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Erster Abschnitt.

Ein Tornado.

Es war Mitte September des Jahres 1914.

Drei Tagereisen von der Kameruner Küste entfernt, nicht weit vom Ufer des Lukundje, saß auf der schattigen Veranda eines Wohnhauses Frau Petersen mit ihrem dreizehnjährigen Knaben.

Die noch junge Frau saß in einem bequemen Klappstuhl von Rohr bei einer Handarbeit. Von Zeit zu Zeit richtete sie ihre unruhigen Blicke hinaus in die Landschaft.

»Hörst du denn auch zu, Mutter?«

»Gewiß, Hans. Ich höre alles, was du liest.«

Der Junge blickte zu der Mutter hinüber.

»Daß du mir zuhörst, Mutter, das weiß ich wohl«, sprach er lachend. »Ich meine nur, ob du auch mit dem Herzen hörst?«

»Woraus willst du schließen,« sagte lächelnd die Mutter, »daß ich nicht mit dem Herzen dabei bin?«

»O, ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Deine Augen sind heut so unruhig, als ob du in Sorge wärest.«

»Ja, mein Junge, das bin ich auch. Um Vater. Vater bleibt heut solange. Und beinahe möchte ich wieder ein schlimmes Wetter prophezeien wollen, wenn es mit dem Prophezeien nicht eine eigene Sache wäre. Ich glaube, wir werden heut noch ein Unwetter bekommen.«

»Das haben wir doch oft. Das darf dich doch nicht so aufregen. – Ja, ja, Muttchen, ich sehe immer an deinen Augen, was in dir vorgeht.«

»Du bist ein Schelm, aber mein lieber, einziger Junge.«

Die blasse, hübsche Frau hatte sich von ihrem Stuhl erhoben, war zu dem Jungen getreten, hatte seinen Kopf in ihre feinen, zarten Hände genommen und ihn auf Stirn und Mund geküßt.

»Ich kann's dir nicht verhehlen, lieber Junge, – auch noch andere Sorgen bedrücken mich. – Doch, willst du nicht weiter lesen?«

»Wenn du es wünschst, Mutter, gern. – Jetzt lese ich von Felix Dahn ein Gedicht:

Die Deutschen im Auslande.

Ihr Deutschen unter fremden Sternen,
In meergeschiednen, weiten Fernen,
Ihr sollt die Sprache nie verlernen,
Die wohllautreiche, starke, milde,
Die schönheitvollen Klanggebilde,
Die in des alten Lands Gefilde
Dereinst zu euch die Mutter sprach.
In euren Herzen tönt sie nach:
Wer sie vergißt – dem Weh und Schmach! –
Die Sprache Shakespeares trägt der Britte.
Ich lob' ihn drum! – wie seine Sitte
Getreu in fremder Lande Mitte:
Und Schiller soll vergessen sein? –
Ihr deutschen Männer rufet: ›Nein!‹
Ihr deutschen Frauen, stimmet ein,
Und eure Mädchen soll'n und Knaben
Als köstlichste von allen Gaben
Das Kleinod deutscher Sprache haben!

Gefällt dir das Gedicht, Mutter?«

Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr der lebhafte Knabe fort:

»Mir gefällt es sehr. Weißt du, Mutter, was mein größter Wunsch wäre? – doch einmal nach Deutschland zu kommen. Ich kenne ja nichts anderes als Kamerun. Das imponiert mir ja sehr. Aber Vater hat soviel von Deutschland erzählt, und du auch, daß ich oft vor Sehnsucht versucht bin, mit meinem Kanoe den Lukundje hinunter zu paddeln, bis ich zum Meer komme. Weißt du, ich war oft nahe daran.

Dann habe ich mir das ausgemalt, wie schön das sein würde, wenn ich so auf ein Dampfschiff kletterte, um auf dem, nach Wochen, endlich bei den Großeltern in Hamburg zu landen. – Was die dann für Augen machen würden, wenn sie ihren Enkel, den sie nur aus der Beschreibung oder von einer schlechten Photographie kennen, nun mit einemmal in Lebensgröße vor sich sähen?! – Dann aber sagte ich mir, daß mein heimliches Fortgehen ein Unrecht sein würde. Denn du, liebstes Mütterchen, würdest dich doch bangen und sorgen und nicht wissen, wo ich geblieben bin. Und da warte ich lieber ab, bis wir einmal zusammen die weite Reise machen.«

Die Mutter hatte ihre Handarbeit fortgelegt. Sie war auf der Veranda auf- und abgeschritten, während Hans zu ihr sprach.

Jetzt stand sie still. Sie blickte wieder in die Ferne, auf die dunkle Silhouette des in den Himmel steigenden Kamerungebirges.

»Vielleicht werden wir die Reise noch eher antreten, als wir es alle vermuten.«

Man merkte Tränen in ihrer Stimme, als sie abgewandt, diese Worte sprach.

Hans hatte den Kopf erhoben. Sie stand abseits. Doch seinem scharfen Blick entgingen die Tränen nicht, die langsam über die Wangen rollten.

Flugs war er aufgesprungen und bei ihr. Er umschlang die Weinende.

»Was hast du, Mütterchen? Warum weinst du? – Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?

Oft hast du es schon getan. Willst du es nicht auch heut aussprechen, was dich weinen macht?«

Frau Marie-Luise hatte sich bald wieder gefaßt. Sie zog ihren Liebling an sich und beruhigte ihn mit den Worten:

»Es ist nichts. Wirklich nichts, Hans. Es ist ein unbestimmtes Gefühl, das mich seit einiger Zeit bedrückt. Und auch Vater leidet unter einem solchen Druck, ohne daß er das Gefühl genau bestimmen oder sagen könnte, wann das Unheil, das sich über uns zusammenzuziehen scheint, losbrechen würde.«

Hans blieb sinnend stehen.

»Ein Unheil? – Von welcher Seite könnte das wohl kommen?« –

Er riet hin und her. – Ob etwa die Dualla oder Bakoko einen Aufstand planen? Ob man dergleichen gehört hätte? – Oder ob die schwarzen Händler dem Vater Schaden zugefügt hätten?

Frau Marie-Luise wollte das junge Gemüt nicht beunruhigen. Sie wußte, wie sehr er sich alles zu Herzen nahm. Sie fürchtete, daß seine ohnehin nicht sehr starke Gesundheit Schaden nehmen könnte.

»Nichts dergleichen, mein lieber Hans. Du kannst ganz beruhigt sein. – Vielleicht ist bei mir wieder das Fieber im Anzug. Und da weißt du ja, daß es sich bei mir schon durch Verstimmung und Unruhe ankündigt.«

»Du sagtest doch aber, auch der Vater leide unter einer solchen seelischen Verstimmung?«

»Beim Vater ist es wohl etwas anderes. Du mußt nämlich wissen, daß schon zweimal das Dampfschiff ausgeblieben ist, und mit ihm die Post. Vater erwartet aus Deutschland Briefe.«

»Wenn's weiter nichts ist ... Dann werden die Briefe eben mit der nächsten Post kommen.«

»Nun also. Da siehst du, wie unnütz deine Sorge ist. – Komm, mein Junge, und lies mir noch eins deiner schönen Gedichte vor.«

Der Knabe setzte sich wieder an den Tisch und las.

