Ludwig Ganghofer
Edelweißkönig
Ludwig Ganghofer

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3

In die Stube trat eine untersetzte Mannsgestalt in der dunkelgrünen Uniform der Gendarmen. Dem schimmernden Gefräßigkeitsglanz des schlotterbackigen Hamstergesichtes konnte der martialische Schnurrbart wenig anhaben, da seine verdüsternde Wirkung durch den beruhigenden Purpuranflug der Knöpflnase ausgeglichen wurde. Imponierend in obrigkeitlichem Sinne sah die Gestalt nicht aus. Ihre Mitte hatte sich so vordringlich entwickelt, daß die Säbelkuppel entweder nach aufwärts oder nach abwärts rutschen mußte. Die gutgepolsterten Beine zeigten nach unten hin eine auffällige Zärtlichkeit füreinander, wodurch der Gang etwas wurmhaft Geschlängeltes bekam. Nur mit Kunst und Vorsicht gelang es den liebevollen Beinchen, sich nicht selbst auf die Hühneraugen zu treten. Die Uniform war tadellos, die Knöpfe blitzten, das Lackleder schimmerte. Dieser grüne, rot getüpfelte Maikäfer war Herr Simon Wimmer, der Kommandant des im Dorfe liegenden, zwei Mann hohen Gendarmeriepostens. Vor neununddreißig Jahren war er im Lande der dreispitzigen Hüte geboren worden. In den letzten zwölf Jahren seines Lebens, die er zumeist in oberbayerischen Ortschaften verbrachte, hatte er sich den Bergdialekt nur leidlich angewöhnt; neben anderen Merkmalen seiner schwäbischen Heimatsprache hatte er die Hurtigkeit des Sprechens beibehalten, die dem Schwaben eigentümlich ist, aber zum oberbayerischen Dialekt paßt wie der langflügelige Rock zu den nackten Knien. Und da war seine Art, zu reden, wunderlich anzuhören.

Die Leute im Dorf, in das er vor drei Jahren versetzt worden war, zeigten sich ihm nicht sonderlich gewogen, obwohl er in Waltung seines Amtes keinen bösartigen Charakter entfaltete. Herr Wimmer hatte es nie verstanden, sich in Respekt zu setzen. In der einen Stunde zog er grundlos die Amtsmiene auf, und das verdroß die Leute; in der anderen Stunde benahm er sich gegen jeden mit jener vertraulichen Kameradschaft, die dem Bauer, wenn sie nicht von seinesgleichen kommt, immer Geringschätzung einflößt. Die Folge war, daß ihm mit ausdauernder Freundlichkeit nur jene entgegenkamen, die Ursache hatten, ihn um seiner Stellung willen zu fürchten. Eine heilige Scheu hatte die holde Weiblichkeit des Dorfes vor seinen dicken Fingern, die eine unverbesserliche Neigung bekundeten, sich mit runden Wangen und sonstigen Dingen, die rund sind, andauernd zu beschäftigen. Diese Neigung hatte Herr Simon Wimmer sogar zu jener Zeit nicht abgelegt, als er der ›Finkenhofschwester‹ auf Freiersfüßen nachgestiegen war, wobei er seine aussichtslosen Heiratspläne durch die Behauptung begründete: »Büldung und Büldung ghören älleweil zueinander, und ein Angestellter wird ihr wägerle lieber sein als so an unfürmiger Baurelümmel.«

Seit jener Zeit war ihm der Spitzname ›die angstellte Büldung‹ verblieben als einer der vielen, die im Dorfe von ihm gebraucht wurden. Unter ihnen waren es besonders drei, die sich einer Bevorzugung erfreuten. Mit einer doppelt an seine Heimat gemahnenden Diminutivform nannte man ihn den ›Simmerle Wimmerle‹. Diesen Spitznamen hatte ihm ein Bursch aufgebracht, der ihn zu einem Mädel hatte sagen hören: ›Schatzele, geh, sag Simmerle zu mir!‹ Andere nannten ihn die ›verfluchte Geschichte‹. Das leitete sich von einer typischen Redensart her, die der Herr Kommandant in sorgenvollen Momenten mit reinstem Hochdeutsch zwischen den Mischmasch seiner beiden Dialekte einzuwerfen liebte: ›Das ist eine verfluchte Geschichte!‹ Dazu schob er von oben her die grüne Mütze tief in die Stirn und kraute den struppig behaarten Hinterkopf. Die meisten aber nannten ihn den ›Didididi‹. Sie trafen mit diesem Naturlaut ziemlich genau den hölzernen Klang des kurzen Gelächters, das Herrn Wimmer eigen war; es klang, wie wenn der Grünspecht hämmert an einer hohlen Fichte. Unter solchem Lachen trat Herr Simon Wimmer in die Stube. Jörg erhob sich mit der Frage, was dem Finkenhof die Ehre dieses ›seltsamen Besuches‹ verschaffe. »Didididi!« lachte Herr Wimmer und blinzelte, als hielte er den Bauern für den durchtriebensten Schelm auf Gottes Erde. »Was isch denn dös? E kloins Geheimnisle auf'm Finkehof? Ich hab e neus Gsichtle gsehe, e neus Gsichtle. Und was für e saubers Gsichtle! So was muß ich veraugenscheinige, ich in meiner Stellung als oberste Aufsichtsbehörde.« Herr Wimmer hatte sich dem offenen Fenster genähert, legte die Mütze ab und schob den Kopf mit einiger Mühe durch die eng stehenden Eisenstäbe. »Älleweil noch e finsters Mäule, älleweil noch?« lachte er in den Hof hinaus, ohne von Veverl eine Antwort zu erhalten.

