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Die Luftschaukel.

Fritz, der Zitronenfalter, war aufs angenehmste berührt von dem liebenswürdigen Verkehrstone, der auf dem Hügel herrschte. Man brauchte sich nicht einführen zu lassen, brauchte keine Empfehlungen – es genügte einfach der Name, und man wurde mit Zuvorkommenheit behandelt.

Wiewohl er noch nicht ganz zwei Stunden alt war, fühlte er sich in der Welt schon recht heimisch und hatte bereits viel gelernt. Natürlich hatte die Freundlichkeit, mit der er überall aufgenommen wurde, ihren Grund auch darin, daß er einem angesehenen Geschlechte entstammte. Dieses erfreute sich großer Volkstümlichkeit. Fritz hatte davon zwar keine Ahnung, aber die Fähigkeiten, die er von seinen Altvordern ererbt hatte, machten ihn sofort beliebt. Da waren in erster Linie sein offenes Wesen und sein angenehmes Äußeres, die ihm die Herzen gewannen: dann seine gute Laune und seine lustige Lebensführung. Er fand, daß er gleich von Anfang an damit auf dem richtigen Wege gewesen war und fühlte sich infolgedessen durchaus lebenssicher.

»Guten Tag, meine Herrschaften,« rief er die kleinen Käfer an, »gestatten Sie, daß ich mit von der Partie bin?«

»Gerne! Hier ist noch ein Plätzchen. Es geht gerade los!« sagte ein dicker Marienkäfer namens Florian. Der hatte einen roten Rock an mit zwei schwarzen Tupfen.

»Sind Sie der Besitzer der Schaukel?« fragte Fritz. Doch da war die Sache schon in vollster Bewegung. Die feinen Stimmen der Kleinsten ertönten lauter, teils vor Lust am wehenden Schwung, teils vor Angst, herauszufallen.

»Kommen Sie, ich nehme Sie unter meine Flügel!« sagte Fritz zu zwei jungen Mädchen. Das war sehr nett von ihm. »Oder möchten Sie lieber anhalten lassen?«

Der dicke Florian lachte, daß er noch röter wurde. »Anhalten? Gehorcht Ihnen der goldene Sommerwind, weil Sie von Anhalten sprechen?«

Fritz machte dazu nur ein vergnügtes Gesicht. Er merkte: es war das beste, was er tun konnte. Er hatte sich gar nicht überlegt, daß der Wind die Schaukel in Betrieb setzte, und war nahe daran gewesen, sich zu blamieren. Nun breitete er seine Flügel so weit aus, als er konnte.

»Es ist herrlich darunter,« sagte das eine der beiden Käfermädchen, »man sitzt unter einem goldenen Dache. Sagen Sie mal, lieber Herr Fritz, Sie sind wohl aus Sonnenschein gewoben?«

»Ich … Natürlich!« lachte Fritz. »Aus Sonnenschein bis ins Herz hinein.«

»Das find' ich zu hübsch!«

Der Wind hatte wohl anderswo zu tun. Die Schaukel wiegte sich noch ein wenig. Endlich stand sie ganz still.

»Aussteigen!« ertönte von unten her eine etwas heisere Stimme.

»Ah, wir bleiben noch einmal sitzen!« rief Fritz. Damit waren alle einverstanden. »Sie haben mir noch keine Antwort gegeben auf meine Frage, lieber Florian: Sind Sie der Besitzer der Schaukel?«

»Nein, nein,« antwortete der Dicke, »das ist die Frau in dem grünen Kleide mit den schwarzen Samtringeln und gelben Tupfen, die eben ›Aussteigen‹ gerufen hat.«

»Ich sehe ja gar keine,« sagte Fritz und lugte über den Rand hinab.

»Sie sitzt den ganzen Tag am Stengel – wenn sie nicht ißt,« berichtete der Marienkäfer. »Sie scheint besonders eingenommen zu sein von Ihnen; sonst litte sie uns kaum so lange. Sie zeigt noch nicht einmal ihre Hörner. Wenn sie die herausstreckt, dann erfüllt die Luft ein Geruch, den viele Leute nicht vertragen können. Wir schätzen ihn auch nicht.«

Fritzen fesselte diese Erklärung sehr. Er behauptete zwar, er könne die Dame nicht sehen. In Wirklichkeit aber wollte er noch etwas über sie erfahren.