Anfänglich hatte sie versucht, einen Stich an der Handarbeit zu machen. Die Worte des Dichters hatten aber ihr völliges Interesse erweckt. Sie legte die Arbeit auf den Tisch und hörte mit großer Aufmerksamkeit zu:

»Es muß in Sternen stehn geschrieben,
Daß Deutschland nicht darf untergehn,
Der Gott der Völker muß uns lieben, –
Sonst wär' es längst um uns geschehn.
Mein Volk, nicht rückwärts darfst du schauen,
Daß Gram dir nicht das Herz verzehrt:
Nein, vorwärts, und auf Gott vertrauen
Und auf dein Recht und auf dein Schwert.«

Hans hatte sich in Eifer gelesen und die letzten Zeilen mit Kraft und Betonung gesprochen.

Frau Marie-Luise hatte jedes kraftvolle Wort mit einem Faustschlag durch die Luft begleitet.

»Das sind herrliche Worte«, rief sie jetzt, als Hans geendet hatte, aus. »Ja, ja, so wollen wir's auch halten. Nicht wahr, mein Junge? ›Vorwärts und auf Gott vertrauen, auf unser Recht und unser Schwert!‹«

Die Sonne war hinter schweren Wolken verschwunden. Obgleich es noch nicht Abend war, hatte sich eine graue Dämmerung über Wald und Feld gelagert. Die Gipfel des Kamerungebirges waren in Nebel und Wolken völlig verschwunden.

Immer dunkler und unsichtiger wurde die Luft.

Amba, der schwarze Koch, lief eilig an der Veranda vorüber.

»Amba! Was hast du? Was gibt es?« rief Hans dem Davoneilenden zu.

»Wird schlimmes Wetter geben! Amba schließt Hühner ein und Ziegen. – Amba sieht nach, ob Schweine im Stall sind. – Wird viel schlimmes Wetter, junger Herr!«

Man hörte noch den Schwarzen eine Weile rufen und schreien, offenbar trieb er die Tiere in ihre Behausung. Dann lagerte wieder die graue, unheimliche Stille über allem.

Die Dunkelheit hatte noch mehr zugenommen. Ein scharfer Wind hatte sich jetzt aufgetan. In pfeifenden, kurzen Stößen fuhr er durch die Kronen der Palmen. Dann trat wieder eine beklemmende Stille ein, – die Stille vor dem Sturm.

Hans hatte den Stuhl neben den seiner Mutter gerückt. Beide saßen jetzt dicht beieinander, Hand in Hand. Sie blickten in die immer unheimlicher werdende Dunkelheit.

Mutter und Sohn schauten über die Veranda in die immer schwärzer werdende Landschaft. Auf ihren Gesichtern stand Angst und Sorge.

Da ließ sich mit einemmal neben den zu Tode Erschrockenen eine sonore Stimme vernehmen:

»Bitte um Entschuldigung, wenn ich störe.«

Frau Petersen hatte vor Schreck laut aufgeschrien. Sie war aufgesprungen und hatte, wie zur Abwehr, angsterfüllt die Hände erhoben. Hans war wie zum Schutze vor sie hingetreten.

»Oh, oh! – hat Sie mein Kommen so erschreckt, gnädige Frau? Das tut mir aber leid. Ein schweres Wetter in Sicht. Kann jede Minute losbrechen. Da dachte ich, wirst nicht erst den Umweg um die große Besitzung machen, – hab' den Weg abgekürzt – –«

»Sie, Mister Northcliff?! Gott, bekam ich einen Schreck. Ich habe Sie ja gar nicht hereinkommen sehen. Wie kamen Sie denn hier ins Haus?«

»Sehen Sie, das ist gar nicht so schwer. Aus reiner Bequemlichkeit zog ich mich an einer der Palmen, die an Ihrem Zaune hinter dem Wellblechmagazin stehen, in die Höhe, dann stand ich auf dem Dach des Magazins. Mit einem Satz meiner langen Beine war ich im Hof und sah gerade, wie Amba sein Viehzeug in den Ställen sicherte. Dann kam ich ins Haus über die kleine Treppe, sah in dem Zimmer Ihres Gatten nach, ob er vielleicht zu Hause wäre, dann trat ich hier heraus und – da bin ich.«

Frau Marie-Luise stand noch mit allen Zeichen des Schreckens da. Ihr war die Rede verschlagen. Sie mochte und konnte beim besten Willen die Begründung des langen Engländers für seine plötzliche Anwesenheit im Hause nicht glauben.

Sie hatte von jeher den Menschen nicht leiden mögen. Seine Augen erinnerten an die einer Hyäne. Sein grausames Gebiß an das eines Panthers.

Vor einem Jahre war er plötzlich in der Kolonie aufgetaucht. Keiner wußte recht, woher er kam. Einige Kaufleute, die sie deswegen befragte, meinten, er käme aus Amerika oder England. Andere wieder wollten ihn in Kapstadt gesehen haben. Was er eigentlich in der Kolonie trieb, war nicht völlig zu ergründen. Er sprach stets von Geschäften und vom Export von Landesprodukten, die er nach Kapland, Australien und auch direkt nach London verschiffen wollte. Aber bisher hatte noch keiner recht die Ballen, Kisten oder Fässer gesehen, die der seltsame Engländer verfrachtet oder zum Versand gebracht hatte. Man sah ihn immer, die Büchse über die Schulter gehängt, in allen Orten von Kamerun auftauchen. Bald hatte er auf der Faktorei etwas zu erfragen, bald zechte er im Hafen von Duala mit den Kaufleuten und Farmern. Und immer fand er sich bereit, auch ohne Aufforderung, die Zeche, die mitunter eine erhebliche Höhe erreichte, zu zahlen. Man konnte auf den Gedanken kommen, Mister Northcliff wollte mit aller Absicht sich dadurch Freunde machen.

Von seinen Jagderlebnissen wußte er gelegentlich die Hörer zu unterhalten. Bald wollte er Elefanten weit hinten im Grasland erlegt haben, bald in den Urwäldern des Kamerungebirges auf Leoparden gepirscht oder Krokodile zur Strecke gebracht haben. Er verschwand auf einige Wochen, um dann plötzlich wieder aufzutauchen, in den Faktoreien herumzulungern oder in einem Kanoe Fluß auf und Fluß ab zu fahren.

Zuerst entstand ein großes Gerede in der Kolonie, man deutete seinen Aufenthalt bald in günstigem, bald in ungünstigem Sinne. Aber niemand konnte ihm etwas Unrechtes nachweisen. Da, wo er hinkam, entstand gleich eine Zecherei, die auf seine Kosten ging. Daran schloß sich zumeist ein Spiel, und der Klatsch wußte bis zur Küste hinunter, daß Mister Northcliff sich nur dumm stelle, um jeden seiner Partner einmal gewinnen zu lassen. Zumeist aber sei ihm im Spiel das Glück hold. Einige sprachen was von Falschspielen.

