Friedrich Gerstäcker
Das alte Haus
Friedrich Gerstäcker

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Kapitel 9.

Die Conferenz war vorüber – Advocat Hechner hatte das Zeugniß der Frau Kreis-Räthin zu Protocoll genommen und der junge Schierling noch außerdem eine andere Frau in der Stadt als seine Amme und Wärterin angegeben, die ohne weitere Schwierigkeit seine Identität beweisen konnte. Die übrigen Notare schienen auch vollkommen mit dem Resultate zufrieden, und eine Protestation des Doctor Quetzlinberger gegen den Vergleich bis dahin, daß die wirkliche Abstammung des jungen Schierling von dem früheren Adoptiv-Sohn des alten Herrn Quetzlinberger sicher und über allen Zweifel erwiesen sei, wurde durch die Majorität der Stimmen entschieden abgelehnt. Am nächsten Tage sollte die alte Wärterin des jungen Mannes allerdings noch gerichtlich vernommen, dann aber dem gütlichen Vergleich auch keine weitere Schwierigkeit in den Weg gelegt werden. Die Leute hatten das Processiren satt und verlangten diesmal entschieden die Sache abgemacht und ausgeglichen zu sehen, wie auch genau zu wissen, was sie aus der Erbschaft zu erwarten hätten. Dauerte der Proceß jetzt noch fort, so bekamen sie überdies nichts mehr heraus.

Einige Tage vergingen so mit der Aufstellung der Erbschaft, dem Inventarium des noch vorhandenen Besitzes, dem Nachsehen und Controliren der Rechnungen, und der junge Schierling hatte indessen einen nicht geringen Theil seiner Zeit im Hause der Frau Kreis-Räthin Olekamp zugebracht, wo er mit Sigelinde nach Herzenslust musicirte und – wenn nicht die Tochter – jedenfalls die Mutter von sich bezaubert hatte.

Die Frau Regierungs-Räthin Hechner bekam indessen die ewigen Geschäfts-Verhandlungen herzlich satt; denn an eine regelmäßige Tischzeit durfte schon gar nicht mehr gedacht werden. Bald fehlte der Regierungs-Rath selber, der mit zum Schiedsrichter bei der Regulirung des Processes ernannt war, bald ihr Gast, und auch heute wieder – es waren vier Tage seit jener ersten Conferenz verflossen – hatten sie mit dem Essen schon eine reichliche Stunde gewartet, ehe der Regierungs-Rath, und dann noch allein, nach Hause kam, indem er den heute bei der Frau Kreis-Räthin eingeladenen jungen Schierling in dessen Namen entschuldigte. Er, der Regierungs-Rath, mußte selber gleich nach Tische wieder fort, um heute in einer Schluß-Sitzung den Endbescheid zu fassen.

Heute Morgens war nämlich, wie der Regierungs-Rath über Tisch erzählte, die frühere Amme und Wärterin des jungen Schierling, die hier in der Stadt seit etwa zwölf Jahren ansässige und genugsam bekannte Frau Bause, vor Gericht erschienen und eidlich vernommen worden. Sie hatte denn auch ohne Zögern die Identität des jungen Schierling beschworen und mit dem vorhergegangenen Zeugnisse der Frau Kreis-Räthin außer allem Zweifel gestellt. Heute Nachmittags sollte ihm der von ihm selbst bedingte Theil der Erbschaft, das alte Haus mit dem daranstoßenden Grundstück, zugesprochen werden, und er selber war um vier Uhr auf das Rathhaus beschieden worden, den Beschluß zu vernehmen. Die ganze Sache war in der That jetzt nur noch eine nicht gut zu umgehende Formalität, da sich schon Alle über das Resultat geeinigt hatten.

Mit dem letzten Bissen im Munde, stand der Regierungs-Rath auch schon wieder vom Tische auf, trank seine Tasse Kaffee rasch, schon mit dem Hut auf dem Kopfe, und eilte auf das Rathhaus hinüber, wo sich seine übrigen Kollegen ebenfalls bald versammelten.

Die Frau Regierungs-Räthin war, dem Berichte ihres Mannes gegenüber, sehr einsylbig gewesen; sie wußte eigentlich selber nicht recht, warum. Daß ihr Gast sie im Stich gelassen? – was hatte er denn auch immer bei der alten gezierten Kreis-Räthin zu thun, die hier in Hellburg, wie es den Anschein beinahe hatte, neue Sitten und Gebräuche einführen wollte – und wenn sie nun auch aus der Residenz kam! Und die »alterthümliche Sigelinde« – das »antike Wunderkind . . .!« Die sonst so gutmüthige Frau wurde ordentlich boshaft, und verließ endlich das Zimmer, um der eigenen Wirthschaft nachzusehen, fast eben so böse über sich selbst als jemand Anderes.

Marien klang indessen nur der eine Name in den Ohren: »die Frau Bause« – die Frau Bause Amme und Wärterin Gundelrebe's – und Gundelrebe der Erbe des alten Quetzlinberger'schen Hauses, in dessen geheimnißvolle Räume er vielleicht schon in den nächsten Tagen einziehen würde. Träumte sie denn schon wieder ihren alten Traum, oder war das hier Wirklichkeit – Leben – Thatsache? – Traten nicht die alten, schon halb vergessenen Bilder aus ihren Rahmen heraus, und fehlte denn nicht von Allen nur noch der alte Herr Quetzlinberger aus dem Hause da neben?