»Du!« flüsterte Gidi dem Bauern zu. »Bei dem brennt's schon wieder.«

»Im Stroh zündt's halt leicht.«

Der Jäger lachte. Als hätte Herr Wimmer diese Heiterkeit richtig gedeutet, so flink versuchte er seinen Kopf durch das Eisengitter zurückzuziehen, ein Versuch, der dem Herrn Kommandanten einen stöhnenden Klagelaut entpreßte; gleich zwei Widerhaken hielten ihn seine beiden Ohren vor den Eisenstäben gefangen, und erst, als er den Befreiungskampf mit überlegungsvoller Ruhe wiederholte, gelang es ihm, sein wohlgeratenes Haupt aus dieser unangenehmen Zwangslage zu erlösen. Während er sich dem Tisch näherte, mit den Händen die roten Ohren reibend, sagte Gidi: »Ja, schauen S', so a gutgwogens Obrigkeitsköpfl hat net a jeder. Bei uns sind die Fenstergitter grad aufs Bauernkopfmaß zugschnitten.«

Herr Wimmer lachte mit, obwohl ihm die Verdrossenheit deutlich aus den Augen sprach. Dann kam er wieder auf das »neue, saubere Gsichtle« zu reden und setzte dem Finkbauer so lange mit Fragen zu, bis er alles erfahren hatte, was über Veverls Herkunft zu berichten war.

Erst vor wenigen Wochen hatte Jörg das Mädel in sein Haus gebracht. Vevis Vater war jener Bruder der Finkenbäuerin, der tief in den Bergen das kleine Haus besaß. Die Leute hatten mancherlei Gründe, wenn sie sagten, er wäre ein ›gspaßiger Kamerad‹ gewesen. Er verkehrte nicht gern mit Menschen; das war schon als kleiner Junge so seine Art. Mit elf Jahren wurde er Hüterbub. Als er sechs Jahre später zum Senn avancierte, taugte ihm das ›milchige Gschäft‹ nicht lang; da wurde er Holzknecht; aber niemals verdingte er sich an einen Rottmeister, er arbeitete nicht gern mit anderen Knechten, denn es kränkte ihn, daß sie darüber spotteten, wenn er vor dem Fällen eines Baumes den Bannsegen sprach, damit die ›Alfin‹ durch die Axthiebe nicht verwundet würde, oder wenn er barmherzig an die vor dem wilden Jäger fliehenden Waldweiblein dachte und in den frischen Baumstock die zwei schief liegenden Kreuze schnitt, damit die armen Verfolgten sicher darauf rasten könnten. Drum nahm er nur Arbeit für sich allein und mühte sich tagsüber in seinem Schweiße. Wenn mit Einbruch des Abends seine Axthiebe im stillen Bergwald verhallt waren, freute er sich der Ruhe und saß bis in die sinkende Nacht vor seinem niederen, aus Rinden gefügten Obdach, in stummer Zwiesprache mit der Natur.

Nie sah man ihn in einem Wirtshaus, nie bei einer Lustbarkeit, in der Kirche nur an den höchsten Festtagen. Er wußte mit den Menschen nicht zu reden, dafür um so besser mit seinen Tieren, Pflanzen und Steinen. Alle Vogelstimmen vermochte er nachzuahmen. In der Nähe seiner Hütte nisteten zahlreiche Vögel, denn er rief sie mit ihren Stimmen und streute ihnen Brotkrumen und getrocknete Beeren. Das Wild scheute nicht vor ihm, und häufig geschah es, daß er ein verirrtes Kitz, nachdem er es mit dem Schmälruf der Geiß an sich gelockt, in die Nähe des Dickichts trug, das er als Standort des Muttertieres kannte. Die Bäume, Blumen und Pflanzen waren für ihn nicht leblose Produkte der Natur; ihre mannigfache, äußere Gestalt erschien ihm als die verschiedenartige Gewandung verschiedener Wesen, deren Leben in Wachstum und Blüte der Pflanze sich bekundete; selbst das starre Gestein erschien ihm als die Hülle ähnlichen Lebens. Er liebte die Natur, und drum war sie für ihn lebendig. Und alle Wesen, mit denen er die Natur bevölkert sah, setzte er in Beziehung zu dem Gott, an den er als guter Christ glaubte, um so fester, je weniger er es jemals versucht hatte, sich von Gott ein Bild zu machen. Er dachte seinen Gott nicht, er fühlte ihn, fühlte ihn als Inbegriff alles Guten und Gerechten. Gut – so hieß das Grundwort der Sprache, die das Herz dieses Menschen redete. Ein guter Gott und gute Geister, und sie beide wirkend zum Wohle guter Menschen! Das wenige Böse, dessen Vorhandensein er anerkennen mußte, erschien ihm nur als ein Wechsel, als ein Übergang vom Erträglichen zum Besseren. Weshalb ein solcher Wechsel und Übergang notwendig wäre, das kümmerte ihn nicht. Das mußte Gott wissen, der das gewiß nicht zulassen würde, wenn es nicht so sein müßte. Dieser Gedanke stand in ihm fest, er klügelte nicht daran, höchstens daß er ihn durch einen Vergleich für sein Verständnis zurechtlegte; er verglich das Böse im Leben mit dem Winter in der Natur, der als Übergang vom Herbst in den Frühling nötig war, obwohl alles Atmende und Keimende unter ihm zu leiden hatte. Natur und Natur, das war der Ausgang und das Ziel seines Fühlens und Denkens, der Verkehr mit der Natur seine einzige Freude.