Etwas Wahres mochte an dem Gerede sein. Der Engländer verfügte über große Summen, die er bald an der Küste, bald weiter im Lande drinnen verausgabte.

Da entstand einmal das Gerücht, keiner wußte, wo es herkam, Northcliff sei ein Abenteurer und in allen Spielhöllen zu Hause. Zuletzt habe er in Neuyork durch falsches Spiel große Summen gewonnen, sie dann aber wieder verloren. Und als man ihm auf die Schliche kam, hatte er es vorgezogen, den Schauplatz seiner Tätigkeit auf einen anderen Erdteil zu verlegen.

Schließlich munkelte man noch, er erhielte oft aus London und Neuyork Briefe und Geldbeträge.

Böse Zungen wollten aus diesem Umstande schließen, Northcliff sei ein bezahlter Spion der englischen Regierung, um den deutschen Handel auszuspionieren und die Liste der deutschen Kunden.

Was förderte der Klatsch in den Kolonien nicht alles zutage!

Wenn man einmal eine Zeitlang seinen Nächsten durchgehechelt hatte, dann begrüßte man die Abwechslung im täglichen Einerlei der angestrengten Arbeit, wenn es dann wieder über einen andern hergehen konnte. Allzu viel würde weder auf die eine, noch auf die andere der losen Reden gegeben. So schnell wie eine Rede entstanden war, so rasch wurde sie wieder vergessen.

Und so hatte man sich auch mit der Zeit an den langaufgeschossenen Mister Northcliff gewöhnt. Es wurde nicht mehr nach seinem Woher und Wohin gefragt. Er war keinem etwas schuldig, gab reichlich Geld aus und wußte trotz seiner Wortkargheit immer einen neuen Witz zu erzählen. Und da er auf Form hielt, so war er allenthalben wohlgelitten. Man ließ ihn seinen unbekannten Geschäften nachgehen und bestaunte oder belachte seine Jagderlebnisse.

Sehr wenige hatten Zeit oder Lust, die zwei Stunden von Batanga entfernte Hütte Northcliffs zu besuchen. Einer oder der andere, der in der abseits vom Wege gelegenen Hütte einmal eingekehrt war, berichtete ziemlich enttäuscht darüber.

Die Hütte hatte er von Eingeborenen, nach dem Muster ihrer eigenen Hütten, errichten lassen. »Billig und schlecht« lautete das Urteil. Sie bestand aus einem etwa fünf Meter langen und vier Meter breiten Raum mit einem simplen Lager und einem primitiven Kochherd. Überall hingen und lagen Jagdtrophäen. Was er an Konserven, Munition, Kleidungs- und Ausrüstungsstücken brauchte, das kaufte er alles in einer oder der anderen deutschen Faktorei. Er feilschte nicht. Man konnte fast auf die Vermutung kommen, es wäre ihm angenehm, jeden Preis zu zahlen. Und wenn jemand seiner Verwunderung Ausdruck gab, warum er so ohne jeden Komfort, fast wie die Neger, eingerichtet wäre, dann sagte er: »Was wollen Sie? Ich bin ein Junggeselle. Wenn eine Frau im Hause wäre, dann würde es anders sein. So aber bin ich fast immer unterwegs. Jagd und Geschäfte führen mich in der Kolonie umher. Ich schlafe in der Steppe oder in den Hütten der Eingeborenen oder nächtige bei einem der vielen Freunde, die ich hier habe. Was soll mir da ein komfortabel eingerichtetes Haus? Und lange gedenke ich sowieso nicht in Kamerun zu bleiben. Ich bin ein unruhiger Geist. Vielleicht, wenn es mir einfällt, bin ich schon im nächsten Monat wieder unterwegs. Mein Schicksal ist, ruhelos von einem Kontinent zum andern wandern.«

Das klang plausibel.

Bei dem Bescheide mußte sich jeder neugierige Frager beruhigen.

Frau Petersen mochte sich dem allgemeinen Urteil über den Engländer nicht anschließen. Vom ersten Augenblick an, als ihr Mann ihn ins Haus brachte, empfand sie einen starken Widerwillen gegen ihn. Sein Benehmen war korrekt geblieben. Aber sie wurde bei seinem Anblick eine heimliche Furcht nicht los. Das wurde auch nicht anders, als Northcliff eines Tages ihren Hans von einem Ausflug ins Haus brachte, bei dem der Junge beinahe zu Tode gekommen war.

»Hier bringe ich Ihren Liebling, Frau Petersen. Wenn ich nicht dazu gekommen wäre, hätte ihn ein Krokodil gefaßt.«

Oh, sie erinnerte sich jenes erschütternden Augenblicks noch sehr gut. Und in überquellender Dankbarkeit hatte sie damals die Hand Northcliffs gedrückt. Doch trotz der dankbaren Gefühle, die sie für den Lebensretter ihres Knaben hegen sollte, konnte sie für den Mann mit den kalten, kühl berechnenden Zügen keine Sympathie gewinnen.

Ganz anders war es bei Hans. Er sah in dem fremden Manne, der ihm das Leben gerettet hatte, den Inbegriff aller männlichen Tugenden. Er verehrte in ihm den kühnen Jäger, den sicheren Schützen, seine Kraft, Energie und Ausdauer, die er bei seinen Jagden bekundete.

Als Northcliff durch das nahe Unwetter nun plötzlich auf der Veranda erschienen war, und als Hans sich von dem ersten Schreck, den er gleich seiner Mutter empfand, erholt hatte, begrüßte er ihn zutraulich und freundschaftlich, wie bisher. Auch seiner Mutter blieb nichts anderes übrig, als dem Engländer gastfreundlich zu begegnen.

Doch zu langen Auseinandersetzungen blieb ihr keine Zeit. Das Unwetter war mit aller Macht losgebrochen. Der Himmel hatte sich völlig verfinstert. Auf die pfeifenden, sausenden, kurzen Windstöße folgten jetzt grelle Blitze. Schwer und wuchtig rollte der Donner, und mit elementarer Gewalt öffnete der Himmel seine Schleusen. Die Regenmassen fielen so wuchtig, so massig, daß bald alles, so weit das Auge reichte, unter Wasser stand. Und nun fegte ein furchtbarer Sturm alles vor sich her.

»Ein Tornado!« sprach Mister Northcliff tonlos.

In das unheimliche Sausen des Sturmes brüllte der Donner, leuchteten die Blitze. Und immer gewaltigere Wassermassen stürzte der Himmel herab.

In dem Aufruhr der Natur war es Frau Petersen, als ob sie einen furchtbaren Schrei vernähme. Ganz in ihrer Nähe mußte es sein. Sie entschuldigte sich bei dem Gast und lief durch die zu ebener Erde gelegenen Räume nach der Hofseite hinüber.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Sie sah ein paar Neger, die zu ihrer Dienerschaft zählten, wie sie trotz Sturm und Wolkenbruch über den weiten Hof liefen, durch dessen offenstehende Tür sie verschwanden.

Erstaunt sah sie dem Treiben zu.