Bis jetzt hatte sie sich gescheut, eine Sylbe von jener merkwürdigen Aehnlichkeit der Freundin mitzutheilen – mußte sie denn nicht fürchten, von dieser ausgelacht zu werden? Aber jetzt, wo auch die »alte Margareth« den Schauplatz mit betrat und in das Räthsel ihres Lebens einzugreifen drohte, jetzt, wo ihr Zweifel und Staunen das Herz erfüllten, den Sinn verwirrten, und sie ernstlich fürchtete, ihren alten Einbildungen und Träumen wieder anheim zu fallen, beschloß sie, Helenen aufzusuchen, ihr Alles zu entdecken und in ihrem ruhigen Urtheil und reiferen Verstande Trost und Hülfe zu finden – brauchte sie doch Beides.

Leider traf sie Helenen, als sie rasch Hut und Mantel aufgegriffen hatte und hinüber geeilt war, nicht zu Hause. Helene war ausgegangen, einige nothwendige Einkäufe zu machen, wurde aber bald zurück erwartet. Marie verließ das Haus wieder, und da die Sonne jetzt eben warm und freundlich schien, so kehrte sie noch nicht in ihre eigene Wohnung zurück. Wenn sie einen kleinen Spaziergang machte, konnte sie sicher darauf rechnen, auf dem Rückwege Helenen anzutreffen.

Langsam ging sie die breite Straße hinauf, dem nächsten Thore zu, um dort die öffentliche Promenade der Stadt zu erreichen. Hier aber fand sie den Weg durch eine zusammengelaufene Volksmenge gesperrt. Es war ein Wagen durchgegangen, der Kutscher vom Bocke gestürzt und das Gespann der wildgewordenen Pferde dann hier gegen den steinernen Brunnen gerannt und aufgefangen worden, und die Leute standen jetzt dicht gedrängt an der Stelle, besahen die Blutspuren und die Stücke des zertrümmerten Wagens und besprachen sich theils über das geschehene Unglück, theils über das, was durch den Brunnen war verhütet worden.

Marie suchte dem dichten Menschenknäuel auszuweichen und bog in die nächste, rechts ausführende Straße ein, durch welche sie die Promenade ebenfalls, nur etwas später, erreichen konnte.

Langsam, ihren eigenen Gedanken nachhängend, ging sie die ziemlich menschenleere Straße, die außerhalb des eigentlichen Geschäfts-Bezirkes lag, entlang, als ihr Auge plötzlich auf ein kleines gelbes Schild fiel, auf dem mit großen schwarzen Buchstaben der einzelne Name

»Margarethe Bause«

stand.

Margarethe Bause, stammelte Marie erschreckt vor sich hin, und fühlte ordentlich dabei, wie das Blut ihre Wangen verließ und das Herz in wilden Schlägen ihr die Brust zu sprengen drohte – Margarethe Bause – es ist doch wunderbar!

Zum ersten Mal wieder seit jener Zeit, seit der sie diese Straße absichtlich vermieden, hatte sie, ganz in Gedanken, den Fuß hieher gelenkt, und jetzt war es, als ob das kleine Schild wie ein Magnet auf sie wirke und sie nicht von der Stelle lasse. Aber gerade mitten auf der Straße wollte sie doch auch nicht stehen bleiben, und in dem halbklaren unangenehmen Gefühle, daß die Nachbarn dort sie ansehen und erkennen und dann auch wissen müßten, weßhalb sie eigentlich so erschreckt sei – obgleich das eben gar kein Mensch hier wissen konnte –, trat sie zu dem kleinen Ladenfenster hin, das eine Masse der verschiedenartigsten Artikel dem Auge der Vorübergehenden ausgestellt bot.

Fischhaken und auf wettergebräuntem Papier aufgereihte Stahlfedern, schmutzige Puppenköpfe und in Strahlen aufgesteckte Stricknadeln, Büchschen mit Pomade und Oelen à la mille fleurs wie à la vanille; Päckchen mit Papilloten und Streichhölzchen; kleine Gläser mit verschlossenen Bonbons und staubigem Gerstenzucker, lackirte Schnupftabaks-Dosen und Brillen-Futterale; Licht- und Augenschirme etc. etc., Alles war hier zu haben. Selbst die schmale Glasthür, zu der drei von Eis freigehaltene und sorgfältig mit Asche bestreute Stufen hinaufführten, war inwendig mit angefrorenen Dochten und Garn und Bandproben behängt.

Marie kämpfte mit einem eigenen Entschlusse – sie wollte eintreten in den Laden und dadurch ihren thörichten Ideen und Träumen gleich ein Ende machen. Ein Vorwand war ja leicht gefunden – brauchte sie doch nur nach ein Paar Stecknadeln, einem Fingerhut oder sonst einer unbedeutenden Kleinigkeit zu fragen. Und doch wieder fürchtete sie sich und mochte sich nicht eingestehen, weßhalb.

Da ging die Thür neben ihr so plötzlich auf, daß sie einen leisen Schrei kaum unterdrücken konnte; die freundliche Anrede aber, die in der Gestalt der Frau Bause auf der Schwelle erschien, machte ihrem weiteren Zaudern ein rasches Ende.