Aber es kam für ihn eine Zeit, in der zu dieser Freude noch eine andere sich gesellte. Er zählte damals sechsunddreißig Jahre und arbeitete als Holzknecht in den Bergen. Dort stand in einem engen, hochgelegenen Tal, das vom Dorfe sieben Wegstunden entfernt war, ein kleines Haus, das ein alter Köhler mit seiner jungen Tochter bewohnte. Marianns Bruder hatte das freundlich blickende Mädel häufig gesehen, wenn es beim Beerensammeln in die Nähe seines Arbeitsplatzes gekommen war, aber nie hatte er das stille Ding angesprochen, wenngleich es ihm wohl gefallen hatte beim ersten Blick. Da kam sie eines Tages zu ihm: ihr Vater läge krank, und sie wüßte sich nicht mehr zu raten. Er ging mit ihr, wortlos, und sah es gleich, daß dem Alten nimmer zu helfen war. Einen Tag und zwei Nächte saßen die beiden am Lager des Sterbenden; als es mit ihm zu Ende war, zimmerte der Holzknecht einen groben Sarg, legte den Toten hinein und trug ihn auf den Schultern nach dem eine Wegstunde höher gelegenen Wallfahrtskirchlein Mariaklausen. Als er wieder zurückkehrte, begann er für das Mädel zu sorgen. Die beiden redeten miteinander, als hätte es nie eine Zeit gegeben, in der sie sich nicht gekannt. Er nahm sie, und sie gab sich ihm, und so blieben sie beieinander. Nach einem Jahr gebar ihm das Weib ein Mädchen, das der alte Kaplan von Mariaklausen auf den Namen Eva taufte. Das Kind war der Abgott des Vaters, und seine Fürsorge für das kleine Geschöpf, in dem die Eigenschaften des Vaters und der Mutter vereinigt schienen, verdoppelte sich noch, als er im sechsten Jahr seines Glückes sein junges Weib verlor. Sie starb an dem Biß einer Kupfernatter. Am Morgen war sie gebissen worden. Als am Abend der Mann aus dem Bergwald nach Hause kam und das Unheil unter seinem Dache fand, jammerte er nicht, sondern tat, was er zu tun verstand; er saugte die Wunde aus, wusch sie mit dem Absud gestoßener Eschenrinde und band ein Häufchen Sägspäne von Eschenholz darüber, die er mit dem Saft der Pimpernellwurzel befeuchtet hatte. Alle Hilfe kam zu spät. Wieder hatte der Holzknecht einen Sarg zu zimmern.

Von nun an mußte der Vater seinem Kind die Mutter ersetzen; das ging in den ersten Wochen schwer, aber die Liebe lehrte es ihn. An schönen Sommertagen nahm er das Kind mit sich in den Wald, wo es unter der Rindenhütte seine stillen Spiele trieb, während draußen der Vater arbeitete; zur Mittagsstunde schob er ihm auf dem Holzlöffelchen die Kost in das kirschrote Mäulchen; dann nahm er sein Veverl auf die Knie, lehrte es die Tiere und Vögel kennen, nannte ihm die Namen der Pflanzen und Steine und plauderte zu ihm von dem geheimnisvollen Leben, das nach seinem Glauben in allen Kindern des Waldes webte. Pünktlich nach einer Stunde nahm er die Arbeit wieder auf; wenn sie des Abends nach Hause kehrten, setzten sie sich auf die Holzbank unter den rauschenden Fichten, und dann wiederholte sich das gleiche, freundliche Spiel. An regnerischen Tagen konnte der Vater sein Mädel getrost zu Hause lassen; das Veverl war mit fünf Jahren schon bei aller äußerlichen Schüchternheit ein beherztes Mädel. Wovor auch hätt' es sich fürchten sollen? Menschen kamen nur selten in die Einöd. Im übrigen hatte der Vater sein Kind beizeiten gelehrt, die Natur und ihr Leben nicht zu fürchten, sondern zu lieben. Der Winter vereinigte die beiden in der warmen Stube; da arbeitete der Vater zu Hause, und während er vor seiner Werkbank saß und aus den weißen, astlosen, geschmeidigen Lärchenbrettchen die verschiedenartigsten Schächtelchen und Schachteln fügte, übertrug er bei stundenlangem Geplauder in das Herz des Kindes sein ganzes Träumen, Sinnen und Fühlen. Täglich zur Mittagsstunde traten sie vor die Tür, wo der tiefe Schnee den Grund und die Bäume deckte und der zu Eis erstarrte Bergbach im kurzwährenden Sonnenscheine funkelte. Dann streute das Kind den frierenden Vögeln Nahrung, während der Vater über eine vom Schnee entblößte Stelle ein Bündel Bergheu schüttete, zur Äsung für das Wild, das vom Morgen an in Rudeln das kleine Haus umstand, der Stunde harrend, zu der die niedere Tür sich öffnete.

