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Ubi bene ibi patria.

Elsalutz hatte mit Fritz nach diesem Ereignis eine lange Unterredung. Sie konnte nicht begreifen, wie das Unglück geschehen war. Fritz hatte ihr zwar auf dem Schwarzdorn und auf der verirrten Kiefer ähnliche Vorgänge bei Schmetterlingsraupen gezeigt, in denen die Larven der Schlupfwespen schmarotzten; aber diese Raupen starben, sobald die kleinen Maden hervorkrochen. Die Larven der Hummel dagegen mußten sich ungestört weiterentwickelt haben mit dem Ei, das ihnen die Spinnenameise anvertraut hatte. Und während die Schlupfwespenmaden gleich nach ihrem Austritt den schwefelgelben Seidenfaden spannen und sich darin verpuppten, so ersparten sich die Larven der Spinnenameise sogar diese Arbeit. Sie aßen die Hummellarve in der Puppe und bewohnten hernach das hübsche Glashaus.

Fritz berichtete das seiner Frau im Hotel zum Natterkopf. Die anderen Schmetterlinge kümmerten sich um fremde Angelegenheiten gar nicht. Als er einmal einen Blick hinunterwarf zur silbernen Insel, machte er eine auffällige Entdeckung: der Teich hatte einen handbreiten, schneeweißen Rand! Dicht an dicht saßen Kohlweißlinge rings um das Wasser und schlürften das erfrischende Naß. Durstige Wanderer! Dann stiegen sie empor. Es sah aus, als triebe ein Wind tausend Lilienblätter aus einem Loch in der Erde.

Elsalutz und Fritz mischten sich in den wirbelnden Schwarm. »Sind Sie auf einer Heerfahrt?« fragte er.

Der Herzog, der an der Spitze flog, antwortete: »Bei der großen Trockenheit begrüßten wir Ihren Teich mit Freuden. In meinem Herzogtum sind alle Blumen und Quellen gestorben. Aber wir wollten heut' in erster Linie an der Versammlung teilnehmen, die auf dem Kohlfeld abgehalten wird, das gegen Morgen liegt. Es wird sehr interessant. Der ganze Zug, den ich führe, besteht aus Frauen. Und da jede etwa sechshundert Eier bei sich trägt, vertreten wir weit über eine Million Stimmen. Die fallen ins Gewicht, hoff' ich.«

Die Weißlinge sahen wunderschön aus in den Massen, die sich aus dem Steinbruch heraus im Spiel gegen den blauen Himmel stellten. Auf der Festwiese war seit dem Tode Albines (die übrigens ein Baumweißling gewesen) nur hin und wieder einer auf der Durchreise gesehen worden: in vertragenem Kleide – wie das auf der Walze so geht. Die Weißen flatterten in einem so dichten Schwarm, daß sie aussahen wie eine große schaukelnde Blüte, aus der die beiden Zitronenvögel oben herausguckten als goldene Staubbeutel.

»Worüber wollen Sie denn abstimmen?« fragte Fritz.

»Über Ernährungsfragen! Fliegen Sie mit?«

Der Entschluß war rasch gefaßt, und der ganze Schwarm trieb allsogleich über den Hügel hinaus ins blaue Land. Das Korn war geschlagen, und die Erde hatte viel von ihrer Sommerschönheit verloren. Fritz und Elsalutz waren häufig im roten Mohn, in den Raden und Kornblumen eingekehrt. Das war nun alles dahin. Der Kurzweil wurde weniger, und die fröhliche Tagedieberei hatte wesentlich an Abwechslung verloren.

Es dauerte nicht lange, so kamen sie an das Kohlfeld. Auch von anderen Seiten her trafen Abordnungen ein – Schneeflocken gleich trieben die weißen Falter im Winde.