»Aber, mein liebwerthestes Fräulein Hechner – hab' ich denn auch einmal das Vergnügen, Sie wiederzusehen? – und wie groß und hübsch Sie geworden sind! Aber so treten Sie doch nur einen Augenblick herein. Als kleines Kind, und ehe Sie krank wurden, wo Sie dann gar nicht mehr in die weite Schule gingen, sind Sie ja so oft bei mir eingesprochen und haben sich einen Bonbon oder ein Stückchen Gerstenzucker geholt. Lieber Gott, werden doch die alte Frau Bause in den Paar Jahren nicht ganz vergessen haben!«

Und während die Frau das mit freundlicher Stimme sprach und die schmale Thür weit dabei geöffnet hielt, bimmelte ein silberreines Glöckchen, das oben an einer eingebogenen Feder befestigt war, in Einem fort, und so vergnügt, als ob es sich selber freue, hier draußen eine alte Bekannte begrüßen und gleich auch bewillkommnen zu können.

Marie stand, keines Entschlusses fähig, vor der Frau. Ihr erster Gedanke war freilich, mit kurzem Gruß ihrem Laden den Rücken zu kehren und die gefährliche Stelle so rasch als möglich zu meiden. Aber die Frau sprach gar so freundlich mit ihr, und wenn sie auch in der That selber nicht recht wußte, wie sie dahin gekommen, fand sie sich doch wenige Secunden später in der engen Thür, indeß die kleine Glocke über ihr einen wahren Sturmmarsch von Seligkeit jubelte.

»Nein, Mamsell Hechner, das freut mich ja ganz unmenschlich, Sie auch einmal wieder bei mir zu sehen!« rief dabei die Frau, des jungen Mädchens Hand ergreifend und dieses mehr nach der Mitte des kleinen Ladens, von der Thür wegführend – »ich hatt' es doch bald aufgegeben, Sie je wieder bei mir zu sehen – ja, lieber Gott, wie die Zeit vergeht!«

Marie konnte noch nicht antworten – es war, als ob ihr die Worte in der Kehle stecken blieben, und nur ihr Auge schweifte rastlos über die Gestalt der vor ihr Stehenden hin, nach den Fächern des Ladens hinüber und dann zu jener zurück.

Der kleine Raum war dicht gedrängt voll von den verschiedenartigsten Waaren, die in schmalen, bis zur Decke laufenden Fächern alle drei Wände einnahmen und für die in das Nebenstübchen führende Thür nur eben den allernothwendigsten Raum übrig gelassen hatten.

Und schmunzelnd und nickend stand die Frau Bause dazwischen, dieselbe hohe spitze Mütze auf, in der Marie schon als Kind sie in ihrer Ladenthür hatte sitzen sehen. Die weißen, breiten, sauberen Bänder waren unter dem etwas spitzigen Kinn in einen sorgfältigen Knoten zusammengebunden, und das etwas gelbliche Gesicht stach scharf gegen die schneeige Einrahmung derselben ab. Sie trug dabei – und Marie erschrak fast, als sie die Farbe sah – ein schwefelgelbes wollenes Umschlagetuch über einer eben so farbigen Jacke und darunter einen blau- und rothgestreiften Rock mit einer schneeweißen und so breiten Schürze, daß sie fast drei Viertheile des letzteren bedeckte.

»Und was für ein niedliches Kindchen Sie damals waren!« fuhr die Frau fort. – »Sie sind noch niedlich, Mamsellchen, aber doch jetzt natürlich viel ansehnlicher geworden – aber damals – nein, gar so ein liebes Herzchen, und meine Rosenbonbons, die schmeckten Ihnen nun vor allem Anderen gut. Wissen Sie wohl, daß ich einen von meiner besten Sorte ein ganzes Jahr habe da oben liegen gehabt, der nur auf Sie gewartet hat? Aber wer nicht mehr kam, war natürlich das Mariechen.«

Marien schwamm es vor den Augen – die Traumgestalt und die wirkliche Frau Bause fingen an, sich vor ihren Augen zu drehen – die Haubenzipfel zuckten wieder in Strahlen aus, wie zu jener Zeit, und der Laden mit all seinen Gläsern und Büchsen und Päckchen und Schachteln sog sich voll von dem grellen Gelb des Tuches und der Jacke und flimmerte und glitzerte vor ihren Augen. Sie mußte sich an den Ladentisch anhalten, um nicht schwindelig zu werden, und fühlte dabei ordentlich, wie das Blut ihre Wangen verließ.

»Jesus, meine Güte!« rief da die Frau Bause und sprang zu, sie zu halten – »Sie sehen ja kreideweiß aus, Mamsellchen!«

»Ich danke,« lächelte Marie verlegen – »es war nur so ein Augenblick – ein plötzlicher Schwindel – mir ist schon wieder viel besser – schon ganz wohl.«

»Das macht die heiße Luft hier im Laden,« sagte die Frau gutmüthig, indem sie eine ihrer Hände faßte und streichelte; »der rasche Uebergang von der Kälte draußen greift die Kopfnerven an und erregt Schwindel. Das wollen wir aber schon wieder verbessern,« setzte sie dann geschäftig hinzu, indem sie nach ihrem, unter der Schürze hängenden Schlüsselbunde griff, »das wollen wir bald curiren, und Bonbons kann ich dem Mamsellchen doch nicht mehr vorsetzen, dazu ist sie mir ja viel zu groß geworden.«

Mit emsiger Geschäftigkeit drückte sie sich dabei durch die etwas enge Passage hinter den Ladentisch, öffnete hier ein kleines schmales Fach und nahm eine Flasche und ein Glas heraus, mit dem sie zurück zu Marien kam.