Sie brauchte nicht lange zu warten. Die Schwarzen kamen bald zurück. Sie brachten Amba, der vom Sturm durch die Luft geführt und draußen, zehn Meter hinter dem Hause, wieder zur Erde gekommen war. Er war ohne Besinnung. Man wußte noch nicht, ob er sich Arm oder Bein gebrochen hatte.

Länger als eine Stunde hielt dieser mächtige Regen an. Dann wurde der Himmel wieder heller, und so plötzlich, wie das Unwetter aufgetreten war, war es wieder verschwunden.

»So, meine verehrte Frau Petersen, nun will ich mich empfehlen. Ihr Mann wird vom Unwetter irgendwo festgehalten sein. Auf seine Rückkehr werde ich heut doch nicht warten können. Der Lukundje soll mich rasch nach Hause tragen. Mein Kanoe wird hoffentlich der Sturm nicht fortgetragen haben.«

Er trat von der Veranda in den Garten und ließ einen lauten Pfiff ertönen, auf den hin ein schwarzer Boy auf dem Hofe erschien, wo er sich bei den anderen seiner Stammesgenossen aufgehalten hatte.

Mister Northcliff verabschiedete sich von Frau Marie-Luise und Hans. Dann sah man, wie die beiden Männer durch das Wasser wateten, um bald ihren Blicken zu entschwinden.

Kaum eine Stunde später, – die Nacht war schon hereingebrochen, und am Himmel glänzten wieder die blanken Sterne – langte Petersen auf seiner Besitzung an.

»Gottlob, Eberhard, daß du da bist!« begrüßte ihn seine Frau. »Ich hatte mich schon so um dich geängstigt.«

»Du bist und bleibst ein Närrchen mit deiner Angst. Was soll mir denn passieren? Ich habe eine Menge Elfenbein zu billigem Preise gekauft. Ich denke damit ein gutes Geschäft zu machen. Da traf mich das Unwetter, unweit von Vasunga. Ich blieb nun da, bis es vorüber war. Dann machten wir uns auf den Weg.«

Frau Marie-Luise umarmte ihren Gatten wieder und immer wieder. Sie freute sich über alle Maßen, daß ihr Lebensgefährte dem schweren Wetter entgangen und heil wieder zu ihr zurückgekehrt war.

»Was macht Hans?«

»Hans ist schon im Bett. – Er ist ein lieber Junge. Und weißt du, was mich besonders an ihm freut? Er empfindet und denkt gut deutsch. Er ist im Kern ein guter Deutscher. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich darüber freue. Und das alles, trotzdem wir hier draußen in der Wildnis leben, fern von den Einflüssen der deutschen Heimat!«

»Das ist wahr. Ja, ich bin stolz auf diesen Prachtjungen.«

»Und weißt du, was er mir heut sagte? Er habe eine schreckliche Sehnsucht, nach Deutschland zu kommen. Dann hat er mir anvertraut, er war schon oft willens, heimlich auf den Dampfer zu klettern und nach Deutschland zu reisen. Denk' dir nur, den Großeltern in Hamburg wollte er, so mir nichts, dir nichts, einen Besuch machen! Aber er hat sein heißes Verlangen unterdrückt, um – wie er sagt – uns keinen Kummer zu bereiten.«

»Ganz mein Junge«, rief der Vater voll Stolz und Freude. »Aber, liebstes Herz, glaube nur nicht, daß ich vorhabe, bis in alle Ewigkeit hier zu bleiben, weiter Kakao zu bauen, Kautschuk zu fördern und weiter mit Palmöl, Elfenbein und Palmkernen zu handeln. Ich denke, lange genug haben wir uns redlich geplagt, gegen Fieber und Tiere, gegen die Elemente und gegen die wilden Menschen. Nun kann auch einmal ein anderer unsern Platz einnehmen und da weiter bauen, wo wir aufgehört haben. – Du weißt ja, wie glühend ich mich heimsehne. Nach Deutschland steht Tag und Nacht mein Sinn. Und ich arbeite ja, wie du siehst, unablässig, um das Ziel zu erreichen. Gar so weit ab vom Ziele sind wir auch nicht mehr. – Weißt du, wieviel ich jetzt im Eisenkasten, der in meinem Zimmer steht, verwahre? – Ich meine den Erlös für die letzte Ernte und den Verkauf von Kautschuk, Elfenbein, Kakao, Kopal, Palmöl und Kalubarbohnen?«

»Fünftausend Mark? – Sechstausend Mark?«

Petersens Gesicht nahm einen glücklich-freudigen Ausdruck an. Mit geheimnisvoller Miene sprach er dann:

»Du errätst es doch nicht! – Über vierzigtausend bare Mark in gutem deutschen Gold haben wir da drinnen! Dazu kommen noch die Außenstände in der Heimat und das, was wir auf der Reichsbank in Hamburg haben. Mit dem nächsten Schiff schicke ich unsern Goldschatz zu unseren Ersparnissen nach Deutschland.

So, mein Schatz, steht's um uns. Und wenn wir in ein paar Jahren – länger als drei bis vier Jahre gedenke ich nicht hierzubleiben – unser Besitztum mit gutem Nutzen verkaufen, gehen wir schleunigst wieder nach Deutschland zurück!

Du freust dich ja aber gar nicht?«

»Lieber Eberhard, – ich kann mir nicht helfen. Ich werde ein ängstliches Gefühl nicht los, das vorhin schon wieder in mir aufstieg, als plötzlich jener Engländer – du weißt schon, der Northcliff – hier war. Auch werde ich die Angst nicht los, daß man, wenn jemand erfahren würde, daß wir soviel bares Geld im Hause haben, uns bestehlen oder überfallen könnte.«

Der Eheherr lachte. »Du bist und bleibst ein furchtsamer Hase! – Nun, laß gut sein! Ich bin redlich müde. Wir sprechen morgen weiter darüber. – Und was deine Antipathie gegen Northcliff anbetrifft, da weißt du ja, wie ich darüber denke. Ich pflege die Menschen nicht nach äußeren Eindrücken zu behandeln. Der Mann macht übrigens einen durchaus vornehmen Eindruck. Sein Reichtum erlaubt ihm die Müßiggängerei und – wer weiß! – vielleicht ist er der geeignetste Mann, der uns einmal den ganzen Krempel hier abkauft.«

»Das mag alles sein. Mir flößt der Mann eine unerklärliche Furcht ein. Und ich werde das Gefühl nicht los, das mir zuraunt, durch ihn werden wir noch einmal bitteren Kummer erleiden.«

»Sei nicht töricht, liebe Frau. Mister Northcliff hat uns noch keinen Schaden zugefügt. Im Gegenteil. Wir verdanken ihm, daß unser Goldjunge frisch ist und am Leben blieb. Du weißt, ein wie dankbares Gemüt ich bin. Der Mann ist absolut harmlos. Ich vertraue ihm in jeder Weise. – Wenn er wirklich sich über alle Verhältnisse so eingehend zu orientieren sucht und einem das Herz aus dem Leibe fragen kann, so nimmt ihm das keiner weiter übel. Er will sich eben unterrichten und nicht so schlimme Erfahrungen machen, wenn er beabsichtigt, sich hier einmal häuslich niederzulassen. –

Nein, auf Northcliff lasse ich nichts kommen! – Du wirst dich überzeugen, daß deine Befürchtungen ganz grundlos sind, und daß wir durch ihn noch manchen Vorteil haben werden.«– –

Am nächsten Morgen in aller Frühe war Herr Petersen schon an der Arbeit. Der Tornado hatte auch auf seinem Anwesen nicht unbeträchtlichen Schaden angerichtet. Von einem Magazin hatte er das Wellblechdach fortgerissen. Große Wassermengen hatten die aufgestapelten Vorräte zum Teil vernichtet, zum Teil unbrauchbar gemacht. Das Wasser stand meterhoch in dem Raume. Starke Bäume lagen geknickt auf den Wegen, die zu seiner Besitzung führten. Die Wege selbst mußten ausgebessert werden. Überall galt es, bessernde Hand anzulegen.

