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Herzen und Masken.

Auf dem Weidenbusch besuchten Fritz und Elsalutz eines Mittags die Gabelschwanzraupen. »Sehen Sie,« sagte die Große, »seit die schamlosen Weidenbohrer ausgewandert sind, befindet sich unser Besitztum in besserer Verfassung.«

Das sah Fritz natürlich. Aber er schrieb es dem erfrischenden Regen zu, der eine Woche lang gefallen war. »Wo haben Sie sich denn aufgehalten bei dem schlechten Wetter?« fragte die behäbige Klara, die neulich die Peitsche gegen den lieben Augustin erhoben hatte.

»Wir haben eine sehr praktische Notstandswohnung im Steinbruch gemietet …«

»Nicht ungefährlich, lieber Freund,« warnte Klara, »der Steinbruch gewährt allerhand Gesindel Obdach!«

Fritz aber war durch mancherlei Erfahrungen gewitzigt. Zuerst hatten sie freilich einen senkrechten Spalt in jener Wand bezogen, die lotrecht bis zum Teiche hinabfiel. Dort regnete es durch das Dach, das von einer Grasnarbe gebildet wurde. Dieses Übelstandes wegen zogen sie einige Stockwerke tiefer. Aber es tropfte auch dort hindurch und lief an den Wänden herunter. Deshalb war diese Unterkunft von niemandem sonst gewählt worden. Nur die silbernen Bahnen einiger Nacktschnecken zeigten an, wer hier die trockenen und heißen Sommertage verbracht hatte. Zum Glück lief gleich nebenan ein Querspalt durch den Fels. Der war so eng, daß die hochgestellten Flügel von Fritz und Elsalutz durch die Decke ganz herabgedrückt wurden. Da sahen sie beide aus wie die Blüten der Nachtkerze, wenn die sich vor der Sonne schlossen – sahen aus wie zwei gelbe Röhren, die kaum dicker waren als ihr Leib. Das war ein wenig unbequem, wurde aber reichlich aufgewogen durch die unbedingte Sicherheit der Wohnung: denn eine Fledermaus konnte durch die schmale Tür nicht hereingehen. »Wir haben uns da sehr wohl gefühlt,« bemerkte Fritz …

»… Gehen Sie gefälligst sofort Ihrer Wege, oder ich hole die Peitsche!« rief die behäbige Klara plötzlich in tiefer Entrüstung.

»Warum sind Sie denn so aufgebracht?« fragte Elsalutz erstaunt. »Mein Mann hat Sie doch mit keinem Worte beleidigt!«

»Ich meine ihn ja auch gar nicht,« entgegnete Klara. »Da ist wieder solch eine tückische Schlupfwespe! Sie ist eine Schwester von Else und heißt Niddy. Ich habe sie schon einige Male fortgewiesen. Zuerst hatte sie nämlich Absichten auf mich. Jetzt umschwirrt sie meine Schwester Wera.«

Wera wedelte schon mit den beiden roten Peitschen, die sie aus ihrer Schwanzgabel hervorschoß. Aber wie ein singendes Sternblümchen stand Niddy dicht über ihr in der Luft und tanzte so geschickt auf der gleichen Stelle – man konnte meinen, sie sei gar nicht lebendig, sondern ein kleines dunkles Mal auf dem strahlenden Antlitz des Tages. Nur der seidene Feinklang ihrer Flügel verriet sie.

»Verstellen Sie sich nicht so,« rief Klara. Aber Niddy kehrte sich nicht daran. Sie wollte offenbar ausprobieren, wessen Aufmerksamkeit am längsten dauerte, und sich im günstigen Augenblick auf Wera stürzen.

»Da muß ich mich doch ins Mittel schlagen!« rief sie und ging über eine schmale Brücke. »Ich möchte ein Wort mit Ihnen sprechen,« sagte sie während ihrer Wanderung zu Niddy, »es ist wichtig.«

Niddy stand unentwegt in der Luft; vielleicht war sie inzwischen dem Leibe Weras schon um eine Kleinigkeit nähergerückt. Fritz und Elsalutz wurden sehr neugierig; sie ahnten nicht, daß Klara noch eine andere Waffe hatte als die roten Peitschen, mit denen sie immer nur drohte, aber nie schlug. »Sehen Sie mal, kleine Niddy,« begann sie in liebenswürdigstem Tone, »wir haben doch jetzt August – gedenken Sie uns auch fernerhin mit Ihren Besuchen zu beehren? Ach so, Sie hören nicht, weil Sie mit den Flügeln eine so schöne Musik machen! Na, dann kommen Sie mal her! Ich tu' Ihnen nichts! … Schwapp, da hast du eine!«

Klara hatte den Oberkörper – scheinbar liebevoll – emporgerichtet … Auf einmal sprang aus einer Öffnung unter ihren Freßzangen ein wasserheller Strahl. Der traf Niddy nicht nur mitten ins Gesicht, sondern er goß sich auch über ihre gläsernen Flügel. Ein beißender Geruch erfüllte die Luft, und die arme Niddy klebte rücklings auf einem Weidenblatt! Ihre lustigen Schwingen waren unbrauchbar geworden. Sie wollte ihren Mund von dem ekelhaften Spritzsaft befreien, aber hilflos lag sie da, eine besiegte Kämpferin!

