noch immer unbeweglich, wie in den Boden gewurzelt stand, und nickte ihm zweimal sogar ganz freundlich und vertraut zu.

»Ein merkwürdiger Mann, der junge Herr Schierling, Schwiebus!« sagte jetzt der Regierungs-Rath Hechner, der das freundliche Nicken desselben ebenfalls bemerkt hatte, indem er zu dem Famulus trat. »Wußte übrigens gar nicht, daß Sie mit ihm bekannt waren. Hm – der scheint gar kein Blut im Leibe zu haben.«

»Kein Blut im Leibe?« rief der Famulus rasch und erschrocken.

»Bildlich, natürlich,« lächelte der Regierungs-Rath, »Ihr Aerzte nehmt Alles gleich in der wörtlichen Bedeutung. Der Mensch friert aber gar nicht und schläft jetzt Nachts bei offenen Fenstern unter einer einzigen dünnen wollenen Decke. Meine Frauen zu Hause sind ganz außer sich. Wo haben Sie denn einander kennen gelernt?«

»Gott weiß es,« sagte der Famulus und schüttelte, stier und gedankenvoll vor sich niedersehend, den Kopf – »ich glaube, unsere Wege haben sich schon mehrere Male gekreuzt, aber – es muß vor meiner Zeit gewesen sein.«

»Vor Ihrer Zeit? – ehe Sie hieher nach Hellburg kamen, meinen Sie?« sagte der Regierungs-Rath.

Schwiebus nickte leise mit dem Kopfe, als er sich plötzlich am linken Arme gezupft fühlte. Rasch drehte er sich dorthin um und sah hier niemand Anderes, als das »gnädige Stifts-Fräulein«, vor sich stehen. Mit glücklicher Umgehung des jetzt gerade am anderen Ende des Saales beschäftigten Herrn Quetzlinberger aus Bärenburg hatte sich dieselbe wieder zu Herrn »Doctor Schwiebus,« wie sie gehört, daß sein Name sei, durchgearbeitet und ersuchte jetzt den »Herrn Doctor,« das vorliegende »kleine Document« mit ihr durchzugehen, um seine Meinung über zwei wichtige Puncte darin zu erfahren.

Schwiebus war ein viel zu gefälliger Mensch, irgend einer Seele eine Bitte abzuschlagen. In diesem Augenblicke wußte und verstand er aber nicht einmal, was von ihm verlangt wurde, und während sein Geist draußen im Weiten schweifte, das verträumte Bild des jungen Fremden wieder aufzufinden und zurückzubringen, ließ er sich willenlos von dem alten hartnäckigen Fräulein zu dem nächsten Tische führen. Hier begann dasselbe denn auch ohne Weiteres, und nur vorher einen flüchtigen triumphirenden Blick nach dem Notar Hechner hinüberwerfend, dem lautlos daneben sitzenden Schwiebus das ganze Document, mit begleitenden Bemerkungen, von vorn bis hinten langsam vorzulesen. Schwiebus hatte dabei glücklicher Weise weiter nichts zu thun, als ruhig zuzuhören, und nur dann und wann, bei irgend einem stark betonten Worte oder fragenden Blicke, oder bei irgend einer Pause mit dem Kopfe zu nicken. Das that er denn auch rein mechanisch, bis sie geendet hatte, das geheftete Actenstück dann wieder zusammen und ihre beiden Hände darauf legte und, mit einem selbst überzeugten Blicke zu ihm aufschauend, rief:

»Nun, Herr Doctor, hab' ich nicht Recht? – Ist der Fall nicht trotz allen Advocaten der Welt so klar wie ein Kron-Diamant?« – welche Diamanten sie als eine besondere Species zu betrachten schien.

»Da nun allerdings,« erwiderte in seiner Unschuld und Geistesabwesenheit Schwiebus eben nicht ganz passend.