»Es ist die Raupe vom Ritter Schwalbenschwanz,« berichtete Florian weiter. »Sie tut sich sehr viel auf ihre Herkunft zugute. Kennen Sie die Familie nicht?«

»Ich bedaure,« sagte Fritz. »Ich bin erst seit einigen Minuten auf der Festwiese.«

Der Wind war wieder da, und die Schaukel kam in Gang. Diesmal wiegte sie sanfter als vorher. Fritz hatte deshalb Zeit, sich die Freunde zu betrachten.

»Sie gehören gewiß alle einem Vereine an?«

»Ganz recht, dem Weltverein der Herrgottskühlein; wir nennen uns Marienkäfer und sind von Beruf Jäger. Wir sind das stärkste Volk der Welt und haben uns alle Erdteile erobert.«

Das interessierte Fritzen außerordentlich. Und dennoch: die kleinen Käfer kleideten sich sehr verschieden. Manche hatten rote Röcke mit schwarzen Tupfen, manche schwarze Röcke mit roten oder gelben Tupfen, etliche sogar gelbe mit schwarzen. »Es sieht sehr gut aus,« bewunderte Fritz. »Und welcher Jagd liegen Sie ob?«

»Der auf Blattläuse,« antwortete Florian. »Es gibt nichts Besseres, sag' ich Ihnen: zart im Fleisch und ganz voll Süßigkeit.«

»Aussteigen!« rief es wieder von unten her. »Ich werde wohl noch meinen Vater rufen müssen,« sagte die Raupe und streckte ihre möhrengelben Hörner heraus. Sofort erfüllte die Luft der süßliche Geruch.

»Sehr aromatisch!« sagte Fritz prüfend. Aber schon wiegte der Ritter Schwalbenschwanz um die weiße Schaukel; denn mit dem Dufte rief die Raupe ihn herbei. »Sie müssen eine außerordentlich feine Nase haben!« bemerkte Fritz.

Die Flügel des Schwalbenschwanzes klapperten zwar gefährlich für ein feineres Ohr, und er selbst war so groß, daß er die ganze Schaukel einnahm; aber unfreundlich war auch er nicht. Er setzte sich einfach auf den schönen weißen Schirm und berührte etliche der Marienkäfer wohl ein wenig unsanft. Deshalb spuckten sie vor Schreck einen braunen Saft aus, der recht bitter duftete. »Aber ich bitt' Sie – das ist doch starker Tabak! Sie beschmutzen ja unsern ganzen Apparat!« sagte er. »Unsereiner riecht das nach drei Tagen noch. Ich betrachte das als eine unfreundliche Handlung.«

Die Herrgottschäfchen hatten sich indessen aus der Schaukel fallen lassen, und Fritz schwang sich ein lebendig gewordenes Stück Sonnenschein – um diese herum. Er hörte den Schwalbenschwanz lachen. »Sehen Sie,« sagte der, »so weist man die kleine Gesellschaft ihrer Wege. Bin ich grob gewesen?«

»Nicht im geringsten,« antwortete Fritz. Er stellte sich vor. Der Schwalbenschwanz hieß Georg. »Wollen wir einen Bummel machen, lieber Vetter?«

»Gern,« sagte Fritz. Da kam ein Segelfalter geflogen und holte Georg ab. Fritz staunte sehr: »Sie haben ja sogar hinten zwei Augen!«

»Ach wo!« lachte Georg. »Das ist nur ein ritterlicher Zierat. Wir können ja mit unseren beiden im Kopfe nach allen Richtungen schauen, ohne uns umdrehen zu müssen! Sie nicht auch?«

»Freilich,« sagte Fritz. Die Herrlichkeit dieser Einrichtung fiel ihm erst jetzt auf. Er wollte mit den Augen wackeln. Aber sie waren wie eingeleimt. Und dennoch: Unten und Oben, Vorwärts und Rückwärts, Links und Rechts fing sich darin! Er hatte keine Ahnung, daß seine Augen aus zwei- oder dreitausend Äuglein bestanden, die – wie winzige Zuckerhüte – mit ihren Spitzen nach innen im Sehnerv endigten und nach außen die schönen Perlen bildeten, die von der Natur für ihn mit Künstlerhänden in Gold gefaßt waren.

