Ludwig Ganghofer
Edelweißkönig
Ludwig Ganghofer

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14

Zwei Tage vergingen. Dori wurde zur Ruhe getragen. Das war ein Begräbnis, als würde der reichste Bauer des Tals in die Ewigkeit befördert, nicht der ärmste Hüterbub des Dorfes. Gerechtigkeit im Leben ist selten. Der Tod erinnert sich ihrer zuweilen. –

Wieder kehrte Tag um Tag im Finkenhof ein. Keiner brachte den Jörg. Gleich am dritten Tag nach seiner Verhaftung war eine Botschaft an die Bäuerin gekommen: seine Sache wäre in Ordnung, aber die Mariann sollte ihn nicht erwarten; die Ungewißheit über Ferdls Schicksal ließe ihm keine Ruhe, und er möchte in München bleiben, bis in Ferdls Sache etwas entschieden wäre.

Weiter war keine Nachricht mehr gekommen. Fast wußten die Leut im Dorfe mehr von Jörg und Ferdl als im Finkenhof die Mariann und noch eine andere, die nie eine Frage tat, an jedem Morgen aber mit einem flehenden Blick ihrer verstörten Augen an dem Gesicht der Bäuerin hing.

In den Zeitungen hatten die Leute die erste Nachricht von Ferdls Auferstehung gelesen und hatten erfahren, daß jener böse Verdacht, in dem er gestanden, durch eine Aussage des Grafen völlig von ihm genommen wäre, so daß Ferdl nur dem Spruch des Militärgerichts unterstünde. In allen Stuben wurde die Sache unermüdlich verhandelt. Wieder führte der Brennerwastl das große Wort. Wenn er das schmalzig glänzende Köpfl wiegte und mit blinzelnden Augen behauptete: »So ebbes hab ich mir lang schon denkt!« –, dann wagte niemand diesen Ausspruch zu bezweifeln. Keiner der Burschen hörte es gerne, wenn ihnen Wastl die Geschichte mit dem Dori unter die Nase rieb und daran den Vorwurf knüpfte: »Hätts mir gfolgt! Nacher lebet der arme Schlucker noch! Aber allweil is dös a so: Is a Gscheiter in der Welt und sagt er ebbes Verstandsams, so lusen d' Rindviecher auf alles andre, bloß net aufs richtige Wörtl. Da drüber muß ich reden mit unserm Herrgott, wann ich auffisäusel. So geht's net weiter. Da muß amal a Wandel kommen.«

An der Haustür des Finkenhofes liefen die Neugierigen fast die Schwelle krumm. Die Mariann wußte sie kurz und bündig abzufertigen: »Ich weiß nix! Laßts mir mei' Ruh!« Die einzige, mit der sie sich aussprach, war die Emmerenz. Jeden Abend, wenn die Enzi in der Krankenpflege für eine Erholungsreise von der Schloßhauserin abgelöst wurde, kam sie auf ein Stündl in den Finkenhof und brachte immer gute Nachricht von Gidis Besserung. »Gidi«, zu sagen, das hatte sie freilich verlernt. Jetzt sagte sie immer. »Der Meinige!«

Bei solchen Plauderstunden war Veverl selten zugegen. Fast die ganzen Tage saß sie in ihrer Kammer, mit einer Näharbeit beschäftigt. Wie viele Seufzer und Tränen stichelte sie da hinein! Das änderte sich freilich mit dem Morgen, an dem die Mariann von Jörg einen langen Brief erhielt, einen Brief voll Jubel und Freude. Alles wäre gut; das Militärgericht hätte seinen Spruch getan; in Rücksicht auf Ferdls gute Führung, auf seine im Krieg bewiesene Tapferkeit, auf den Umstand, daß seine Dienstzeit ohnehin zwei Tage später zu Ende gewesen wäre, und in Erwägung der Tatsache, daß er sich selbst wieder gestellt hätte, wäre seine Flucht nicht als Desertion zu betrachten, nur als ›willkürliche Absentierung vom Regiment, begangen im Zustand hochgradiger Aufregung über den Tod einer nahen Verwandten‹. Der Brief schloß mit den Worten: ›So hat er die gnädigste Straf kriegt, fünf Tag Mittelarrest. Nacher muß er seine zwei letzten Tagschichten noch ausdienen. Und mich laßt's net fort aus der Stadt, ich muß drauf warten, bis er frei is, daß wir mitanander heimzu können.‹

Vor Freude glänzte das Gesicht der Bäuerin, als sie diesen Brief in Veverls Hände legte. Unter Zittern begann das Mädel zu lesen und brach in Schluchzen aus.

