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Frühschoppen.

Ein Zitronenfalter hatte sich verirrt und schaukelte eine schmale Waldschneise entlang. In der Ferne sah er einen blauen Tupf und dachte: »Das ist wahrscheinlich die blaue Blume, von der ich geträumt habe. Ob ich wohl so weit fliegen kann?«

Wenn jemand in der Irre geht, hat er wunderliche Gedanken. Der Zitronenfalter sah über sich einen Streifen Himmel, der war genau so blau. Aber es langten davor die zackigen Arme der Fichten über seinen Weg. Das sah aus, als wollten die Bäume nicht leiden, daß man da hinausfliege. Er wackelte also seines Wegs. Es fiel ihm nichts mehr ein; denn er war furchtbar müde und schaute in einem fort nach der blauen Blume seiner Sehnsucht.

Plötzlich stand rechts eine dicke weiße Säule. Es war eine Birke. Die ließ die Sonnenstrahlen durch ihr Laub fallen, und das goldene Licht kringelte auf dem Heidewege. Darüber freute sich der Zitronenfalter sehr; denn er dachte: »Das sind lauter gelbe Schmetterlinge.« Aber als er näher kam, war er enttäuscht. Die Flügel wollten ihn nun nicht mehr tragen. Er setzte sich an den silbernen Stamm. Da hatte er einen großen Schreck: offenbar war er an den Mund der Birke geraten. Der war ganz schwarz und klappte immer auf und zu.

»Ach bitte, verschlingen Sie mich nicht!« bat er. »Sehen Sie, ich bin ein müder Wanderer und habe mich im Vertrauen auf Ihre Güte hier niedergelassen. Es wäre schrecklich, wenn ich schon sterben müßte. Ich bin nämlich erst heute früh ausgekrochen und habe mich verirrt.«

Da vernahm er ein herzliches Lachen. Und eine Stimme sprach: »Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich esse keine Schmetterlinge; denn ich bin ja selber einer.« Damit rückte der Schwarze ein wenig zur Seite. »Bitte, wollen Sie Platz nehmen an meinem Tische?«

Dem Zitronenfalter waren Schreck und Freude aufs Herz gefallen. Er konnte kaum sprechen. »Auch ein Schmetterling?« fragte er dann.

»Natürlich. Das sehen Sie doch. Ich bin ein Trauermantel.«

»Ach so! Ich bitte um Entschuldigung. Wenn man erst eine Stunde alt ist, ist man noch recht dumm.«

»Ach, dann ist das etwas anderes!« entgegnete der Trauermantel. »Da haben Sie wohl noch gar nichts zu sich genommen? Das paßt ja vortrefflich! Ich fliege jeden Morgen hierher zum Frühschoppen. Birkensaft ist mein Lieblingsgetränk. Bitte, probieren Sie mal!«

»Großartig!« sagte der Zitronenfalter. »Und wie das stärkt!« Er sog den süßen Saft in langen Zügen. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar,« sagte er dann, »denken Sie, wenn Sie nicht dagewesen wären, hätte ich nicht einmal gewußt, daß das ein Gasthaus ist.«

»So etwas riecht man doch eine Stunde weit,« sagte der Trauermantel. »Sie haben ja beide Fühler. Diese Fühler müssen Sie sehr in acht nehmen. Das ist nämlich eine herrliche Erfindung. Damit hören wir. Damit tasten wir. Und damit riechen wir nicht nur die Getränke, die in jeder Blume gebraut werden – damit riechen wir auch alle süßen Mädels, die sich einen Mann wünschen.« Der Gelbe zitterte vor Vergnügen. »Ach Gott, ach Gott, wie ist das hübsch!« Er wackelte mit seinen Fühlern in der Sonne herum.

»Regen Sie sich nicht unnötig auf,« sagte der Trauermantel, »in dieser Gegend ist für Sie nichts zu holen, und wir haben noch einen ziemlich weiten Weg.«

»Gerochen habe ich eigentlich schon sehr viel,« sagte der Zitronenfalter und beherrschte sich. »Meine Wanderstraße war voller Düfte, berauschend und ermüdend zugleich. Wenn man erst eine Stunde alt ist, da kann man wohl noch nicht recht unterscheiden, was von Eßbarem kommt. Merkwürdig,« fuhr er fort, »mir ist, als wär' ich schon hundert Jahre alt und als hätt' ich all die Zeit her in einem schönen Garten gelebt. Der war ganz voller Blumen, blau und rot und gelb und weiß, und eine Wolke von Honigdüften schwebte darüber …«

»Das ist Ihr Puppentraum gewesen,« erklärte der Trauermantel. »In dem schönen Garten haben Sie einmal als Raupe gelebt. Dann sind Sie eine Puppe geworden und nun ein Zitronenfalter.«

»Das ist ja eine höchst sonderbare Geschichte!« wunderte sich der Zitronenfalter. »Ist Ihnen das auch so gegangen?«