»Hier,« sagte sie, indem sie den Stöpsel dabei öffnete und einen dunkelfarbigen und aromatisch duftenden Madeira in das kleine Glas schenkte, »hier, mein liebes Mariechen – Sie dürfen nicht böse sein, wenn ich Sie noch so nenne, denn ich mein' es ja gut – das trinken Sie nur getrost auf Einen Schluck hinunter – es ist alter, echter Madeira, und nur für solche Gelegenheiten bestimmt – der geht Ihnen wie frisches Feuer und Lebensblut durch die Adern.«

Marie nahm halb willenlos das Glas, und wieder zuckte ihr die fremde Traumgestalt durch das Hirn. Sie sah jene Margareth vor sich, wie sie mit der weißen Schürze und der angerichteten Schüssel in die Stube getreten war und sie zuletzt gewarnt hatte, nichts zu genießen, weil sie sonst da bleiben müsse und nie wieder hinüber dürfe zu ihren Eltern. Und wenn sie jetzt nun hätte hier bleiben müssen in der Gewalt der Frau – sie hielt das Glas noch zögernd in der Hand.«

»Das dürfen Sie trinken,« sagte die Frau Bause, ihr mit den Augen zublinzelnd, als ob sie ihre Gedanken errathen hätte. »Es hat keine Gefahr, Mamsellchen – reineren Wein giebt's nicht auf der Welt und kein besseres Getränk für schwache Nerven.«

Marie faßte das Glas fast krampfhaft, aber sie fühlte auch, daß sie der Stärkung bedürfe, und leerte es auf Einen Zug.

»Bravo!« rief die Frau Bause und klatschte in die Hände, daß es schallte, »und nun sollen Sie einmal sehen, ob Ihnen nicht im Handumdrehen besser ist – so, mein Kindchen, geben Sie mir nur das Glas – die alte Bause hat es noch immer gut mit Ihnen gemeint.«

»Ich danke Ihnen,« sagte jetzt Marie, den dargebotenen Stuhl benutzend und sich daraus niederlassend, »und glaube wohl, daß mir der Wein gut thun wird. Es war nur eine augenblickliche Schwäche – wahrscheinlich, wie Sie sagen, von der raschen Veränderung der Luft herrührend.«

»Von weiter nichts, mein bestes Mamsellchen, von weiter nichts,« sagte die alte Frau gutmüthig; »sollte mir aber doch auch erschrecklich leid gethan haben, wenn Sie nach so langer Zeit endlich einmal wieder Ihre alte Frau Bause aufgesucht hätten und bei ihr krank geworden wären. Oder wollten Sie gar nicht zu mir hereinkommen, und war es nur im Vorübergehen, daß ich mir die Freude gemacht habe, Sie aufzufangen?«

»Ich bin allerdings nur zufällig durch die Straße gekommen,« sagte Marie, leicht erröthend, »aber wie ich Ihr Schild sah und wiedererkannte – mochte ich doch nicht vorbeigehen.«

»Das ist brav von Ihnen, mein liebes, bestes Mariechen, das ist recht brav,« sagte die alte Frau, »und jetzt wollt' ich, wüßt' ich nur etwas, das ich Ihnen zu Gefallen thun könnte, um Ihnen zu beweisen, wie große Freude Sie mir gemacht haben – und beinahe wären wir noch dazu Nachbarsleute geworden,« setzte sie lächelnd hinzu.

»Nachbarsleute?« fragte Marie rasch und erstaunt.

»Nun ja, der junge Herr Schierling – so ein braver, rechtschaffener Mensch, wie nicht weiter auf Gottes Erde lebt, und steinreich dabei und jung und hübsch – nun, Sie kennen ihn ja doch, und Ihnen brauch' ich ihn nicht zu beschreiben – wird doch wieder in das alte Haus hineinziehen, das ihm die Gerichte endlich zugesprochen haben, und da wollte er mich gern als Haushälterin zu sich nehmen.«

»Sie, Frau Bause?«

»Nun ja, habe ich ihn doch auf diesen Armen herum getragen, wie er noch so klein war, und ihn genährt viel lange Monate durch, wie seine Mutter, Gott habe sie selig! dem schweren Wochenbett erlegen war, den braven jungen Herrn Schierling. Und so ein gutes, dankbares Gemüth!«

»Und Sie ziehen hinüber?« fragte Marie, kaum der Worte bewußt, die sie sprach, und nur bemüht, der Frau die Bewegung zu verbergen, die nicht allein ihre Rede, nein, schon ihr Anblick in ihr hervorgerufen.

»Doch wohl nicht, mein schönes Mamsellchen,« sagte die Frau kopfschüttelnd – »erstlich habe ich hier mein Auskommen und bin nun einmal daran gewöhnt, frei und unabhängig in der Welt dazustehen, und dann – man wird auch alt, und seit ich bei der Madame Schierling in Diensten stand, sind schon manche, manche Jahre verflossen. Es freut Einen allerdings, wenn man sieht, daß Einen noch andere Leute haben wollen; aber ich habe es hier doch gut, und mein Geschäft, mit dem, was ich daneben verdiene, nährt und erhält mich vollkommen.«

»Aber nicht wahr,« sagte Marie, und fühlte dabei, wie ihr das Blut – sie wußte selber eigentlich nicht, warum – in Stirn und Schläfe stieg, »nicht wahr, was die Leute von Ihnen sagen, daß Sie aus Karten und Bleiguß ihre künftigen Schicksale prophezeien, ist doch nicht wahr?«

»Und warum nicht, mein schönes Mamsellchen?« lächelte die Frau Bause und nahm dabei in einer Art Gewohnheit ein altes Tuch, das neben ihr lag, die ihr zunächst stehenden Glaskasten abzuwischen und vom Staube zu befreien – »warum nicht? Manche spotten freilich darüber, wie ich recht gut weiß; beredet wird man ja doch in der Welt, man mag thun oder lassen, was man will.«

»Und glauben Sie wirklich, daß Gott uns in bunten Blättern, denen wir unsere eigene Deutung geben, die Zukunft offenbaren würde?« fragte Marie.