Seine schwarzen Arbeiter mußten tüchtig heran. Er selbst stand nicht müßig. Er faßte tüchtig zu.

Der Sonnenball glänzte und strahlte in seiner ganzen Pracht, wie am Tage vorher.

Von einer Abkühlung der Temperatur war wenig zu spüren.

Da kam Amba, der sich von seiner unfreiwilligen Reise durch die Luft völlig erholt hatte, angelaufen.

»Herr – im Hause ist ein Mann.«

»Wer ist es? – Was will er?«

»Sagt die Frau, es ist ein Besuch.«

Dem fleißigen Manne war die Störung nicht gerade angenehm.

»Wahrscheinlich ein Weißer, der auf der Reise zur nächsten Station ist und Neuigkeiten bringt!«

Im kühlen Eßzimmer saß ein hochgewachsener Mann mit blondem Bart, der sich beim Eintritt von Petersen sofort erhob und auf ihn zuging.

Frau Marie-Luise war in der Zwischenzeit nicht müßig gewesen. Sie wußte, was sie einem Gastfreunde schuldig war. Ein kühler Trank stand auf dem Tisch, und auch zu einem Imbiß waren bereits die Vorbereitungen getroffen.

In dem dämmerigen Licht, das im Raume herrschte, hatte Petersen den Besuch nicht gleich erkannt.

»Herr Pastor Wilkens, wenn mir recht ist?«

»Ganz recht, Pastor Wilkens.«

»Wir haben uns schon einmal an der Küste kennen gelernt! Seien Sie herzlich willkommen, Herr Pastor. – Bitte, nehmen Sie Platz und erzählen Sie, was Sie zu uns führt.«

»Ich komme aus Duala. Ich war in Kribi, Batanga und bin auf dem Wege nach Sabassi, Ossidinga, Tinto, Bamanda und noch weiter hinein ins Land, wenn Gott mir die Zeit und Kraft gibt.«

In diesem Augenblick kam Hans ins Zimmer.

»Komm, Hans, heiße den Herrn Pastor willkommen!«

Als der Pastor immer noch schweigend dasaß, merkte Petersen, daß er in ganz besonderer Mission gekommen war. Nach einer Weile fragte der Besuch:

»Ich kann doch wohl in der Gegenwart des Knaben sprechen?«

»Das dürfen Sie, Herr Pastor. – Hans ist verständig und, wenn es nötig, auch verschwiegen.«

»So will ich denn, liebe Landsleute, ohne Umschweife zur Sache kommen. Sie haben wohl, mein bester Herr Petersen, schon von den Gerüchten gehört, die seit einiger Zeit in der Kolonie herumschwirren? Ich bin in der Lage, Ihnen etwas Bestimmtes mitteilen zu können. Wir haben Krieg!«

»Krieg? Mit wem?« rief das Ehepaar zu gleicher Zeit.

»Soviel mein Gewährsmann wußte, stehen wir im Kriege gegen unsern alten Erbfeind Frankreich. Auch die Russen und Engländer kämpfen gegen uns.«

Petersen schlug vor Verwunderung mit der Hand auf den Tisch, daß die Gläser in die Höhe sprangen.

»Also Krieg! – Deutschland im Krieg! – Dann, passen Sie auf, dann wird's in den Kolonien auch bald losgehen!«

»So sicher ist das wohl noch nicht. Bis jetzt ist ja alles friedlich geblieben. Da aber zweifelsohne die Engländer die Kabel durchgeschnitten haben, sind wir ohne jede Nachricht. Aus Nigeria ist ein Landsmann im offenen Segler hier herübergekommen, um uns die schlimme Neuigkeit zu überbringen, damit wir uns beizeiten vorsehen und, wenn möglich, in Sicherheit bringen. – Ich habe es übernommen, die deutschen Ansiedler zu benachrichtigen. Treffen Sie also Ihre Vorbereitungen, so gut Sie können. Bringen Sie in Sicherheit, was Sie in Sicherheit bringen können, und bereiten Sie sich auch für den Fall vor, daß Franzosen oder Engländer hier landen sollten.«

»Wie meinen Sie das? – Vorbereiten zum Kampf?!«

»Gott bewahre! Was könnte die Handvoll Deutscher gegen eine große Übermacht ausrichten?! Und auch die paar Mann auf den Militärstationen sind natürlich nicht imstande, das große Gebiet von Kamerun zu schützen. Wir müssen uns alle in unser Schicksal finden, so gut oder schlecht es geht, und dem Heldenmut unserer Armeen in Deutschland das übrige überlassen. Ich setze alle Hoffnung auf unser Heer. Und auf unsere Flotte! Unsere herrliche Flotte!«

Die Wirkung dieser Mitteilung von dem Kriege auf die Familie Petersen läßt sich mit wenigen Worten gar nicht wiedergeben. Sie sahen schon im Geiste die Engländer landen, sie sahen sich schon in eins der fürchterlichen Konzentrationslager geschleppt und ihrer blühenden Pflanzungen, ihrer mit unendlichem Fleiß und Opfern an Geld zur Blüte gebrachten Besitzung beraubt.

»Wenn ich meines Besitztums schon verlustig gehen muß, so sollen sie doch das, was ich hier im Hause aufbewahre, nicht finden.«

»Ich weiß nicht, Herr Petersen, ob es viel nützen wird, Geld oder Geldeswert zu verstecken, da bei einer Verhaftung oder Abführung eine Visitation der Effekten und des Körpers vorgenommen wird. – Verloren ist eben verloren.«

»So ganz möchte ich doch nicht Ihrer Meinung sein, Herr Pastor. Das Gold, das ich mir mühsam erworben habe, möchte ich doch nicht so leichten Herzens aufgeben. – Da fällt mir ein, – Sie kommen von der Küste, Herr Pastor, und wissen sicherlich besser als unsereiner Bescheid über die anlegenden Dampfschiffe. – Daß man auf die deutschen Schiffe nicht zu rechnen hat, ist ja ganz klar. Aber amerikanische oder holländische, meine ich, laufen doch wohl zu bestimmten Zeiten in Duala an?«

»Genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen, Herr Petersen. Mir ist es wohl, als ob in diesen Tagen der ›Washington‹ auf dem Wege nach Neuyork in Duala anlegen muß. – Warten Sie einmal!«

Der Pastor holte aus seiner Brusttasche ein Notizbuch, in dem er eifrig blätterte.