»Aber Veverl, mußt doch auslesen!« lachte die Mariann. »Schau, ganz unten am Briefl steht noch ebbes aufgschrieben.«

Das Veverl guckte unter Zährengetröpfel in den Brief und las: »Gelt, Mariann, schau Deine Kästen nach, ich mein', es wird bald Hochzeit geben im Finkenhof.« In scheuem Schreck hob Veverl die Augen. Als sie den heiter zwinkernden Blick der Mariann gewahrte, färbten sich ihre Wangen mit glühendem Rot.

Von dieser Stunde an blühte das Veverl auf wie eine Rose unter der Junisonne. Mit aller Innigkeit ihres Wesens umschlang sie den köstlichen Besitz, den ihr Herz gefunden und erworben, während jene traumhafte Welt, in der sie bislang gelebt und geatmet hatte, in Trümmer brach. Die Königsblume ohne Macht und Geheimnis! Kein Edelweißkönig! Kein Alfenreich! Nicht Wunder noch Zauber! Alles nur greifbare Wirklichkeit! Und der Dori dahin, trotz der Sühne, die er geleistet, trotz der heiligen Bannwurzel, die er um den Hals getragen! Jeder dieser Gedanken hatte eine klaffende Bresche in die Schutzwehr ihrer Geisterwelt gerissen. Und endlich waren sie ausgetrieben, die Alfen und Wichte, die Feen und Waldweiblein, und wo sie sonst in Dämmerung gehaust hatten mit sicherem Behagen, herrschte jetzt der irdische Tag mit seinem hellen, lachenden Himmel.

Nur Liebe noch und Sehnsucht war Veverls ganzes Fühlen und Denken. Und wie glücklich war sie bei diesem Bangen und Harren – wenn auch immer wieder das trauernde Erinnern an den guten Buben, der nun draußen lag in kühler Erde, ihr Glück zu trüben kam, wie ein Wolkenschatten hinhuscht über sonnige Wiesen.

Dann war es eines Abends. Veverl saß in der Stube bei den Kindern. Da stürzte die Mariann herein – »Veverl! Sie kommen!« – flog wieder hinaus in den Hof, und hinter ihr her die beiden Kinder. Veverl sprang auf und stand wie gelähmt. Blaß und zitternd hörte sie die näher kommenden Stimmen. Jetzt erschienen sie unter der Tür, der Jörgenvetter und die Mariann und ihnen voran ein schmuckes Soldat mit lachendem Mund und glänzenden Augen, das Braunhaar militärisch gestutzt, der Geisterbart zusammengeschwunden auf einen netten Schnauzer. Er streckte dem Mädel die beiden Hände hin. Und als das Veverl noch immer ohne Laut und Bewegung blieb, fragte er: »Du? Hast denn für dein' Edelweißkönig net a Bröserl ›grüß Gott‹?«

Sie taumelte lachend auf ihn zu und hing mit Weinen und Stammeln an seinem Hals.

Schweigend blickte Jörg auf die beiden, winkte die Mariann zu sich, nahm die Kinder bei der Hand und verschwand mit ihnen in der Kammer. Dort beschwichtigte er das neugierige Geplapper des kleinen Paars und begann der Mariann zu erzählen, alles, was er zu erzählen hatte.

Als Jörg sich endlich erhob und unter die Stubentür trat, saß der Ferdl am Tisch. Und Veverl, das Köpfl an seine Schulter gelehnt, blickte mit leuchtenden Augen an ihm hinauf.

 

Vier Wochen später wurde im Dorf zu einer Doppelhochzeit gerüstet: für Ferdl und Veverl – für Gidi und Emmerenz. Am Morgen der Hochzeit strömten die Leute aus dem ganzen Tal zusammen, daß die Kirche kaum die Menge der Menschen zu fassen vermochte. Als die zwei jungen Paare unter Trompetengeschmetter und Klarinettenklängen aus dem Kirchenportal über den Friedhof wanderten, stockte der Zug. Ferdl und Veverl standen vor Johannas Grab und vor dem jungen Hügel des Dori. Neugierig drängten die Leute näher, reckten die Köpfe und sahen, wie Veverl den bräutlichen Rosmarinstrauß, den sie am Mieder trug, mit zitternden Fingern löste und die grünen Zweige niederlegte auf die mit welkenden Blumen bedeckten Hügel. Wortlos blickte sie zu dem Gesicht ihres Mannes auf, als möchten ihre Augen ihn fragen, ob sie auch recht getan. Ferdl nickte. Und wieder setzte sich der Zug in Bewegung. Während die Böller krachten, daß die Berge hallten, taten die Musikanten ihr Bestes, bis das Wirtshaus erreicht war, in dem das Mahl schon auf die Gäste wartete.