So schwand den beiden Tag um Tag; das Ausbleiben des Wildes war für sie das erste Anzeichen des nahenden Lenzes; bald kamen mildere Tage, die den Schnee die wachsende Kraft der Sonne verspüren ließen; dann hub ein Stürmen und Tosen an rings um das kleine Haus, der schwüle Föhnwind brauste durch den steilen Forst, daß die Bäume ächzten und die Erde schütterte, und auf den felsigen Höhen grollten die dumpfen Donner der stürzenden Lawinen. Die Stürme vertobten, klare Bläue wölbte sich über Berg und Tal, bei Veilchenduft und Vogelgezwitscher lächelte der milde Frühling, und wieder zogen Vater und Kind hinaus in den grünenden Bergwald. Drei Winter schwanden ihnen so, und Veverl war acht Jahre alt geworden, als ihres Vaters Schwester, die Mariann, das ›große Glück‹ machte. Da drängte nun der Finkenbauer den Schwager, mit seinem Kind zu ihm ins Dorf zu ziehen; der konnte sich ein Leben fern von seinem Wald nicht denken; er blieb, wo er war und was er war. Nicht einmal zu einem kurzen Besuch im Finkenhof konnte er sich entschließen; wenn Mariann den Bruder sehen wollte, mußte sie die sieben Stunden bergwärts fahren.

Acht neue Jahre vergingen; aus dem stillen Waldkind war das blühende, träumerische, rehäugige Mädel geworden, auf den Scheitel des Vaters aber war ein Schnee gefallen, den keine Frühlingssonne schwinden machte. Wieder hatte der Winter seinen weißen Teppich über Höhen und Tiefen gedeckt; da war es am Weihnachtsmorgen; Veverl stand unter der Tür und lockte die Vögel, die im Froste pispernd ihre Federn sträubten; der Vater hatte gemeint, auch das Wild sollte den Tag vermerken, der den göttlichen Helfer für Not und Elend geboren hatte, und so stand er am Waldsaum, klingend hallten die Schläge seiner Axt, er fällte einen Fichtenstamm, damit das Wild die saftigen Zweigspitzen äsen könnte. Krachend stürzte der Baum und streifte im Stürzen eine Buche, wodurch ein schwerer Ast gebrochen und seitwärts geschleudert wurde. Mit gellendem Aufschrei flog das Mädel auf den Vater zu, der, von dem Ast auf die Stirn getroffen, lautlos niedersank auf den Grund, dessen weißer Schnee von dem strömenden Blut sich rötete. Jammernd warf sich das Kind über den Vater, rüttelte mit den kleinen Händen seinen blutenden Kopf und rief ihn schluchzend mit allen Namen der Zärtlichkeit. Als sein Auge starr blieb und stumm sein Mund, zeigte sich in Eva die Tochter dieses Vaters; mit Gewalt überwand sie ihre Tränen, der hundertmal gehörten Lehre denkend, daß der Seele eines Toten die um ihn geweinten Tränen brennendes Weh bereiten. Dennoch brach sie noch einmal in lautes Schluchzen aus: als ihr bei dem Versuch, den Entseelten in das Haus zu bringen, die Kräfte versagten. Da eilte sie in die Stube, nahm das kleine Kruzifix aus dem Herrgottswinkel, kehrte zum Vater zurück, faltete ihm die Hände über der Brust und legte das Kreuz zwischen seine erstarrenden Finger. Dann machte sie sich auf den Weg nach Mariaklausen. Acht Stunden brauchte sie, bis sie das nur eine Wegstunde höher gelegene Kirchlein mit dem Kaplanhause in Sicht bekam; häufig, wenn sie bis über die Brust in den tiefen Schnee versunken war, hatte die Versuchung sie angewandelt, die Hände zu falten, die Augen zu schließen und so zu harren, bis der frierende Tod ihre Seele der Seele des Vaters vereinigen würde; aber der Gedanke, daß dann der Vater unbeerdigt liegen müßte, schutzlos den hungernden Füchsen überlassen, spornte immer wieder ihre schwindenden Kräfte; den letzten steilen Hang vermochte sie nicht mehr zu erklimmen; doch war sie von den Leuten im Kaplanhause schon gewahrt worden, und die beiden Widumsknechte kamen ihr zu Hilfe.