»Selbstverständlich. Nur bin ich auf einer hohen Pappel zum Dasein genesen. Ich hatte als Raupe auf diesem Baume gelebt. Und da ich als Falter erwachte, kam mir die Welt gleich sehr vertraut vor.«

Der Zitronenvogel war ganz still und nachdenklich geworden und sagte: »Es ist eigentlich recht traurig, daß der schöne Garten nur ein Traum gewesen ist.« Darüber mußte der Trauermantel lachen. »Sie werden staunen,« sagte er. »Aber zuerst trinken wir noch einen Schoppen!« Der Gelbe ließ sich das nicht zweimal sagen. Er tat ein paar kräftige Züge und – mußte nun auch lachen. Eigentlich wußte er gar nicht, warum. Der Trauermantel hatte nicht einmal einen Witz gemacht. »Großartig! Großartig!« rief er und trommelte mit den Vorderfüßen auf den Tisch.

»Sehen Sie,« sagte der Trauermantel, »jetzt haben Sie ein Räuschchen. Das kommt von dem Birkensaft, und jetzt sind Sie erst ein braver Mann! Sind Sie noch müde?«

»Ha!« lachte der Gelbe. »Mü … müde! So etwas kann mir gar nicht passieren! Ich werde jetzt zu der großen blauen Blume fliegen. Wissen Sie vielleicht, wieviel Meilen das sind?« Er deutete gegen das Ende des Waldweges.

»Ach,« sagte der Trauermantel, »das ist doch keine Blume! Das ist der Himmel, der wie eine Tür vor dieser Schneise steht.«

»Dann werd' ich also in den Himmel fliegen.«

»Machen Sie keine Dummheiten! Sie haben ja einen Schwips!« lachte der Schwarze. »Sie kommen einfach mit mir. Halten Sie sich nur immer an meiner Seite.« Damit schwang er sich auf seinen Sammetschwingen hinaus in das Gold des Morgens. Der Gelbe stolperte neben ihm dahin. Es ging hoch über den Wipfeln des Waldes. Unter ihnen musizierten die Schlupfwespen und die Bienen und was sonst noch in den Fichten an kleinen Musikanten zu tun hatte. Unter ihnen spielte der Wind auf den Zweigen Zither und Harfe. »Sie haben es gut getroffen,« sagte der Trauermantel, »es blüht der Wald!« Und wirklich: an den Spitzen vieler Zweige saßen liebliche rote Zierden. Die dufteten würzhaft und sahen von fern aus wie aufgesteckte Röslein. Mit breiten Flügeln schwebte der Trauermantel auf dieser Musik. Der Gelbe wackelte darin herum. Das kam einesteils von dem Frühschoppen, andernteils schien ihm das Fliegen für seine andere Art so angemessener.

»Na, was sagen Sie zu dieser Fahrt ins Blaue hinein?« fragte der Trauermantel.

»Sie ist fast so schön wie mein Traum.«

Es dauerte nicht lange, da flogen sie über Felder und sahen einen Hügel, der lag in einer weiten Ebene.

»Auf diesem Buckel werden Sie die Erfüllung Ihrer Träume finden,« berichtete der Trauermantel. »Es geht da ungeheuer lustig zu. Es ist ein verlassener Steinbruch dort. Darin ist ein Teich. Sie können daraus nach Belieben trinken, ohne einen Rausch zu bekommen. Wasser ist ungefährlich. Es ist eine herrliche Gegend. Menschen und Vögel streifen fast nie hindurch. Und wir sind ganz unter uns.« Während sie wanderten, erzählte er noch einiges, anschaulich und gedankenvoll. Und dennoch: sein Wesen war ernst wie sein Kleid. Der Zitronenfalter dachte: wenn er, der Gelbe, so viel erlebt hätte, würde er viel rascher plaudern – etwa wie ein kleines Wasserfällchen … aber da waren sie schon da.

»Sehen Sie, hier haben Sie Blumen, soviel Sie wollen! Die gehören alle uns. Was man so Blumen nennt, das sind eigentlich Brauereien; in jeder wird etwas anderes, aber nicht minder Vortreffliches, hergestellt.«

Nicht zu sagen, wie schön das war! Steine lagen massenhaft herum. Deshalb wurde dieser Hügel von den Menschen weder mit Pflug noch mit Hacke bearbeitet. Es führte kein Weg dort auf der Erde, über den die Wanderer zogen. Und dennoch: hinter jedem Stein jubelte sich eine Blume empor: goldenes Johanniskraut, wilde Möhren, blauer Natterkopf, Tag- und Nachtlichtnelken, Schafgarbe, Steinklee, hingetropft wie frisches Blut, Feldkümmel, Glockenblumen, Akelei und dicker Feldklee in ganzen Büschen. Das hatte alles der liebe Gott gesäet. Die Luft flimmerte und war so voll von Düften … man fand sich kaum darin zurecht. »O du Goldland meiner Träume!« rief der Zitronenfalter beseligt. »O Welt, wie bist du so schön, so schön!«


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