Die Frau Bause zuckte die Achseln und erwiderte:

»Es ist Manches wunderbar in der Welt, mein gutes Mamsellchen – Manches sehr wunderbar, und es passiren Sachen,« setzte sie mit einem eigenthümlichen Blicke hinzu, »die sich manche Menschen nicht einmal träumen lassen. Uebrigens erfahren wir auch eben nicht viel mehr von unseren künftigen Schicksalen, als uns gerade gut ist – und das ist meist ungemein wenig, und dann zeigt sich das auch oft als ein sehr mißliches Geschäft. Nicht allen Menschen läßt sich Gutes prophezeien, und spricht man die Wahrheit, hat's Einem Niemand Dank.«

»Aber heißt es nicht freveln,« sagte Marie mit leiser, kaum hörbarer Stimme, »wenn wir durch irgend eine geheime Macht das zu erlangen suchen, was uns Gott in seiner allweisen Güte selbst verhüllt?« – Sie dachte dabei der Worte, die jene Margareth im Traume damals zu ihr gesprochen, und das Herz klopfte ihr stärker, als der Gedanke in ihr aufstieg, die Frau zu fragen, ob sie ihr nicht einmal ihr Schicksal prophezeien wolle. Die Frau Bause aber sagte rasch:

»Freveln? Nein, mein gutes Mamsellchen, freveln können Sie das nicht nennen. Sagt denn die Bibel nicht selber: Suchet, so werdet Ihr finden, klopfet an, so wird Euch aufgethan? Und wenn man nun einmal mit leisem Finger an der Zukunft Pforte anpochte, wäre es doch nicht gefrevelt. Die Antwort steht jenen Mächten ja frei – und manchmal verweigern die sie auch. Alle Menschen können das aber auch nicht vertragen, und Ihnen, mein gutes Mamsellchen,« setzte sie plötzlich hinzu, »prophezeite ich zum Beispiel schon gar nicht, und wenn Sie mir Gott weiß was dafür geben wollten.«

»Mir nicht?« sagte Marie und stand rasch von dem Stuhle auf. Sie fühlte, wie sie bei den Worten erblich.

»Nein, mein gutes Mariechen. Sie haben viel zu schwache Nerven und sehen jetzt schon wieder ganz bleich aus – bleiben Sie doch lieber noch ein Bißchen sitzen. Wer nicht einen ganz starken Geist hat, den nimmt's doch manchmal zu sehr mit, und er setzt sich auch vielleicht nachher Dinge in den Kopf, die da gar nicht hineingehören. Darf ich Ihnen vielleicht noch ein Schlückchen von dem alten Wein anbieten?«

»Nein – ich danke tausend Mal,« sagte Marie rasch, und der Boden brannte ihr dabei ordentlich unter den Füßen – »ich muß auch fort – Mutter wird zu Hause auf mich warten, und ich bin so schon zu lange weggeblieben.«

»Sie hätten sich doch noch ein wenig länger ausruhen sollen.«

»Es ist nicht möglich!« rief Marie, der es den Athem zu versetzen begann und die sich nach der frischen Luft sehnte. »Vielen Dank, liebe Frau, für Ihre Freundlichkeit.«

»Ah was Dank, Mamsellchen!« sagte die Frau, ihre Schürze wieder zurückstreichend und die gegen sie ausgestreckte Hand Mariens nehmend und leise klopfend, »es ist mir ja eine Ehre und Freude gewesen, Sie einmal bei mir zu sehen. Habe ich Sie ja doch schon als kleines Schulkind gekannt und gern gehabt.«

»Adieu, Frau Bause.«

»Empfehle mich Ihnen gehorsamst und bitte, grüßen Sie mir den Herrn Schierling recht hübsch – wenn er im alten Hause eingezogen ist, komme ich einmal hinüber.«

Marie war schon auf der Straße, und die frische Luft und der helle Tag thaten ihr unendlich wohl. Es war auch, als ob sie eine Last von der Seele geschüttelt hätte, als sie das kleine, enge, dunstige, helldunkle Zimmer hinter sich ließ, und sie lief mehr, als sie ging, dem väterlichen Hause wieder zu. Wie es sie aber erst gedrängt hatte, Helenen zu sehen und zu sprechen, so war es ihr jetzt nicht mehr möglich, sie aufzusuchen. Zu viel des Neuen, des Unbegriffenen drängte sich ihr in Herz und Hirn zusammen, zu viel wilde, verworrene Gedanken waren wieder durch dieses halb zufällige Begegnen mit der bis dahin vermiedenen Frau in ihr wach gerufen. Das Alles mußte erst gesichtet und geordnet werden; sie mußte erst mit sich selber im Klaren sein, ehe sie einem fremden Blicke verstatten konnte, in dieses Chaos hinein zu schauen.

So erreichte sie ihre Wohnung und ihr stilles Stübchen, wo sie sich wenigstens sammeln konnte, und die Dämmerung war eingebrochen, ehe sie zu ihrer Mutter hinüber ging.