Als Veverl vor dem alten Kaplan in der mönchisch kahlen Stube stand, versagten ihr fast vor Entkräftung die Worte. Die bejahrte Wirtschafterin nahm ihr das vom Schnee durchnäßte Gewand ab, wickelte sie in warme Decken und brachte sie zu Bett; inzwischen stiegen die beiden Widumsknechte zum Waldhaus hinunter; spät in der Nacht erst kehrten sie mit dem starren Schläfer zurück, und sie wußten nicht genug zu reden von der wundersamen Gesellschaft, in der sie den Toten gefunden. Rings um ihn hätten die Bäume gewimmelt von Vögeln; Hirsche und Rehe hätten ihn im Kreis umstanden; auf seiner linken Schulter wäre ein weißer Vogel von Taubengröße gesessen, wie sie ihrer Lebtag noch keinen gesehen, und der hätte mit menschlicher Stimme zu dem Wild geredet; als sie sich genähert, hätte sich der Vogel pfeilgerad in die Luft erhoben, das Wild aber hätte sich nicht vertreiben lassen, und während sie den Toten bergwärts trugen durch die Nacht, hätten sie bald hinter sich, bald seitwärts im Walde trippelnde Schritte gehört, so daß es ihnen ganz unheimlich geworden wäre und sie sich ein um das andere Mal bekreuzt hätten. Veverl konnte den beiden Knechten nicht erklären, daß jener seltsame Vogel ihr ›Hansi‹ gewesen, eine weiße Dohle, die der Vater gezähmt und abgerichtet hatte, nachdem er sie im vergangenen Frühling unter dem Nest gefunden, aus dem die alten Vögel das in der Farbe mißratene Junge gestoßen hatten – denn als die beiden Knechte den Toten in das Kaplanhaus brachten, lag Veverl in glühendem Fieber. Der Kaplan und seine Wirtschafterin pflegten sie. Als die Kranke nach langen Fiebertagen zum Bewußtsein erwachte, erzählte sie, daß sie durch Tage und Nächte den Vater auf ihrem Bett habe sitzen sehen, mit verklärten, lächelnden Zügen und in weißem, schimmerndem Gewand, daß er ihr liebevollen Trost zugesprochen und süße, wohltuende Arzneien gereicht hätte.

Ihr erster Ausgang führte sie hinüber in den Friedhof; neugefallener Schnee verhüllte das junge Grab. Auch jetzt verblieb sie im Kaplanhaus; unter ihrem eigenen Dache hätte sie so allein für sich ein trauriges Wohnen gehabt, und der Verkehr mit dem Dorfe war durch den hohen Schnee seit Monaten völlig unterbrochen. Zu Anfang des März erst konnte man der Finkenbäuerin die Nachricht von dem Tod ihres Bruders senden; wenige Tage später erschien der Bauer in Mariaklausen, um sein Schwagerkind mit sich ins Tal zu führen. Wenig war es, was Veverl aus dem väterlichen Haus, von dem sie unter Tränen schied, mit sich nehmen konnte; von ihrem ›Hansi‹, der ihr im wörtlichsten Sinn des Wortes eine sprechende Erinnerung an den Vater gewesen wäre, war schon bei ihrem ersten nach der Genesung vollführten Besuch im Waldhause nichts mehr zu sehen und zu hören gewesen, obwohl sie den Namen des Vogels hundertmal hinausgerufen hatte in den Wald.

Gegen Abend langten sie im Dorfe an; als Veverl die ›fürchtig vielen‹ Häuser sah, wußte sie sich vor Staunen kaum zu fassen; es erging ihr, wie es dem Dörfler ergeht, der zum erstenmal die Großstadt sieht. Aber auf dem Finkenhof hatte sie ein leichtes Sicheingewöhnen; sie wußte sich alle Leute durch ihr stilles Wesen rasch zu Freunden zu machen; und überdies waren da noch drei Leutchen, die das Veverl anbeteten; die beiden Kinder und Dori. Freilich, das kleine Waldhaus tief in den Bergen da hinten, mit allem, was darin und darum war, das konnte ihr der prächtige Finkenhof nicht ersetzen. Und ihr Vater fehlte.

Wenn der Finkenbauer von diesen Dingen auch nicht mit besonderer Ausführlichkeit erzählte, so bekam Herr Simon Wimmer doch so viel zu hören, daß er immer wieder Veranlassung fand, den Bauer mit den staunenden Worten zu unterbrechen: »Ja, was isch denn dös! ja, was isch denn dös!« Gidi erhob sich und verließ die Stube unter dem Vorwand, nach dem Wetter auszuschauen. Draußen im Flur zeigte er keine Eile, einen Blick auf den Himmel zu werfen; immer spähte er nach der offenen Küchentür; als er sich nähern wollte, wurde sie ihm von unsichtbarer Hand vor der Nase ins Schloß geworfen. Gidis Gesicht verfinsterte sich, hellte sich aber gleich wieder auf, als er hinter der Tür das Kichern der beiden Kinder und Doris flüsternde Stimme vernahm. Er horchte, und was er da zu hören bekam, das machte ihn lächeln; dieses Lächeln verstärkte sich noch, als er die Stube wieder betrat und den Herrn Kommandanten mit zwinkerndem Blick betrachtete. Nun folgte eine Viertelstunde, in der Herr Simon Wimmer viel von Gidi zu leiden hatte. Vorerst begann der Jäger von mancherlei Mädeln des Dorfes zu sprechen, deren Namen allein schon genügten, um den Herrn Kommandanten in mißbehagliche Unruh zu versetzen. Dann kam Gidi auf das ›Fräulein Hanni‹ zu reden und wußte nicht genug davon zu sagen, wie sehr ›der Zukünftige von der Finkenhofschwester zu neiden‹ wäre. Herr Simon Wimmer schien auf einem unbequemen Stuhl zu sitzen; dabei verhielt er sich schweigsam und spickte nur manchmal die Worte des Jägers mit einem gezwungen klingenden ›Didididi!‹. Doch seine Unruh wich einer ungeteilten Aufmerksamkeit, als er den Jäger sagen hörte: »Wann ich mich tragen tät mit Heiratsgedanken, ich tät mich mit alle zwei Händ anhalten am Finkenhof. Wann ich mir auch zehnmal sagen müßt, daß d' Hanni für mich net gwachsen is! Sein Weiberl aus'm Finkenhof aussi holen, dös heißt, a Numero ziehen! Es müßt ja net grad d' Hanni sein! 's Veverl is bald im besten Alter, und gelt, Finkenbauer, da wirst dich net spotten lassen, wann der Kammerwagen von deim Schwagerkind aussi fahrt aus'm Finkenhof.«