Inzwischen freilich war der Schwalbenschwanz mit dem Segelfalter davongeeilt. Fritz war nicht unglücklich darüber. Er tat einen kleinen Rundflug und kehrte zu der wilden Möhre zurück. Der würzige Duft, den die schöne Raupe verbreitet hatte, belebte ihn. Es war, als schwängen die Seelen von Blumen darin.

Auf der Schaukel hatte sich inzwischen ein sehr zierliches Geschöpf niedergelassen. Es war eine Schlupfwespe mit Flügeln, so dünn und durchsichtig wie feines Glas. Die trippelte kokett hin und her und besah sich den gelben Schmetterling mit lebhafter Teilnahme. »Guten Tag, mein Herr,« sagte sie keck. »Wünschen Sie etwas? Ich heiße Else!«

»Sind Sie hier Kellnerin?« fragte Fritz.

»Ganz und gar nicht … Pst!« machte Else und hob ihren Zeigefinger. Unten am Fuße der Möhre begann nämlich in diesem Augenblick ein Gespräch. Das führte die Raupe des Schwalbenschwanzes mit der eines Baumweißlings. Weil es zwei Frauen waren, sprachen sie natürlich von ihrer Garderobe und ihrem Befinden. »… Mir scheint, Sie sehen nicht sehr gut aus, Frau Nachbarin. Und warum haben Sie denn Ihr Kleid so lange nicht gewechselt?«

»Es ist mir seit einiger Zeit gar nicht mehr gut,« klagte die vom Kohlweißling. »Das Essen schmeckt mir nicht. Deshalb mache ich jeden Tag von meinem Strauch am Steinbruchrand einen Spaziergang. Aber ich fühle keine Besserung. Gestatten Sie, daß ich mich ein bißchen ausruhe?«

»Sie sind ja geschwollen, wie ich eben sehe!« rief die Schwalbenschwänzin erschreckt.

»Das ist es ja! Ich hatte neulich einen Kampf mit der Schlupfwespe Else. Dabei muß ich mir Schaden getan haben. Ich fühle mich seit der Zeit ganz zerschlagen. Ein bohrender Schmerz quält mich. Es zwickt hier und da und allenthalben.« Damit setzte sich die vom Baumweißling dicht an den Stamm der wilden Möhre. Die vom Schwalbenschwanz betrachtete sie mitleidig.

»Um Gottes willen!« rief sie dann. »Was muß ich sehen? Es krabbeln ja lauter kleine Maden aus Ihnen heraus? Sie Ärmste, wie müssen Sie leiden! Die Maden steigen aus Ihnen wie Menschen aus einem Eisenbahnzug, der an eine Haltestelle gelangt ist!«

Fritz war dermaßen erstaunt, daß er kein Wort sprechen konnte. Die kleine freche Else stieß ihn in die Seite: »Na, Goldherz, wie gefällt dir das? Ist es nicht großartig?«

»Hm,« machte Fritz, »großartig ist wohl nicht der richtige Ausdruck.«

Else tat beleidigt. »Na, hören Sie mal! Was halten Sie von mir? Das habe nämlich ich alles angestellt!«

Fritz wich vor Entsetzen einige Schritte zurück. »Sie? Ach, schneiden Sie doch nicht auf!«

»Ha,« sagte Else, »ich werde Ihnen das gleich beweisen!« Damit schlüpfte sie durch den weißen Blütenschirm und wippte am Stengel der Möhre hinab wie ein Bachstelzchen. »Guten Tag, meine Damen,« grüßte sie. Die Raupe vom Baumweißling hörte es nicht; denn ihr waren begreiflicherweise die Sinne vergangen. Die schöne Grüne aber kannte Elsen noch nicht. Sie erzählte ihr erregt, was sich zugetragen hatte. »Das ist in der Tat merkwürdig,« sagte Else unschuldvoll. »Aber … welch ein herrliches Parfüm haben Sie! Das ist ja berauschend!«

»Nicht wahr?« sagte die Schwalbenschwanz geschmeichelt. Sie streckte ihre Hörner ein wenig heraus, daß sie aussahen wie zwei goldene Tupfen.