»Wenn ich nur wüßte, wen er gemeint hat – den Kern oder die Schale . . . .«

»Die Schale,« rief das Stifts-Fräulein, erschreckt zu ihm aufschauend – »von was, um des Himmels willen, sprachen Sie denn eben?«

Es war ein Glück für Schwiebus, daß gerade in diesem Moment die Thür aufging und ein Bote aus des Doctors Hause ihn rasch zu einem Patienten rief. In dem dunkeln Gefühl dabei, der Dame gegenüber irgend etwas Verkehrtes gesagt ober gethan zu haben – denn von dem ganzen Documente hatte er keine Sylbe gehört, viel weniger verstanden – erhob er sich rasch, griff seine Mütze auf und verließ, mit einer ziemlich linkischen Verbeugung gegen das entrüstete Stifts-Fräulein, eilig den Saal.

Der junge Schierling war indessen ebenfalls, ganz wider seinen Willen, durch die beiden Doctoren Hetzelhofer und Quetzlinberger in ein geschäftliches Gespräch hineingezogen worden, aus dem ihn aber die Frau Kreis-Räthin Olekamp glücklich befreite. Die Frau Kreis-Räthin war erst gestern Abends in Hellburg eingetroffen, hatte sich aber schon vorher ein möblirtes Logis bestellt und beabsichtigte, den Sommer hier ihren Aufenthalt zu nehmen.

»Sie entschuldigen, wenn ich Sie störe,« sagte die Frau Kreis-Räthin, Herrn Doctor Quetzlinberger ohne Weiteres mit einem freundlichen Lächeln bei Seite schiebend und des jungen Schierling Hand ergreifend; »aber mein Herz, junger Mann, zieht mich zu Ihnen. Ich war die intimste Freundin Ihrer seligen Mutter, und sehe die herrliche Frau wahrlich wieder vor mir, wenn ich in diese lieben, bekannten, ihr ganz angehörenden Züge schaue.«

»Aber, beste Frau Kreis-Räthin,« unterbrach sie hier etwas ungeduldig der Doctor Hetzelhofer, »das ist Alles sehr schön und gut; nur ein kleines Viertelstündchen möchten Sie uns noch gestatten, unsere Geschäfte zu reguliren.«

»Bitte, meine Herren, machen Sie das Alles mit Herrn Hechner ab!« rief aber der junge Schierling, froh, so wohlfeilen Kaufes einer langweiligen und vielleicht auch unangenehmen Auseinandersetzung entzogen zu werden.

»Aber zum Donnerwetter, Herr!« platzte da Doctor Quetzlinberger heraus, »wir sind eben hier zusammen gekommen, um die Hauptsache zu reguliren – Ihre eigene Legitimation . . .«

»Herr Hechner hat meine unbedingte Vollmacht,« unterbrach ihn der junge Schierling. »Ueberdies scheint sich die Sache hier zu vereinfachen, und wir brauchen am Ende gar nicht einmal die Zeugin, die ich Ihnen für mich vorgeschlagen habe, zu incommodiren. Hier die Frau Kreis-Räthin erklärt mir eben, daß sie eine intime Freundin meiner seligen Mutter gewesen, und wird gewiß gern dem Sohne ihrer Jugendfreundin bestätigen helfen, daß er überhaupt existirt.«

Ein leichtes Lächeln glitt oder zuckte dabei über das Antlitz des jungen Mannes. Während er sich aber mit einer halben Verbeugung der genannten Dame zuneigte, war es auch eben so rasch wieder verschwunden, um dem alten, offenen Ausdrucke in seinen Zügen Platz zu machen. Keinesfalls hatte die Frau Kreis-Räthin etwas davon bemerkt. Diese Dame war nämlich ganz unbewußt und in aller Unschuld in ein Thema gerathen, das sie jetzt, wenn das möglich gewesen wäre, gern unberührt gelassen hätte. Mutterliebe mochte dazu die Ursache gewesen sein, den jungen, jedenfalls sehr reichen Vetter nämlich auf geschickte Weise mit ihrer Sigelinde bekannt zu machen und ihn auf vertraulichem Fuße in ihr Haus zu führen. Sigelinde war Dichterin und schwärmte, gereimt und ungereimt, in Lyrik und Prosa; und war erst ein Anknüpfungspunct gefunden, so hoffte die Mutter, leicht und glücklich darauf weiter bauen zu können. Natürlich hatte sie nicht daran gedacht, daß eine so einfache Bemerkung und eigentlich nur höfliche Redensart die Folge haben könne, gleich damit vor Gericht gezogen zu werden, um sie zu beschwören – und was für fade Schmeicheleien und hohle Reden würden in unserem gesellschaftlichen Leben nicht geführt werden, wenn das immer gleich zu befürchten stände!