»Dös versteht sich! Didididi!« fiel Herr Wimmer mit Feuer ein und pries die ›großmütige Nobligkeit‹ des Finkenbauern, der diese Lobrede mit Geduld über sich ergehen ließ. Man konnte es dem Bauern ansehen, daß er an andere Dinge dachte; er gewahrte kaum, daß ihm Gidi lustig zublinzelte und verstohlen mit dem Daumen nach dem vor Eifer glühenden Gesicht des Kommandanten deutete. Jörg atmete erleichtert auf, als Herr Simon Wimmer sich endlich zum Abschied erhob. »Wart, ich heiz ihm noch a bißl ein auf'm Heimweg!« wisperte Gidi dem Bauer zu; dann nahm er seine Büchse und den Rucksack von der Ofenbank.

»Geh, laß!« erwiderte Jörg. »Der is imstand und redt der Vevi was für, an was dös Madl noch net denken soll.«

Vom Hausflur klang die Stimme des Kommandanten herein: »Ja, was isch denn jetzt dös? Wo isch denn mein Gwehrle, mein Gwehrle? Da hab ich's hergestellt ghabt, da her ins Eckele, und jetzt isch dös Gwehrle nimmer da!« Jörg und Gidi unterstützten Herrn Wimmer bei der Suche nach seiner ärarialischen Mordwaffe. Aus einem in der Küche stehenden Kehrichtfäßl wurde sie endlich zum Vorschein gebracht. Veverl war es, die auf die richtige Fährte half, denn sie erinnerte sich, daß sich die beiden Kinder in der Küche was zu schaffen gemacht hatten; ihre Vermutung, daß Dori die Kinder zu diesem Schabernack verleitet haben dürfte, verschwieg sie. Veverls Dazwischenkunft schien Herrn Wimmers Groll über den seiner Amtswürde gespielten Streich zu besänftigen. In plump galanten, mit zahlreichen Didididis beträufelten Redewendungen bedankte er sich bei dem Mädel, das verwundert zu ihm aufblickte. Schon krümmten sich seine Weißwurstfinger dieser blühenden Wange entgegen, als Gidi die erhobene Hand des Herrn Kommandanten haschte, um den am Zeigefinger steckenden Granatring besser betrachten zu können; er zog sogar an diesem Zeigefinger die ›öberste Aufsichtsbehörde‹ hinter sich in den Hof hinaus, um für die Betrachtung des Ringes besseres Licht zu gewinnen. Kaum hatten sie die Schwelle überschritten, als an der Hausecke die zwei Kinder erschienen, jedes geschoben von einem langen, rasch wieder verschwindenden Arm; mit kreischenden Stimmchen begannen sie nach einer Melodie, die mit dem Anfang des Radetzkymarsches eine entfernte Ähnlichkeit hatte, zu singen:

»Dös isch der schwäbisch Simmerle,
Isch zubenamset Wimmerle,
Hat auf der Nas e Schimmerle
Und drauf e kloins Wim-mer-le!«

Kichernd huschten die Kinder um die Hausecke, hinter der noch flüchtig etwas sichtbar wurde, das einer Ohrmuschel von abnormer Größe ähnelte. Gidi lachte. Auch Herr Wimmer, obwohl sein Gesicht von dunkler Zornröte überputert war, stimmte mit seinem Didididi in dieses Lachen ein; er hielt sogar den Finkenbauer zurück, der die zwei kleinen Schelme zur Rechenschaft ziehen wollte. »Lasse Sie's doch, Herr Fink, lasse Sie's doch!« sagte er. »Sie sehen, ich lach ja selber drüber! Didididi! So ein Paar liebe Schneckerle verzeiht man gern e kloins Späßle.«

Jörg, der selbst nur mit Mühe das Lachen verbiß, gab dieser Fürbitte gern Gehör; während er seine beiden Gäste zum Zauntor geleitete, verteidigte er sogar die Kinder und schob die ganze Schuld auf den leicht zu erratenden Anstifter, auf diesen verflixten Dori. »Aber was hast denn?« wandte er sich plötzlich an den Jäger. »Kegelst dir ja schier den Hals aus!« Und leise fügte er bei: »Die Enzi siehst heut nimmer, da mußt schon warten bis morgen.«

»Macht nix!« erwiderte Gidi. »'s Hinwarten hat noch kein' Jager net verdrossen, wann's a richtiger war. An alter Jagerspruch sagt: An guten Hirsch mußt derwarten, net derlaufen!«

Jetzt setzte Herr Wimmer zu seiner Abschiedsrede ein, deren Ende wohl kaum ›zum Derwarten‹ gewesen wäre, hätte nicht Gidi sich ins Mittel gelegt und den Herrn Kommandanten durchs Tor geschoben. Neben dem festen Schritt des Jägers würmelte Herr Simmerle Wimmerle mit seinen verliebten Beinen über die Straße.