Von den Geladenen waren nur zwei nicht erschienen. Der eine war ferngeblieben, obwohl man ihn sehnlichst erwartet hatte und schmerzlich vermißte. Er hatte dem Gidi einen Glückwunsch gesandt, dazu den ›gräflichen Förster‹ mit einer Gehaltserhöhung, die den ›gesunden Appetit der Emmerenz‹ in Rechnung zog. Dem Ferdl hatte Luitpold geschrieben, daß er gerne gekommen wäre, wenn er nicht gefürchtet hätte, durch die Stimmung, die der Anblick soviel jungen Glückes in ihm erwecken müßte, die Freude der anderen zu trüben. Mit diesem Brief war ein Brautgeschenk für das Veverl eingetroffen: der Schmuck, den sie am Halse trug – sechs goldfarbene Topase, im Kreis umringt von spitzgeflammten, aus kleinen Perlen gebildeten Zacken – ein Edelweiß mit dreißig Strahlen.

Der andere der beiden, die nicht kamen, war Herr Simon Wimmer. Der Aufenthalt im Dorfe hatte für ihn, wie man zu sagen pflegt, ein paar kitzlige Haare bekommen; er hatte um seine Versetzung nachgesucht, sie war ihm gewährt worden, und da hatte er seine Abreise gerade auf den Hochzeitsmorgen festgesetzt, ein boshafter Racheakt, durch den er die allgemeine Fröhlichkeit beträchtlich erhöhte. Ihm selbst entging dadurch ein munterer Kunstgenuß und die stolze Genugtuung, sich eingereiht zu sehen unter die poetisch besungenen Helden und Geistesgrößen der Menschheit. Die achtundvierzig gleich klingenden Reime, die der Hochzeitslader auf die Leitworte Simmerle Wimmerle ersonnen hatte, mußten in Abwesenheit des lyrisch Gefeierten verlesen werden.

An Stelle dieses Geladenen, der in mehrfacher Hinsicht verzichtet hatte, war an der festlichen Tafel ein Ungeladener erschienen – der weiße Hansi. Obwohl in Tierseelen schwer zu lesen ist, könnte die Vermutung ausgesprochen werden, daß Hansi vielleicht die Pflicht empfand, bei diesem glückreichen, aus Schmerzen aufgeblühten Lebensfest die versunkene Alfenwelt nach Kräften zu vertreten. Entsprechend dieser Sendung, erschien er nicht nach irdischer Art durch die Stubentür, sondern mit lautlosem Geisterflug durchs offene Fenster, erwies sich aber in allem übrigen dieser ans Geheimnisvolle streifenden Aufgabe durchaus unwürdig. Von Teller zu Teller hüpfend und gierig von allen Schüsseln schnappend, überfutterte sich der weiße Vogel so unverständig, daß er bei aufgeplustertem Gefieder wie kropfig aussah, einen mißmutigen Blick und eine fettige Stimme bekam, unverkennbar den Eindruck eines schwerverbitterten Pessimisten machte und schließlich – was er ganz und gar nicht zu verheimlichen verstand – sich überaus unpäßlich fühlte. Daß die Kinder darüber jubelten, ist bei ihrem Mangel an Lebensweisheit verzeihlich. Es gab aber auch erwachsene Leute, sehr viele sogar, die bei so unappetitlichem Anblick sich belustigen konnten. Nur die Mariann, die sich um die Nettigkeit der Hochzeitstafel sorgte, wurde wütend und schimpfte: »Machst net, daß d' weiterkommst, du Rabenviech, du ausgfärbts!«

Sonst war die Mariann eine gerechte Seele. Hier erwies sie sich als ungerecht. Schließlich hatte doch der weiße Vogel nichts anderes verbrochen, als daß er nach einer nebulosen Vergangenheit ehrlich allem Geisterhaften entsagte und sich rückhaltlos als reales, ein bißchen entartetes Tier erwies. Aber es ist eine alte Kindertorheit zahlreicher, manchmal sogar sehr liebenswerter und verständiger Menschen: daß sie von den Dingen des Lebens immer verlangen, sie sollen anders sein, als die Natur sie erschaffen hat. Der Brennerwastl hätte wieder einmal sagen können: »Da muß a Wandel kommen!«


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