Die Frau Kreis-Räthin ahnte übrigens noch immer nicht die Tragweite ihrer Bemerkung und begriff für jetzt nur, daß man sie beim Wort nehmen wolle, etwas, das die wenigsten Menschen vertragen können. Sie hatte dabei in der That keine Idee, wer des jungen Herrn Schierling Mutter überhaupt gewesen und wo sie gelebt haben mochte. Was konnte sie aber jetzt thun, sich aus dieser fatalen Lage zu ziehen, ohne zugleich zu gestehen, daß sie gelogen hatte? Jede Möglichkeit für eine nähere Berührung mit dem jungen liebenswürdigen Erben wäre dann jedenfalls rettungslos verloren gewesen. Was die meisten Menschen deßhalb in ihrem Falle und an ihrer Stelle gethan haben würden, that sie ebenfalls: durch jedes Wort nämlich, das sie mit vor Verlegenheit stotternder Stimme und mit hohem Erröthen herausstieß, um Zeit für einen klugen Rückzug zu gewinnen, ritt sie sich nur noch immer tiefer hinein, bis sie unerreichbar fest saß.

»Oh, mit dem größten Vergnügen – wenn es verlangt würde« – stammelte sie – »eine so liebe Frau – so viel Seele – und – und so früh sie zu verlieren – dieser Verlust . . . .«

»Hochverehrte Frau,« sagte der junge Schierling und drückte ihr, wie von innerer Rührung übermannt, die Hand.

Doctor Hetzelhofer warf den Kopf herüber und hinüber, als ob er ihn sich abschlenkern wolle, und Doctor Quetzlinberger nahm in Gedanken eine Prise nach der anderen.

»Meine Tochter Sigelinde,« brach sich da die Frau Kreis-Räthin durch alle im Wege liegenden Schwierigkeiten Bahn, die verschämt an ihrer Seite stehende junge Dame dem Vetter präsentirend.

»Ich schätze mich unendlich glücklich . . . .«

»Sigelinde spielt reizend Clavier – Sie müssen uns einmal die Ehre geben.«

»Aber, Mama, ich bitte Dich.«

»Nein, wirklich, mein Kind; wenn man die Wahrheit sagt, darf man auch von seinen Vorzügen sprechen. Nicht wahr, Herr Schierling?«

»Es wäre eine Sünde, wenn wir sie der Welt entzögen,« entgegnete der junge Mann mit einem freundlichen und ermunternden Blicke auf die Tochter. »Ich bin übrigens selber Dilettant auf diesem Instrument und würde mich glücklich schätzen, wenn Sie mir einmal den Genuß verstatteten, Sie zu hören.«

Das Gesicht der Frau Kreis-Räthin leuchtete ordentlich vor Seligkeit bei diesen Worten, und Fräulein Sigelinde – eine junge Dame in dem unbestimmten Alter der Zwanziger, welches, wie die böse Welt von ihr sagte, der Erinnerungen so liebe für sie hatte, daß sie sich noch immer nicht von ihm trennen konnte – schlug verschämt die Augen nieder. Sie stammelte dabei einige unzusammenhängende Worte von »großer Freude« und »schwachen Talenten,« die jedoch erbarmungslos in einem furchtbaren Niesen des Doctor Quetzlinberger – eine Folge der unmäßig eingestampften Prisen – verloren gingen. Der junge Schierling aber, dem besonders daran gelegen schien, den langweiligen geschäftlichen Auseinandersetzungen zu entgehen, fand in der sich jetzt erst entwickelnden Redseligkeit der Frau Kreis-Räthin eine vortreffliche und geschickt benutzte Gelegenheit dazu, so daß sich die beiden Doctoren, sehr zu ihrem Aerger und trotz allem Protestiren, mit dem ihnen vorgeschobenen Notar Hechner begnügen mußten.



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