Langsam wanderte Jörg dem Hause zu. »Dori!« rief er mit einer Stimme, deren Klang dem Burschen wenig Gutes verhieß. Dennoch kam er auf den Ruf wie ein Wiesel um die Hausecke geschossen. »Du! Jetzt will ich dir was sagen! Meinetwegen treib du deine Unfürm für dich selber, solang als d' magst! Aber daß du mir meine Kinder zu Dummheiten anhaltst, dös verbitt ich mir. Und daß dir's merkst –«

Dori knickte zusammen wie ein Taschenmesser und sah mit einem so verdutzten Armesündergesicht an Jörg hinauf, daß dieser die schon erhobene Hand wieder sinken ließ und von dem Burschen sich abwenden mußte, um nicht in Lachen auszubrechen. Mit zerknirschtem Gesicht schlich Dori davon. Als er die Hausecke erreicht hatte, war die Reue verflogen, und vergnüglich nickte er vor sich hin: »Jetzt is doch auch amal a Tag vergangen, ohne daß ich a Tachtel kriegt hab.«

Jörg war zur Haustür gegangen. Da sah er einen Mann in blauer Jacke und Mütze auf das Haus zukommen; es war ein Postbote, nicht der gewöhnliche, der täglich die Briefe und Zeitungen in das Dorf brachte.

»Bin ich da recht? Beim Bauer Georg Fink?«

»Ja, ganz recht!« erwiderte Jörg, schon die Hand nach dem Briefe streckend, von dem der Bote den Namen des Bauern abgelesen hatte.

»Da hab ich an Expreßbrief, kostet a Mark achtzig Pfennig für direkte Zustellung.«

»Is a bißl viel!« murmelte Jörg zerstreut. Er griff in die Tasche und zählte dem Boten das Geld hin. Dann ging er in die Stube. Immer sah er die Adresse an, als hätte er nicht den Mut, den Brief zu öffnen. Auf den ersten Blick hatte er die kraus durcheinanderfahrende Schrift seiner Mariann erkannt. Eine Mark achtzig! Was mußte ihm da die Mariann zu schreiben haben! Endlich schüttelte er in Unwillen über sich selbst den Kopf. Der Gidi, dachte er, wird das Richtige getroffen haben. Trotz ihrer rühmenswerten Pünktlichkeit hat sich die Mariann in der Stadt aufhalten lassen; und da war nichts natürlicher, als daß sie durch einen flinken Brief ihren Jörg aller Sorgen enthob. So dachte er noch, als er den Brief schon geöffnet hatte. Doch als er auf dem Blatt die Tränenspuren gewahrte, unter denen die Schriftzüge verschwammen, wußte er, daß er noch Schlimmeres erfahren würde, als er selbst gefürchtet hatte. Seine Mariann? Und Tränen? Die Hände zitterten ihm, als er das Blatt näher an die Augen hob. Da verfärbte sich sein Gesicht, und tastend suchte seine Hand nach einer Stütze. Schwer sank er auf die Holzbank hin und stammelte: »Jesus, wie kann denn so was gschehen!« Wieder hob er den Brief. Keuchend ging sein Atem.

Lange schon hatte er zu Ende gelesen, und noch immer starrten seine Augen auf das Blatt. Dann plötzlich schlug er die Hände an die Schläfe, und in lautem Aufstöhnen, das den ganzen Körper des Mannes erschütterte, brach es von seinen Lippen. »Hanni! Hanni! Mein armer Ferdl!« Die Fäuste sanken ihm über den Tisch, und schluchzend barg er das Gesicht in den Armen. Lange lag er so, sein Schluchzen verstummte, doch immer wieder rann ihm ein Schauer über den Leib. Er schien nicht zu hören, daß die Tür sich öffnete und Veverl die Stube betrat. Sie mochte glauben, daß der Bauer schliefe; ruhig trat sie auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Jörgenvetter?«

»Was willst?« fuhr der Bauer auf mit heiserem Laut.

Erschrocken blickte Veverl in dieses verstörte, vom Schmerz verwandelte Gesicht und auf die zuckenden Hände, die in scheuer Hast ein zerknülltes Blatt zu verstecken suchten.

»Was willst?«

Das Veverl brachte es kaum heraus: »Den Tisch hab ich decken wollen, 's Abendessen ist fertig.«

»Soso?« stammelte Jörg. »Ja, schau nur, daß die Kinder ihr Sach richtig kriegen. Auf mich brauchst net warten mit'm Essen. Ich muß heut noch an Weg machen.« Taumelnd, wie ein Betrunkener, ging er auf einen Wandschrank zu und versperrte den Brief. Dann griff er nach dem Hut.