Um acht Uhr war bei Hechner's die Theestunde und Herrn Schierling, der sich mit seinen Geschäften nicht immer an eine bestimmte Zeit binden konnte, war gesagt worden, daß man zu jener Zeit trinken würde, wenn er bis dahin nicht zu Hause wäre. Käme er dann später und hätte nirgend anderswo zu Abend gegessen, so könnte er immer noch kalte Küche und eine Tasse Thee bekommen. Er war dadurch in seinen Abenden völlig unabhängig geworden.

Der Regierungs-Rath selber hatte sich heute etwas früher eingefunden und unten in seiner Studirstube noch einige Briefe geschrieben, wie einige zu ihm kommende Leute abgefertigt. Dann schloß er sein Zimmer ab und ging hinauf zu den Seinen, um mit ihnen, wie er das gern that, in stiller Abendstunde die Erlebnisse des Tages zu übersprechen.

Und ein gemüthliches Plätzchen war es in der traulich warmen Stube der Regierungs-Räthin, wo die Theemaschine auf dem blau glimmenden Spiritusfeuer summte und zischte, und die breite buntbeschirmte Lampe ein nettes, aber wohlthätiges Licht über die elegante trauliche Umgebung warf. Die Frau Regierungs-Räthin saß auch schon an ihrem Ehrenplatze hinter der Maschine, ihre Schwägerin, die Frau des Advocaten Hechner, ein junges, blühendes Weibchen, neben ihr, und Marie war an der anderen Seite des Tisches, ebenfalls mit einer weiblichen Arbeit beschäftigt. Die Stiche daran tanzten ihr freilich noch immer vor den Augen herum und fuhren ihr so wild verworren durch einander, wie die Gedanken. Das Gespräch der Eltern diente ebenfalls nicht dazu, sie die Begegnisse des heutigen Tages vergessen zu machen, – denn es drehte sich ja auch um das alte Haus und den jetzigen Besitzer desselben, den jungen Schierling. Desto wohler schien sich der Regierungs-Rath zu fühlen, der, als er in's Zimmer gekommen war, seine Lampe ausgedreht und auf einen Seitentisch gestellt, und sich selber in den für ihn bestimmten Lehnstuhl behaglich ausgestreckt hatte, mit einem leisen Seufzer behaglichen Wohlbefindens ausrief:

»So – das war einmal heute ein bewegter Tag, und der Thee soll mir vortrefflich schmecken, Lenchen. Wenn nur unser junger Freund hier wäre – hat er sich nicht heute Nachmittags bei Euch sehen lassen?«

»Heute Nachmittags nicht,« sagte die Frau, »aber heute Morgens, als er fortging, versprach er mir ganz fest, daß er jedenfalls heute Abends zum Thee hier sein würde.«

»Dann kommt er auch noch,« sagte der Regierungs-Rath, sich vergnügt die Hände reibend; »dann kommt er auch noch auf jeden Fall.«

»Wenn ihn die Frau Kreis-Räthin fortläßt!« sagte etwas pikirt die Regierungs-Räthin.

»O nein, Wort hält er,« vertheidigte ihn der Regierungs-Rath. »Also das Haus hat er, Kinder.«

»Fest und zugesprochen?« riefen die Frauen zu gleicher Zeit, während Marie rasch und fragend von ihrer Arbeit zu dem Vater aufsah, ohne jedoch ein Wort über die Lippen zu bringen.

»Fest und sicher,« bestätigte der Vater. »Seine alte Wärterin, die Frau Baust, hat, wie Ihr wißt, ihr Zeugniß abgelegt, und mit seinen Papieren, die er vorgewiesen, unterliegt es nicht mehr dem geringsten Zweifel, daß er der rechtmäßige Erbe des alten Quetzlinberger sei. Ja, ich bin fest überzeugt, daß er seine Ansprüche als Universal-Erbe durchsetzen könnte, und der Franz hat ihm schon, Gott weiß, wie sehr, zugeredet, daß er es thun soll, aber er will nicht. Er behauptet, er habe so viel und mehr, als er brauche, und wolle nicht seiner ganzen Verwandtschaft in der ersten Begegnung so feindlich gegenüber treten. Viele sind auch wirklich dabei, die es nothwendig genug brauchen und denen selbst mit einem kleinen Theile geholfen ist.«

»Aber der Doctor Hetzelhofer wird dann den größten Nutzen dabei ziehen!« rief Louise, die Frau von Franz Hechner, »und der ist doch außerdem auch reich genug.«

»Mit Doctor Hetzelhofer's Ansprüchen sieht es noch sehr windig aus,« meinte der Regierungs-Rath, die Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Nach den Papieren, die der junge Schierling vorgelegt hat, und welche wir nicht die mindeste Ursache haben, als echt zu bezweifeln, da sich viele, sehr gut gekannte Handschriften des alten Quetzlinberger dabei vorfinden, sind die von Doctor Hetzelhofer vorgezeigten Papiere einer neuen Untersuchung unterworfen worden, und die Handschrift des jungen, damals verschollenen Quetzlinberger zeigt sich danach, wenn auch nicht gerade ganz bestimmt als falsch, doch als sehr verdächtig.«

»Ja, aber das ist doch gar nicht möglich!« rief Louise Hechner.