Inzwischen hatte sich Wera umgewendet und biß ihr den Kopf ab.

»Warum haben Sie sich denn nicht selber auf diese Weise geholfen?« fragte Elsalutz.

»Ich habe vor einigen Minuten schon eine andere getötet,« antwortete Wera, »und habe keine Spucke mehr. – Und da sagen die Müßiggänger, die bei uns einkehren, wir seien ein wehrloses Geschlecht!«

»Was ist denn das für ein Saft, mit dem Sie spritzen?« forschte Fritz.

»Wasserfreie Schwefelsäure!« sagte Klara in einem Ton, als müsse diese einfach nüchterne Tatsache jedem Gebildeten bekannt sein. »Ich kann an einem Tage mindestens fünf Schlupfwespen damit zur Strecke bringen,« erklärte sie, »deshalb kommt es auch selten vor, daß jene Schmarotzer bei uns zum Ziele gelangen.«

Die Raupe eines Ahornspinners spazierte rasch an einem Weidenzweige daher. Sie trug ein zitronengelbes Kleid aus feinster Wolle mit feuerroten Borstenbüscheln. Die züngelten aus ihrem Rücken hervor wie Flammen. Auch über ihr schwebte eine Schlupfwespe. Die Spinnerin lief so schnell, um das Wespchen davon zu überzeugen, die roten Borstenbüschel seien wirkliche Flammen; denn über dem raschen Lauf loderten sie gefahrdrohend gegen die Verfolgerin empor. Die aber war so scharfsichtig, daß sie sich von dem falschen Feuer nicht täuschen ließ. »Ach bitte, spritzen Sie mal, liebe Freundin Klara!« bat die Ahornspinnerin.

Da mußte die dritte der Gabelschwanzraupen einspringen. Die gelbe Spinnerin erreichte diese mit knapper Not. Dann aber traf die Verfolgerin ein vernichtender Strahl. »Ich danke Ihnen tausendmal,« sagte die Gelbe. »Ich kann ja fürchterlich brennen mit meinen Feuermaschinen – aber nur wenn sie berührt werden, etwa von einem Menschen oder von sonst einem groben Gesellen. Gegen diese Speerträgerinnen nützt mir die Einrichtung leider recht wenig.«

Lutz, der Igel, der einen unzeitigen Gang über Land zu machen hatte, ging unten vorüber. Und weil er wußte, daß auf dem Weidenbusch immer jemand saß, den er verzehren konnte, pochte er einige Male kurz gegen die Ruten. Die Anwesenden hielten sich fest. Aber ein paar schlummernde Eulen versahen es dennoch und fielen hinab. Der Igel war rasch zur Stelle, trotz seiner krummen Beine. Er fand sie alle und knackte sie – bis auf eine. Die war auf einen großen Stein gestürzt; den konnte er nicht übersehen. Natürlich rührte sie sich nicht, während der Igel in der Nähe war, und lag auf dem Rücken, als hätte sie sich zu Tode gefallen.

Lutz trollte von hinnen. Als die Luft wieder rein war (was in diesem Falle wörtlich zu nehmen ist), stellte sich die kleine Eule auf ihre Beine. Aber der Tag schien ihr so hell in die Augen, und der Schlaf lag ihr als eine süße Trunkenheit in den Gliedern. Zu allem war der Stein, weil ihn der Weidenbusch nicht beschattete, wie ein glühender Rost. Auch war es durchaus nicht nach dem Geschmack der Eule, sich auf dem kleinen Felsen den Blicken vieler preiszugeben. »Man weiß nie, was passieren kann,« sagte sie.

Die Gabelschwänzin war nicht sehr gut auf sie zu sprechen; denn als die Queckeneule noch eine Raupe gewesen war, hatte sie ihr die zartesten Blättchen vor der Nase weggegessen. »Gefällt es Ihnen nicht da unten?« rief sie höhnisch hinab.

»Ich kann mir etwas Hübscheres denken,« antwortete die Eule. »Ich glaube, der Stein glüht. Das möchte noch angehen – wenn ich nur sehen könnte! Ich bin wie geblendet. Und meine Flügel sind so schön schlaftrunken – ich mag das angenehme Gefühl nicht durch ein Aufgebot von Willen verscheuchen.«

»Da wenden Sie sich wohl am besten an die spanische Fliege,« rief die Gabelschwänzin, »die ist ja berühmt wegen ihrer Zugkraft!« Es war ein sehr billiger Witz, den sie sich leistete.