»Sehen Sie, da haben wir's. Der ›Washington‹ läuft Duala am zwanzigsten September an, verläßt es am einundzwanzigsten, fünf Uhr morgens. – Der Einundzwanzigste ist heut.«

»Zu spät also, um noch mitzukommen. Auf andere Schiffe ist nicht zu rechnen?«

»Vorläufig wohl nicht. Aber es ist nicht ausgeschlossen, daß noch einer oder der andere in Sicht kommen wird. – Das einfachste wäre, Sie schnüren Ihr Bündel, wenn Sie fortwollen, reisen an die Küste und halten sich da so lange auf, bis ein Schiff anlegt.«

Petersen war ganz niedergeschmettert von den Nachrichten, die er eben empfangen hatte.

»Und haben Sie nichts davon gehört, ob wir siegen?«

»Lassen Sie mich davon schweigen. Das, was unser Landsmann uns mitteilen konnte, das waren unerfreuliche Dinge, die ich aber nicht glauben möchte, weil er aus französischer Quelle geschöpft hat. –

Meine Herrschaften, so leid es mir tut, – meine übernommene Pflicht drängt, ich muß weiter.«

»Nein, mein lieber Herr Pastor, so kommen Sie nicht fort! – Jetzt, in der großen Glut, können Sie unmöglich weiter. Bleiben Sie über Mittag hier. Ich stelle Ihnen dann mein Boot zur Verfügung. Dann können Sie auf dem Lukundje rascher voran kommen und brauchen nicht in der entsetzlichen Glut zu marschieren.«

»Ich nehme mit Dank Ihre gütige Einladung an.«

Petersen war froh, daß der Pastor blieb. So hatte er wenigstens einen Menschen, mit dem er über die Kriegsmöglichkeiten und Aussichten Deutschlands plaudern konnte.«

»Sehen Sie, Herr Petersen, ich bin seelenruhig. Ich bin von dem endgültigen Siege Deutschlands innig überzeugt. Diese Überzeugung gibt meinem Herzen die Ruhe, die notwendig ist zu den Kämpfen, die für uns hier draußen noch kommen werden. – Oder glauben Sie, daß man uns ungerupft lassen wird? Da kennen Sie unsere englischen Vettern schlecht! Die Engländer sind Räuber, allesamt!«

Da stellte sich Jung-Petersen auf die Füße.

»Entschuldigen Sie, Herr Pastor«, ließ sich Hans bescheidentlich vernehmen. »Ich lasse von den Engländern nichts Schlechtes reden!«

»Oho!« rief der Pastor amüsiert, »junges Deutschland, denkst du so? Ist das deine wahre Meinung?«

»Herr Pastor,« nahm Herr Petersen das Wort, »Sie dürfen das dem Jungen nicht übelnehmen. Viel Engländer hat er ja nicht kennen gelernt. Von dieser Menschensorte kennt er nur einen, den Herrn Northcliff.«

»Ah, den! Jawohl, den kenne ich auch. – Wer sollte den Herrn Überall und Nirgends nicht kennen?!«

»Von diesem Engländer hält mein Junge nun große Stücke. Er verehrt in ihm das Muster aller männlichen Tugenden.«

»Und warum?«

»Das mag er Ihnen selber erzählen! – Sprich, Hans, – erzähle dem Herrn Pastor dein Erlebnis mit Mister Northcliff.«

»Sie müssen erst wissen, Herr Pastor, was mich zur Jagd auf Krokodile veranlaßt hat.«

Herr Petersen unterbrach die Rede seines Jungen mit der Bemerkung:

»Ich möchte Ihnen vorher noch sagen, – Hans ist ein guter Schütze. Ich habe ihm schon von seinem achten, neunten Jahre an eine Büchse in die Hand gegeben, damit er damit umgehen lernt. Denn hierzulande ist es ja von Wichtigkeit, daß jeder mit der Waffe umzugehen weiß, als Jäger, und wenn's sein muß, auch als Kämpfer. Das wollte ich nur vorausschicken und noch dazu bemerken, – er ist im Laufe der Jahre wirklich ein sehr guter, kleiner Jägersmann geworden, der manchen Braten meiner Frau in die Küche geliefert hat. – So, Hans, nun kannst du weiter sprechen.«

»Auf die großen Raubtiere, die wir hier in Kamerun haben, Elefanten, Leoparden und Krokodile, hat mir Vater verboten, allein zu jagen. Ich habe sein Gebot auch stets beachtet, bis zu dem Tage, wo Diseppo und Gobane weinend und jammernd auf den Hof kamen.

Die beiden sind Bruder und Schwester, sehr nette Kinder, die mich oft auf meinen Streifzügen begleiteten. Malanda, ihr Vater, ist schon mehrere Jahre beim Vater tätig. Die Kinder erzählten, daß ihre Mutter eine halbe Meile von hier, da, wo der Kakumi in den Lukundje fließt, von einem Krokodil gefaßt und in die Tiefe gerissen wurde.«

»Ich muß hier noch einmal unterbrechen, damit der Herr Pastor auch Bescheid weiß«, sagte Herr Petersen. »Kakumi nennen die Eingeborenen ein Flüßchen, das nicht tief ist. Nach Regengüssen wird es, wie üblich, zu einem viel Wasser führenden, reißenden Fluß. Unweit davon ist ein Dorf. Bakoko hausen da. Den Schwarzen ist es bequem, ihre Wäsche in dem Fluß, wenn er niedrigen Wasserstand hat, zu spülen. Und sorglos, wie die Leute nun mal sind, gehen sie das Ufer hinunter und in den Fluß hinein. Das hat sich schon manches dieser greulichen Tiere zunutze gemacht, sich auf die Lauer gelegt und seine Beute erfaßt.«

»Ich danke Ihnen für die Aufklärung, Herr Petersen. Wir wollen nun aber Hans weiter erzählen lassen.«

»Diseppo und Gobane hörten nicht auf zu weinen. Sie hatten nun keine Mutter mehr. Und das Schreckliche war, daß sie dabeistanden, als das Krokodil die Mutter am Bein gefaßt hatte und mit ihr im Wasser verschwand. Diesen fürchterlichen Eindruck konnten die Kinder nicht loswerden, überall, auf Schritt und Tritt, begleitete sie das schauerliche Bild, und in ihren Ohren klang der Angstschrei der Mutter.

Ich war von dem Geschehnis ganz niedergedrückt. Ich habe tagelang nicht schlafen können. Mir schmeckte nicht Essen und Trinken. Ich tröstete Diseppo und Gobane, so gut ich konnte. Ich suchte sie durch Geschenke in eine bessere Stimmung zu versetzen. – Es war alles vergebens. Die Kinder weinten und grämten sich. Und wenn sie mich sahen, sagten sie zu mir: ich hätte ein Gewehr, ich solle es ihnen borgen, und wenn ich das nicht wollte, dann sollte ich dem Ungeheuer, das ihre Mutter in die Tiefe riß, den Garaus machen. Anfangs lehnte ich ab. Ich sträubte mich, das Gebot meines guten Vaters zu übertreten, denn ich weiß, daß er aus Fürsorge für mich, mir die Jagd auf die genannten Tiere verboten hatte.