»Warum nicht?« sagte aber rasch die Frau Regierungsräthin – »dem Menschen traue ich Alles zu. Wenn es je eine Physiognomie auf der weiten Welt gegeben hat, die mir Unbehagen, ja, Schauder einflößt, so ist es die des Doctor Hetzelhofer, und wäre Helenchen nicht ein gar so liebes, sanftes Wesen, ich hätte nie meine Einwilligung dazu gegeben, daß Marie hinüber ging, sie zu besuchen.«

»Liebes Kind,« sagte der Regierungs-Rath, mit dem Kopfe langsam herüber und hinüber schaukelnd, während er die Fingerspitzen der beiden Hände gegen einander brachte, »der Doctor ist mein Mann gerade auch nicht, und ich will gern gestehen, daß es viele Gesichter mit einem angenehmeren Ausdruck giebt.«

»Das weiß Gott!« bestätigte seine Frau.

»Aber darum,« fuhr er fort, »kann er doch in diesem Falle unschuldig sein, selbst wenn die Unterschrift des jungen Quetzlinberger durchaus gefälscht sein sollte. Von den Papieren hat er die wenigsten producirt, die meisten sind mit dem Proceß von seinen Eltern und Großeltern auf ihn vererbt worden. Uebrigens scheint er seiner Sache sehr gewiß zu sein; denn er hat gegen die von uns gefällte Entscheidung feierlich protestirt und, da ihm das nichts half, etwas verlangt, was wir ihm allerdings nicht gut versagen konnten: einen Aufschub der Ueberlieferung des Hauses von acht Tagen, während welcher Zeit er noch, Gott weiß, was! in's Werk zu setzen gedenkt.«

»Aber warum begnügt er sich nicht mit dem Vergleiche?« fragte Louise Hechner – »Franz hat mir oft gesagt, daß alle Parteien ganz außerordentlich damit zufrieden sein könnten.«

»Ja,« lachte der Regierungs-Rath, »alle, die etwas bekommen; wenn aber der Adoptiv-Sohn des alten Herrn auf solche Art anerkannt wird, und dann auch noch Zweifel gegen seine eigenen Papiere aufsteigen, dann ist es sehr die Frage, ob er sich nicht auf einmal von der ganzen Erbschaft vollkommen ausgeschlossen sieht, und daß er dagegen jetzt mit Händen und Füßen anzuarbeiten sucht, kann ich ihm eigentlich nicht verdenken.«

»Und dann bekommt jener schmutzig aussehende Doctor Quetzlinberger am Ende auch nichts davon,« lachte Louise Hechner.

»Woher kennst Du den?« fragte der Regierungs-Rath.

»O, er war gestern einmal bei meinem Manne.«

»So?« sagte der Regierungs-Rath lächelnd; »das dachte ich mir ungefähr. Habe um den keine Angst, das ist ein alter schlauer Fuchs, und wie die Sachen in diesem Augenblicke stehen, hat er vielleicht als entfernter Verwandter des Testators mehr Aussichten, wie als Doctor Hetzelhofer's Genosse. Irre ich mich nicht, so neigt er sich auch schon sehr stark der Ansicht zu, und der Besuch bei Franz scheint mir das nur noch mehr zu bestätigen.«

»Ich will aber nichts gesagt haben!« rief Louise Hechner.

»O, Gott bewahre!« lachte der Regierungs-Rath.

»Es ist doch merkwürdig, was bei einem solchen Proceß für verschiedene Leute zusammen kommen,« sagte die Regierungs-Räthin, indem sie einen frischen Aufguß machte, und dabei einen etwas ungeduldigen Blick nach der Uhr warf – »aus allen Theilen Deutschlands kommen sie her geschneit.«

»Und Du hättest nur in der ersten Versammlung sein sollen!« rief ihr Mann – »das war wirklich interessant – aber da habe ich vergessen, meine Stiefel auszuziehen, und die Pantoffeln stehen noch unten in meiner Stube.«

»Ich will die Rieke danach schicken, lieber Vater,« sagte Marie.

»Nein, ich danke Dir, mein Kind, ich muß selber gehen,« sagte der Vater, indem er sich seufzend in seinem Stuhl aufrichtete. »Ich habe meinen Schlüssel zum Geldschrank unten stecken lassen und möchte nicht gern, daß die Mädchen das gerade sehen – so ehrlich wie sie auch sein mögen.«

»Dann bitte, laß mich gehen, Papa,« sagte Marie, »ich besorge Dir es schon.«

»Danke, mein Kind, danke, hier ist der Schlüssel – zünde Dir aber erst ein Licht an – die Pantoffeln stehen unter dem Ofen – und bitte, ziehe auch gleich den Schlüssel von meinem Schrank ab und bringe ihn mir mit herauf.«

»Ja wohl, lieber Vater.«

»Hier in der Stadt lebt wohl gar kein Verwandter vom alten Quetzlinberger mehr?« sagte die Regierungs-Räthin, das frühere Gespräch wieder aufnehmend.

»So viel ich weiß, nein,« erwiderte ihr Mann.

»Und daß die Frau Bause da noch als entscheidende Zeugin aufgerufen werden mußte!« lachte Louise – »apropos, Marie, kam die nicht damals in Deinem tollen Aethertraum vom alten Hause ebenfalls mit vor?«

»Die Frau Bause? – ja wohl,« lachte die Mutter – »aber es ist doch merkwürdig, daß die jetzt, wie es sich herausstellt, die Wärterin von dem Erben desselben alten Hauses war. Ein Glück, daß wir das damals nicht gewußt haben.«

»Ich bin gleich wieder oben, Väterchen,« sagte Marie, rasch durch die Thür verschwindend.