Aber wie sah das Kohlfeld aus! Wie ein niedriger Wald, der seine dürren Äste in die Luft streckte! Die dürren Äste waren die Rippen der Blätter. Das grüne Fleisch war herausgenagt von Millionen gefräßiger Raupen, und zu Millionen hockten sie noch in den Winkeln der Blattrippen und verzehrten die Reste.

»Donnerwetter!« sagte der Herzog. »Ich hätte nicht gedacht, daß die Frage so brennend wäre! Aber Sie sehen mit eigenen Augen: die ganze Anlage ist sozusagen aufgegessen bis auf Stumpf und Stiel! Das liegt nur an der geringen Umsicht des Bauern. Hätte der Mann statt des unnützen Korns und Weizens die ganze Fläche mit Kohl bebaut, so wäre ein zehnmal größeres Areal zweckdienlich verwendet worden, und wir hätten uns ausgezeichnet dabei gestanden. Die Kurzsichtigkeit des Menschen übersteigt alles Maß! Man ist geradezu gezwungen, ein Exempel zu statuieren. Nur auf diese Weise kann man den Menschen belehren.«

Die Wolke flatternder Flocken wehte über das Kohlfeld. Sämtliche Frauen waren aufs tiefste entrüstet. »Ganz ausgeschlossen, daß man in dieser Wüste seine Eier ablegen kann! Wir würden unser ruhmreiches Volk ja zum Tode verurteilen!« rief die Herzogin.

Jedes Haus war eine sparrige Ruine geworden und dennoch bis in die Mansarden besetzt. Zahlreiche Familien hockten schon hungernd in den schnurgeraden Gassen. Etliche hatten sich auf dem Hederich niedergelassen, der seine gelben Blüten über das kahle Balkenwerk des Kohls emporhob. Hederich war ein schlecht bekömmliches Futter. Der Bauer hatte es schon längst aufgegeben, sein vernichtetes Kohlfeld von diesem Unkraut zu säubern.

Auf Befehl des Herzogs hatte sich das Millionenvolk der Weißlingsraupen ungesäumt auf die Wanderschaft zu begeben. Hier brauchte gar keine Abstimmung vorgenommen zu werden. Aber wiewohl die Not groß war – auch jetzt noch erhoben sich Worte des Widerspruchs. Das neue Land lag zwar nicht weit entfernt; aber ein Eisenbahndamm zog sich stark und trutzig wie ein Gebirge vor dem neuen Reiche dahin. Und in jeder halben Stunde schnaufte das Ungetüm eines hundertachsigen Güterzugs, oder es knatterte ein eiliger Personenzug auf den silbernen Straßen daher, die das hohe Gebirge entlang führten. Zu allem war gerade zwischen den beiden Ländern eine Steigung der Geleise, die das Schnaufen und Knattern vervielfachte.

»Not bricht Eisen!« rief der Herzog. »Und wo es uns gut geht, ist unser Vaterland! Viele von euch werden auf der silbernen Straße ihren Tod finden, aber sie opfern sich für das Wohl ihres Volks!«

Eine Abordnung von Weißlingen war bereits hinübergeflogen und hatte festgestellt: das Land auf der anderen Seite konnte die gesamte hungernde Bevölkerung mindestens noch drei Wochen ernähren. Das war ausschlaggebend. Denn nach drei Wochen hatten sich etliche Millionen Raupen verpuppt, während nur mit einer Million Zuwachs gerechnet wurde. Diese jüngeren aber hatten zunächst geringeres Nahrungsbedürfnis. Und man durfte der mütterlichen Fürsorge der Natur vertrauen, die bis dahin einen ausgiebigen Regen und neues Wachstum spenden würde.