Aber da mir die Kinder immerfort in den Ohren lagen, – auf allen Ausflügen waren sie in meiner Begleitung, im Wald und in der Grassteppe, im Kanoe und auf den Feldern, immer baten sie von neuem, bis ich endlich im stillen beschloß, niemand etwas zu sagen und erst nach vollbrachter Tat zu Haus davon zu reden.

Ich hatte aber noch nie ein Krokodil gejagt. Um mich also einzuschießen, wählte ich eine Stelle, die unterhalb des Kakumi liegt, von der ich oft erzählen hörte und wußte, daß auch dort, wie überall in dem Fluß, es von Krokodilen wimmele. Ich nahm Patronen mit und wanderte durch den Wald, bis ich an das Ufer des Flusses kam. Da wählte ich mir einen dicht am Wasser stehenden Baum aus, mit breit ins Wasser überhängenden Ästen. Von einem dieser Äste aus wollte ich den Tieren zu Leibe gehen.

Wie der Kakumi, so mündet auch dieser Fluß in den Lukundje. Ich konnte von meinem luftigen Sitz den breitfließenden, kaum hundert Meter entfernten Lukundje sehen.

Nun saß ich auf dem überhängenden, breiten Ast. Er knackte wohl etwas, als ich mich drauf schwang. Ich probierte auch, ob er fest genug wäre, um mich zu tragen. Ich hörte es wohl knacken und brechen, – achtete aber nicht darauf, da meine ganze Aufmerksamkeit auf die kleine zutage getretene Sandbank im Wasser gerichtet war, auf der sich ein großes und ein kleineres Krokodil sonnten. Das große Tier, das stand sofort bei mir fest, konnte der Mörder von Gobanes Mutter sein.

Meine Wut und mein Kampfeifer wuchsen bei diesem Gedanken.

Die Tiere hatten gewißlich das Geräusch gehört, das mein Erklettern des Baumes verursacht hatte, über mir kletterten und turnten Dutzende Affen. Vielleicht hielten sie mich für einen Vierhänder. Neugierig sahen die Affen auf den Baumkronen meinem Tun zu. Und auch die Papageien, in angemessener Entfernung, kreischten und schnatterten ungestört weiter. Vermutlich unterhielten sie sich über den Eindringling.

Solange ich auf dem wippenden Zweige ruhig saß, ging alles ganz gut. In dem Augenblick aber, als ich nach der Flinte griff und naturgemäß den Zweig loslassen mußte, geriet ich ins Schwanken. Entweder mußte ich mich mit der Linken festhalten und mit der Rechten zielen und schießen, oder ich legte richtig an, hielt die Büchse mit beiden Händen, dann kam ich in Gefahr herunterzufallen, denn der Zweig war nicht dick genug, sondern eher dünn. Er war aber stark genug, um mich Jungen auszuhalten.

Die Krokodile lagen ruhig da, als hätten sie keinen Feind und keine Kugel zu fürchten. Das Wasser war klar. Ich konnte bis auf den Grund sehen. Steine sah ich liegen und einen Baumstamm, dessen dunkle Umrisse ganz deutlich zu sehen waren.

Ich hatte eins von Vaters Gewehren mitgenommen, da das Kaliber meiner Büchse für die Jagd auf so großes Wild zu klein war.

Ich hielt die Büchse in der rechten Hand. Langsam löste ich meine Linke von dem Ast. Den Ast hatte ich zwischen den Beinen. Ich ritt also sozusagen auf ihm. Vorsichtig brachte ich die Büchse an die Schulter. Doch da spürte ich, daß ich etwas schwankte. Ich griff mit der linken Hand zu und saß wieder sicher. Ich rückte ein wenig rückwärts an den Stamm, der meinem Rücken einen besseren Halt gewährte.

Ich probierte, – und wirklich, ich saß fester.

Als ich wieder ins Wasser sah, war der Baumstamm, oder das, was ich dafür hielt, verschwunden.

Sollte ich mich so getäuscht haben?

Doch da war der ›Baumstamm‹ wieder. Ein Krokodil war's, das mich wohl auf meinem schwanken Sitz bemerkt haben mußte und nur auf den Augenblick wartete, wo ich abstürzte, um mich dann freundlich in Empfang zu nehmen.

Den Gefallen werde ich dir nicht tun, dachte ich bei mir. Bleib' nur ruhig liegen, ich habe noch Patronen genug. Und wenn ich den Räuber von Gobanes Mutter erledigt habe, dann sollst auch du drankommen.

Ich hob das Gewehr, legte an, – zielte sorgfältig, – und zog ab.

Auf den Donner des Schusses stoben schreiend und kreischend die Affen davon. Die Papageien flatterten fort, und auch die beiden Krokodile waren von der kleinen Sandbank verschwunden. Offenbar hatte ich nicht getroffen.

Da ich mit so großkalibrigen Patronen noch nicht viel geschossen hatte, so war der Rückschlag des Gewehrs ein erheblicher. Und es hing nur an einem Haar, da wäre ich herunter- und ins Wasser geplumpst.

Auch das Krokodil, das ich anfangs für einen ins Wasser gefallenen Baumstamm hielt, war fort.

Ich wartete in Geduld, bis sie wieder zum Vorschein kommen würden.

Allmählich kehrte mit der Ruhe auch die Schar der Affen wieder zurück. Und nach einer halben Stunde geübter Geduld sah ich, wie eins der scheußlichen Krokodile vorsichtig seinen entsetzlichen Kopf aus dem Wasser steckte. Es tauchte unter, um an einer anderen Stelle wieder zu rekognoszieren. Und ich hatte die Freude, es bald langsam und schwerfällig wieder auf die Sandbank kriechen zu sehen.

Noch ehe es ganz aus dem Wasser heraus war, legte ich an. Und diesmal hatte ich getroffen! Dicht neben dem Auge war die Kugel eingedrungen. Die Schweißspur, die auf dem Sande zurückblieb, und das Wasser, das sich nach dem Verschwinden des Tieres färbte, zeigten mir, daß ich getroffen hatte.

Auf das Krachen des Schusses machten die Affen und Papageien einen Heidenlärm. Und auch im Wasser begann es unruhig zu werden. Es dauerte gar nicht lange, da tauchte der greuliche Kopf eines Krokodils wieder auf, um bald wieder zu verschwinden. Weiter unten, zum Lukundje zu, zeigten sich mehrere der Reptilien. Da sah ich auch ein Boot gegen die Strömung langsam den Lukundje hinaufrudern.