Aber die Eule verstand ihn nicht. »Liebe Nachbarin Lytta!« rief sie der spanischen Fliege zu, die nicht fern von ihr auf einem Weidenblatte saß, »würden Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit haben, mich aufzuziehen?«

Lytta war sehr scharf und verstand durchaus keinen Spaß, wenn er die ihr innewohnenden Kräfte betraf. »Was soll denn das heißen?« fragte sie strafend. »Machen Sie mich etwa zu Ihrem Spotte?«

Dieser Unterhaltung hatte eine Kreuzspinne mit großem Interesse gelauscht. Sie tat so, als spreche die spanische Fliege, und sagte: »Na, ich will bei Ihnen mal eine Ausnahme machen, Nachbarin Queckeneule; aber ich erwarte, daß Sie sich in Zukunft anständig gegen mich benehmen.« Von der Zweigspitze, die senkrecht über dem Steine schaukelte, ließ sie sich an einem Seil hinab.

»Wo sind Sie denn?« fragte die Eule und tastete mit den Fühlern in der Luft. »Sie riechen ja gar nicht nach spanischer Fliege … Und was machen Sie, um Gottes willen?«

»Na, wenn ich Sie aufziehen soll, muß ich Sie doch zuerst anseilen! Sooo! Sehen Sie, jetzt sind wir schon fertig!«

Dabei schlang die Kreuzspinne ihre klebrigen Fäden um sie, bis sich die Eule nicht mehr rühren konnte. Noch ahnte sie nichts Böses. »Nun verhalten Sie sich aber ruhig,« mahnte die Kreuzspinne, »denn jetzt kommt für mich das Schwerste und für mein Seil eine gefährliche Belastung!« Dabei hing sie sich vor die Eule an ihren Spinnenfaden und kletterte daran in die Höhe. Weil sie diesen Faden, der vor ihr lag, dabei um ihre Beine wickelte, ward er immer kürzer.

Für die Zuschauer im Weidenbusch war das ein seltenes Ereignis. Es sah aus, als ziehe die Spinne einen grauen Wagen, an den sie sich angesträngt hatte, steilrecht durch die Luft.

Jetzt war sie auf dem Zweig angekommen. »Ich danke Ihnen recht sehr,« sagte die Eule, »aber bitte, nun erlösen Sie mich auch aus dieser Fessel! Es ist wirklich auf die Dauer unangenehm.«

»Tja, wenn Sie sich die Sache so vorgestellt haben, sind Sie im Irrtum,« antwortete die Spinne mit einem teuflischen Zucken um den Mund. Dabei faßte sie die Eule an. Ihre Hände waren grauenvoll. Ein Wald aus Lanzen starrte aus jeder Fingerspitze, und mitten darin bewegten sich drei schreckliche Sägen.

»Wie meinen Sie denn das?« fragte die Eule voller Bangigkeit.

»Ich werde Sie jetzt umbringen, liebe Nachbarin! Haben Sie wirklich ein so kindliches Gemüt, daß Sie glauben, ich hätte mir die schwere Arbeit wegen Ihrer schönen Augen gemacht?«

Weil dies aufregende Gespräch im Blätterschatten stattfand, konnte die Eule die Lage übersehen. Sie legte sich aufs Bitten. Aber die blutgierige Mörderin hörte nicht darauf. Sie hob ihr den Flügel ein wenig und setzte den linken Kieferfühler an den entblößten Leib ihres Opfers. Der Fühler hatte vorn einen scharfen Haken und sah aus wie der Giftzahn einer Kreuzotter. Es führte auch ein Schlauch von der Giftdrüse durch ihn hindurch. Die Eule zuckte in heftigem Schmerze zusammen.

»Es hat nichts auf sich,« sagte die Kreuzspinne. »Ich versetze Sie damit nur in die Narkose, es tut Ihnen dann gar nicht weh, wenn ich Sie verzehre.«

Der Eule vergingen die Sinne augenblicklich. Ihr Sommertraum war zu Ende.

»Na, was sagen Sie dazu?« wandte sich die Gabelschwänzin an Fritz und Elsalutz.

Fritz schupfte die Schulter. »Wir haben für derartige Kämpfe nicht den geringsten Sinn! Ich gebe ja zu: sie sind nötig. Aber unsere Begabung weist uns auf andere Bahnen.«

»Es ist der ewige Kampf ums Dasein,« sagte die Raupe, »der Große frißt den Kleinen, der Starke besiegt den Schwachen und der Listige den Dummen. Das ist die von der Natur in unerforschlicher Weisheit gesetzte Ordnung.«

»Zugegeben,« sagte Fritz, »das ändert aber nichts an der Tatsache, daß wir als Dichter auf goldenen Schwingen über Ihren Alltag schweben. Ein Sommertraum sei unser Leben – je mehr er sich dem Ende nähert, desto seliger wollen wir ihn genießen! Wir beten die Sonne an, liebe Freundin, und unwandelbar ist unser Glaube an ein Schicksal, das uns das lachende Gestirn des Tages webt. Es ist ein holder freundlicher Gedanke, daß über uns in unermessenen Höh'n der Liebe Kranz aus funkelnden Gestirnen, da wir erst wurden, schon geflochten ward!«

Damit blühten sich Fritz und Elsalutz hinaus in den klingenden Tag.


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