»Sie mag es noch immer nicht gern hören, wenn man von ihrem früheren Traume spricht,« sagte lächelnd die junge Frau Hechner.

»Ach, ich weiß nicht,« meinte die Mutter, »es war einmal Jahre lang ganz gut mit ihr, aber seit die alte langweilige Proceß-Geschichte das alte Haus wieder in's Tagesgespräch gebracht hat und der Name Quetzlinberger Einem entgegenschallt, wohin man auch kommt, ist es mir beinahe so, als ob ihr jene Zeit doch mehr als gut wieder in's Gedächtniß gekommen wäre. Nun, das wird sich schon geben, wenn nur erst einmal die Sache vorbei und das Nachbarhaus wieder von vernünftigen lebendigen Menschen bewohnt ist. – Aber wo unser junger Erbe heute Abend bleibt, möchte ich auch wissen,« setzte sie dann nach einer kurzen Pause, jetzt wirklich ungeduldig werdend, hinzu: »den hat gewiß die Frau Kreis-Räthin und ihre Sigelinde nicht wieder losgelassen, und er muß dort ihr langweiliges Claviergeklimper mit anhören.«

»Mir war's eben beinahe,« sagte der Regierungs-Rath, »als ob unten die Hausthür ging. Ich glaube, ich habe die Klingel gehört.«

»Nun, da käme er gerade noch recht,« sagte seine Frau, den Deckel von der Theekanne nehmend und hinein sehend – »diese Männer haben wirklich nur von Zeit einen Begriff, wenn sie in ihr Geschäft gehen; das Geschäft der Frau erkennen sie gar nicht an, und betrachten es einzig und allein als Nebensache.«

»Mein liebes Kind,« sagte der Regierungs-Rath, »Du mußt auch bedenken, daß – ja, was war das?« unterbrach er sich, rasch vom Stuhl auffahrend; aber auch die Frauen waren von ihren Sitzen emporgesprungen, und die Mutter rief rasch und erschreckt:

»Das klang wie ein Schrei – das war Mariens Stimme,« und eilte mit den Worten nach der Thür.

Marie hatte – froh, einem Gespräch zu entgehen, das ihr, wie sie recht gut fühlte, das Blut in die Schläfe trieb – rasch das Zimmer verlassen und war die Treppe hinunter geeilt, dem Vater das Verlangte zu holen. Die Pantoffeln fand sie auch an der bezeichneten Stelle, schloß dann den Geldschrank und nahm den Schlüssel zu sich und wollte eben wieder zurückgehen, als draußen die Hausthür klingelte, wieder zugeworfen wurde und rasche Schritte hörbar wurden. Das war Herr Schierling – sie kannte ihn am schnellen Gange, und während sie schon an der noch angelehnten Thür stand, wartete sie einen Moment, um ihn erst vorüber und auf die Treppe zu lassen, bis sie ihm folgte.

Die Treppe hatte er bald erreicht, und sie hörte, wie er, mehrere Stufen auf einmal nehmend, hinaufsprang; dann öffnete sie die Thür, die sich geräuschlos in ihren Angeln drehte, und trat hinaus – aber in demselben Augenblicke stockte ihr auch das Blut – der Athem, denn auf der Treppe – gerade unter der Laterne und neben der zugemauerten alten Thür, zu der er sich niederbog und mit dem gebogenen Finger daran klopfte – stand Gundelrebe, und mit leisen triumphirenden, aber doch in jeder Sylbe zu ihr herüberdringenden Worten rief er dabei:

»Jetzt seid ihr mein, ihr alten Räume; jetzt komme ich hinüber zu euch in die stillen, heimlichen Stuben, und nun wirst Du mir wohl die Pforte öffnen, alter Herr Quetzlinberger!«

Mehr hörte sie nicht – die Sinne schwanden ihr, und mit einem scharfen, gellenden Schrei brach sie bewußtlos auf der Schwelle zusammen.

Schierling, der sich rasch danach umdrehte, sah nur noch, ehe das zu Boden stürzende Licht erlosch, die niedersinkende Gestalt, sprang in flüchtigen Sätzen wieder treppab, hob sie in seine Arme und trug sie eben den Stufen zu, als oben an der Treppe die Frauen mit dem Regierungs-Rath erschienen und mit vor Schrecken und Angst zitternden Gliedern den Aufsteigenden erwarteten. Auch die Mädchen waren oben schon mit Lichtern herbei gerannt, und ihren Händen wollte der junge Mann – noch zu sehr außer Athem, irgend eine Erklärung abzugeben – eben seine schöne Last überlassen, als Marie die Augen aufschlug, das dicht über sie gebeugte Gesicht des Fremden sah und mit dem schmerzlich herausgestoßenen Wort »Gundelrebe« die Augen wieder schloß.

Der junge Schierling hatte mit wenigen Worten erzählt, unter welchen Umständen er das Ohnmächtigwerden Mariens gesehen, die Mutter aber zugleich den nur leise gehauchten verhängnißvollen Namen gehört, der Mariens Lippen entfloh. Sie wußte jetzt, daß irgend ein mit dem unglückseligen Traume in Verbindung stehender Zufall sie wieder ergriffen und erschüttert haben mußte, und fürchtete mit zitterndem Herzen einen Rückfall jener trüben Zeit. Was die Ursache sei, konnte sie sich freilich noch nicht erklären.



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