Was jetzt folgte, geschah ganz rasch, viel rascher, als ich es hier sagen kann. Ich hatte mich auf dem Geäst schon zu sicher gefühlt und ganz vergessen, daß der Ast, als ich hinaufbalancierte, schon mehrfach geknackt hatte. Ich vergaß auch, daß ich auf dem dünnen Ast keine Turnkünste machen durfte. Der provisorische Sitz war nur ein kleiner Notbehelf, um möglichst sicher zum Schuß zu kommen.

Dicht unter mir wurde es im Wasser lebhaft. Dicht unterm Baum kam eine dieser Echsen zum Vorschein. Sie zog den großen beschuppten Leib ans schmale Ufer. Da blieb das Tier liegen.

Mir lief es eiskalt über den Rücken. Wenn ich jetzt eine einzige ungeschickte Bewegung mache, dachte ich, dann purzele ich direkt ins Wasser. Daß es alsdann um mich geschehen war, war mir völlig klar. Die Nähe des Krokodils unter mir wurde mir unheimlich. Ich hatte jede Lust an der Schießerei verloren. Ich hängte mir die Büchse auf den Rücken und beschloß, mich auf dem kürzesten Wege wieder in die Büsche zu schlagen.

Aber um von meinem schwankenden Sitz fortzukommen, mußte ich eine Wendung vollführen. Ich mußte aus meiner Reitstellung in Quersitz gehen.

Gesagt, getan. Kaum hatte ich das Bein herübergezogen, und war im Begriff, mit der rechten Hand nach dem Stamm zu fassen, da brach der Ast unter mir. Ich glitt von ihm ab. Alles Blut drang mir zum Herzen. Ein eisiger Schreck überlief mich. Ich wußte, nun war's mit mir vorbei.

In meiner Todesnot griff ich um mich, konnte aber nur den zerknickten Ast, auf dem ich gesessen hatte, erfassen. Daran hielt ich mich mit beiden Händen fest. Ich wagte nicht, unter mich zu blicken. Ich sah nicht aufs Wasser, ich sah nicht auf die große Echse, die vorhin unter den Baum gekrochen war. Wenn mir ein solcher Tod bestimmt war, dann wollte ich das gräßliche Grab nicht erst sehen.

Mit dem Aufgebot aller Lungenkraft schrie ich ›Hilfe! Hilfe!‹

Kalter Schweiß drang mir aus allen Poren. Ich war schon fast ohne Besinnung. Denn ich sagte mir, lange kann die Qual nicht mehr dauern. Gar so lange wird dich der Aststumpf nicht mehr halten.

Jede Bewegung erweiterte den Bruch im morschen Holz und brachte mich dem Absturz näher. Wenn Hilfe kommen sollte, so mußte ich möglichst still in der Lage bleiben und jede Bewegung vermeiden.

Ob ich eine oder zwei oder mehrere Minuten lang Hilfeschreie ausgestoßen hatte, weiß ich nicht. Die Zeit, die ich an dem Ast über dem sicheren Grabe hing, wurde mir zur Ewigkeit.

Da – endlich! – traf mein Ohr ein Laut, der mir Hilfe verhieß.

›Hallo! Hallo!« rief eine Stimme.

Ich öffnete jetzt die Augen. Da sah ich ein Boot vom Lukundje in den Wasserarm einbiegen.

›Gott steh mir bei!‹ rief ich und bat aus tiefster Inbrunst zum Schöpfer aller Dinge, ›laß mich nur solange noch aushalten, bis das Boot in der Nähe ist.‹

Jetzt, als ich den Retter sich mir nähern sah, verdoppelte ich meinen Angstruf. Ich wandte den Kopf und sah, wie der schwarze Boy aus allen Leibeskräften paddelte und wie das Boot auf mich zu trieb.

Vorn im Boot kniete ein weißer Mann. Er hatte die Büchse an der Wange.

Er schoß. Der Schuß hatte mich mächtig erschreckt. Ich mußte wohl eine zu starke Bewegung gemacht haben. Ich plumpste herunter, ins Wasser. Doch im selben Augenblick war das Boot dicht bei mir. Der weiße Mann sprang, ohne sich zu besinnen, ins Wasser und zog mich heraus. Und als ich meine Augen aufschlug, lag ich gerettet im Boot. Neben mir saß – Mister Northcliff.

Ihm habe ich mein Leben zu danken. Und in ihm verehre ich nicht bloß meinen Lebensretter, – ich verehre in ihm das Muster eines Engländers, eines vornehmen Gentleman. Und darum mußte ich Ihnen, Herr Pastor, das sagen, damit Sie nicht schlecht von dem Manne sprechen, der sich so tapfer benahm und dem ich mein junges Leben verdanke.«

»Nun, nun«, sagte Pastor Wilkens. »Die Tat des englischen Herrn ist ja sicherlich sehr anzuerkennen. Aber meinst du nicht, mein lieber Hans, daß jeder Deutsche, überhaupt jeder Weiße, der in der Nähe gewesen wäre, ebenso gehandelt hätte? – Von den Schwarzen will ich absehen. Die sind furchtsam. Ja, die sind oft sehr feig. Aber auch ein Schwarzer, wenn er Waffen zur Hand hat, würde den Versuch gemacht haben, das Untier, das dich bedrohte, zu verscheuchen.

Ob dein Lebensretter von der Spezies Engländer eine rühmliche Ausnahme macht und eine Zierde der weißen Menschen ist, vermag ich nicht zu sagen. Du bist aber schon hübsch groß, mein lieber Hans, um die Augen und Ohren aufzutun. Es wird darum notwendig sein, daß du da deine Vorliebe für die Engländer durch die vielleicht rühmenswerte Ausnahme in etwas korrigierst. Du wächst heran und die Vorurteile wachsen mit. Damit du später nicht an Leib und Leben erfahren sollst, wie wir Deutschen die Engländer einzuschätzen haben, will ich auf der Rückreise zur Küste noch einmal hier vorsprechen. Dann wollen wir uns hübsch zusammensetzen in einem traulichen Winkel, und da will ich dir auch etwas erzählen.

Mein Bericht wird dich lebhaft interessieren, weil er aus historischen Tatsachen besteht, vor deren Gewalt sich dein junges Herz wird beugen müssen. Vielleicht wird dir meine Erzählung anfangs nicht gefallen. Dann magst du sie dir merken und dich ihrer immer erinnern, wenn du mit Engländern in Berührung kommst. Vielleicht wirst du dann deine Anschauungen etwas korrigieren. Jedenfalls aber wirst du, eingedenk meines Vortrages, vor Schaden und bitterem Herzeleid bewahrt werden. –

Doch genug, – du lebst zur Freude deiner Eltern. Und hoffentlich wirst du einst ein tüchtiger Soldat, auf den die deutsche Armee mit Stolz und Freude blicken wird. Das wünsche ich dir von Herzen, mein lieber Junge.«

Der Pastor reichte ihm die Hand und so schieden sie als gute Freunde.

Als die Zeit gekommen war, gab Herr Petersen dem Landsmanne noch ein Stück das Geleite.

Dann kehrte er sorgenvoll in sein Haus zurück, um über die politische Lage und die sich daraus ergebenden Folgen mit seiner Ehefrau zu beraten.


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