Der Aufbruch begann. Heere scharten sich. In allen Gassen drängte das Volk. Streckenweise war kaum ein Krümchen Erde zu sehen zwischen den marschierenden Kolonnen. Die waren sich der Gefahr bewußt, die ihnen bei der Überschreitung des Dammes drohte. In geschlossenen Truppenkörpern erstiegen sie die Böschung. Im Eilmarsch überschritten sie die silbernen Stränge. Viele Regimenter waren schon jenseits auf dem Abstieg. Aber ebensoviele befanden sich dazwischen oder darauf. Da pustete schweratmend ein Güterzug heran. Die Lokomotive zermalmte, was ihr unter die Räder kam. Die Schienen trieften von der öligen Masse. Weiter schnaufte der Zug. In wilden Stößen atmete die Lokomotive. Es war, als hätten ihre Räder Zähne bekommen, die sich in die eiserne Straße einbissen, um die Steigung zu überwinden. Da knarrte es seltsam unter den Rädern hervor – als ob eine stählerne Feder über einen gezähnten Metallrand rumpelte … Menschenstimmen erhoben sich, schrien durcheinander. Das Personal sprang von dem mühselig vorwärtskeuchenden Zug. Wie eine Riesenschnecke lag der auf seiner Bahn und konnte die Schaffner schon nicht mehr einholen, die zur Lokomotive eilten. Rings um das schnaufende Eisenroß schrien die Menschen und wedelten mit den Armen wie die Bauern mit der Peitsche hinter ihrem Pferde, das den schwerbeladenen Wagen nicht mehr den Berg hinaufzuziehen vermag. Die Lokomotive schnaufte, stieß den heißen Odem aus – aber wie sie sich mühte: ihre Räder drehten sich am Ort. Ein Zittern ging durch die hundert Wagen. Keiner bewegte sich. Rrrrrr! Wieder schien die metallene Riesenfeder über eiserne Zähne zu laufen. Es kam neues Leben in die Räder … Aber rückwärts trieben sie die ungeheuere Last, rückwärts, bis sich das Fett unter den Rädern vernutzt hatte. Dann stand das gewaltige Werk aus Pfosten und Eisen! Die Raupen der Weißlinge hatten fertiggebracht, was einer Schar von Menschen nicht gelungen wäre, die sich dem Zuge entgegengeworfen hätten.

Es dauerte geraume Zeit, ehe die Schienen von der fettigen Masse gesäubert waren mit Sand und Besen. Weit voraus mußte das also bewaffnete Personal dem Zuge schreiten, um auch dort die Bahn freizumachen. Dabei half ihnen der Eilmarsch der Raupenkolonnen.

Der Rücken des Bahndammes, der eine Viertelstunde weit das wimmelnde grau-grün-gelbe Leben getragen hatte, das aus allen Poren hervorzuwackeln schien, lag wieder starr im Blau des Tages. Die Sommerluft flimmerte darüber, und die Stränge der Schienen schwangen sich hinaus und bohrten sich als eine Silberspitze in die goldene Ferne.

Vielen der Raupen war der Weg zu beschwerlich gewesen. Die lagen im alten Lande auf Pfühlen aus gelber Seide, die ihnen die Larven der Schlupfwespen gesponnen hatten. Viele waren auch unterwegs müde geworden, und die Lust hatte sie angewandelt, sich zu verpuppen. Diese Nachzügler wußten nichts von dem großen Ereignis. Sie fürchteten auch die drohende Allgewalt der Züge nicht. Die Sehnsucht, von ihrem Sommertraum auszuruhen für ein fröhliches Falterdasein, erfüllte sie. Ihnen schien die eiserne Schienenmauer mit dem silbernen Dach ein vortrefflicher Platz zum Rasten. Unter den Dachrand, der sich schützend hervorwulstete, guckten keine Feinde! Dazu war die Straße zu öde; und räuberisches Gesindel wie Igel und Vögel, Kröten oder Puppenräuber trieb sich da oben nicht herum. Deshalb begannen sie im Schutze dieses dauerhaften Wetterdaches schlaftrunken ihre Arbeit: sie schufen sich ihren Sarg aus einer feinen glasigen Masse. Ein richtiger Märchensarg ward es, wie der der holdseligen Prinzessin Schneewittchen – denn auch sie betteten sich hinein, um dereinst aufzustehen in Herrlichkeit.


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