»Oh!« rief Else entzückt. »Gestatten Sie bitte.« Dabei flog sie ihr auf den Rücken. »Das ist ja aus tausend Blumen gemacht!« Während sie den Duft sog, senkte sie ihren Legestachel der guten dicken Frau in das Fleisch.

»Was machen Sie denn da oben so lange?« fragte die. Sie fühlte ein sanftes Pieken. »Sie gehen wohl auf mir spazieren?«

»Sie haben einen so herrlichen Körper,« sagte Else, »mollig und weich wie grüne Seide. Oh, Sie Wunderbare, Sie Allerschönste!«

Die Schwalbenschwanz wurde nun doch mißtrauisch. Sie gab sich einen Ruck nach rechts und einen Ruck nach links, und Else tat, als sei sie davon fortgeschnellt worden Da saß sie schon wieder droben auf dem weißen Schirme. »Es ist bereits geschehen,« sagte sie zu Fritz, »ich habe ihr zwölf Eier anvertraut – in einigen Tagen ist auch sie ein Eisenbahnzug, dem meine Nachkommen an der Haltestelle Festwiese entsteigen.«

Es braucht sehr lange Zeit, dies alles zu erzählen. In Wirklichkeit dauerte das keine zwei Minuten. Deshalb ist es nicht erstaunlich, daß Fritz seine Entrüstung nicht zum Ausdruck bringen konnte. Er wußte nicht einmal, ob es Zorn war, was ihn erfüllte. »Ist denn das nun nötig?« fragte er, diesmal ohne den fröhlichen Hochklang in der Stimme.

»Durchaus nötig,« erklärte Else. »Die Raupen, namentlich die mit Haarbüscheln, sind dazu da, daß wir unsere Eier in sie legen …«

»Das scheint mir doch eine seltsame Anschauung zu sein …« entgegnete Fritz. Er brachte seine Rede nicht zu Ende; denn es flog ein Wespchen herzu, das war so klein, daß Fritz sehr scharf hinsehen mußte, um es überhaupt zu erkennen.

»Mein Freund Fritz!« stellte Else vor. »Ein wahrhaft goldiger Kerl! Meine Base Paula – sie ist ein Aphidier, aus der Sippe der Allotria.«

Paula hätte wegen ihrer winzigen Figur wahrscheinlich keinen großen Eindruck auf Fritz gemacht. Aber Else rühmte ihre Tüchtigkeit und ihren Charme mit geradezu betörenden Worten. Dazu ging alles so rasch – diese glasflügeligen Luftreisenden hatten wohl eine ganz andere Zeiteinteilung! Bei ihnen geschah in einer Minute, was andere Leute in einer Stunde verrichteten. Fritz konnte nur sprachlos zuschauen.

»Goldherz,« schmeichelte Else, »guck' mal dahinunter!«

Fritz guckte. Alle Reisenden waren ausgestiegen. Aber sie dachten nicht daran, auf die Festwiese zu gehen, sondern sie spannen. Sie spannen sich ein in einen Faden aus gelber Seide. Den zogen sie gleich aus dem Eisenbahnwagen heraus, und etliche waren so fleißig gewesen, daß sie jetzt schon als goldgelbe Püppchen unter der Baumweißlingsraupe lagen.

»Siehst du, Goldherz, so fürsorglich sind sie,« sagte Else lachend, »sie machen der häßlichen Raupe ein Lotterbett aus gelber Seide.«

Fritzen kam es vor, als halte sie ihn zum besten. Hatte die Raupe nicht Eier gelegt? Es wirbelte ihm im Kopfe; denn so viel wußte er ja vom Trauermantel: die Raupen führten nur ein Übergangsdasein bis zur herrlichen Vollendung im Schmetterling. Deshalb konnten sie gar keine Eier legen …

Es waren nun etwa drei Minuten verflossen, seit er Elsen kennengelernt hatte. Ihr schien das eine fürchterlich lange Zeit. »Du bist langweilig, Goldherz,« sagte sie zu ihm. »Wir fliegen jetzt mit Paula auf den Schwarzdorn. Da wirst du deinen Freund Florian treffen, und Paula wird sich im Speerkampf produzieren. Los!«


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