Tonlos fragte das Veverl: »Is der Jörgenvetter krank?«

Der Bauer schüttelte den Kopf und verließ die Stube. Als er die Schwelle der Haustür überschritt, streifte eine niederhängende Ranke seine Wange; er hob die Augen. ›Willkommen!‹ las er da oben zwischen Grün und Blumen. In Jähzorn streckte er den Arm und riß die Inschrift mit den Blumen vom Gebälk, trug sie in die Küche und warf sie ins Herdfeuer. Unbeweglich sah er zu, wie die Flamme das Fichtenreis und die Blumen ergriff und die Inschrift unter Ruß erlöschen machte. Als er der Schwelle wieder zuschritt, sprangen ihm die Kinder entgegen. Wortlos hob er sie zu sich empor, preßte sie an seine Brust und ließ sie wieder niedergleiten zur Erde. Er sah nicht, daß Veverl unter die Tür trat, hörte nicht, wie die Kinder das Mädel mit den Worten bestürmten: »Veverl, was hat denn der Vater?« In Hast verließ er das Haus und eilte der Straße zu.

Das Kinn auf der Brust, die Hände der hängenden Arme zu Fäusten geballt, wanderte er durch das abendstille Dorf. Die Leute, die ihm begegneten, grüßten freundlich; er sah ihre Grüße nicht und ließ sie ohne Dank. »He, Finkenbauer«, rief ihm einer nach, »warum bist denn gar so stolz heut? Hast an guten Handel gmacht?« Jörg hörte die lachenden Worte nicht. Als er vor der Schwelle des Pfarrhofes die Glocke zog, hob er zum erstenmal die Augen.

Mit dumpfem Hall fiel hinter ihm die Tür ins Schloß.

Längst war die Sonne hinuntergegangen, und tiefe Dämmerung webte über den rauchenden Dächern, als Jörg aus dem stillen Hause wieder auf die Straße trat. Ihm folgte der alte Pfarrer im langen Talar, auf dem Scheitel das kleine, schwarze Käppchen, das von einem Kranz schneeweißer Haare umzogen war. Die milden Züge des greisen Priesters sprachen von tiefer, schmerzlicher Bewegung. Er legte dem Bauern die Hand auf die Schulter: »Geh jetzt nach Hause, Jörg, und suche Ruh' und Ergebung zu finden. Du weißt, Einer ist über uns, dessen Wille geht vor unseren Wünschen und unserer Liebe.«

»Ich spür's, ich spür's!«

»Wie dein Herz an den beiden hing, das weiß ich! Und ich selbst dank es meinem Gott, daß meine selige Schwester diesen Tag nicht hat erleben müssen. Wir, Jörg, wir beide, wir müssen uns als Männer zeigen! Weißt du, leben heißt leiden. Aber wir sind Christen! Gelt, Jörg? Gute Christen? Und siehst du, da müssen wir es auch in blutigen Tränen dem Heiland nachtun und müssen sagen: ›Herr, dein Wille geschehe!‹ Sieh, mein armer Jörg, ohne seinen Willen fällt kein Haar von unserem Haupt, kein Sperling von unseren Dächern. Er erforscht die Nieren der Menschen und sieht alles Kommende, und so erkennt er das Beste und wirkt es durch seinen Willen.«

»'s Beste, Hochwürden, 's Beste? Ich bin nur ein einfältiger Mensch. Aber viel kunnt ich mir denken, was besser wär.«

»Ja! Ein einfältiger Mensch! Und da willst du deine Einfalt über die ewige Weisheit stellen? Geh, Jörg, geh heim und sieh deine lachenden Kinder an und dein stattliches Haus! Und danke dem Herrn für alles, was er dir gegeben und dir gelassen hat. Geh, Jörg! Was für morgen noch zu besorgen ist, das will ich schon auf mich nehmen. Und morgen – morgen soll das geschehen, als wäre alles gut und richtig. Was du dem alten Freund vertraut hast, das braucht der Pfarrer nicht zu wissen.«

»Hochwürden!« stammelte Jörg mit heißem Dank. »Ich hätt nie den Mut gefunden, um soviel z' bitten! Und lügen hätt ich net können. Aber jetzt, Hochwürden –« Die Worte versagten ihm, als er die welke Hand des Priesters küßte.

»Jörg!« wehrte der Pfarrer, seine Rechte aus den Händen des Bauern lösend. »Geh nach Hause! Es ist spät geworden, und ich habe noch manches zu besorgen. Gute Nacht, Jörg!«

»Gut Nacht!« Noch einmal umfaßte Jörg die Hand des Pfarrers mit festem Druck. Dann ging er die Straße hinunter.

Lange sah der Greis ihm nach; dann neigte er den weißen Kopf und flüsterte vor sich hin: »Herr, wie machst du es den Menschen manchmal schwer, an deine Güte zu glauben!« Während er dem gegenüberliegenden Schulhaus zuging, blickte er unablässig die Straße hinunter, dem leidbeladenen Manne nach, der langsam hinschritt durch das stille Dorf.

Noch hatte Jörg seinen Hof nicht erreicht, als das Abendgeläut mit sanftem Klang vom Kirchturm hinausscholl über das nebeldampfende Frühlingstal. Jörg nahm den Hut herunter und faltete bei zögerndem Weiterschreiten die Hände. Das Geläut verstummte. Jörg hob wie in ängstlichem Lauschen den Kopf. Jetzt schauerte er zusammen, als wäre ihm der Ton der Glocke, die nun zu läuten anhub, durch Mark und Bein gegangen. Es war der dünne, wimmernde Ton des Zügenglöckls.

An den Häusern öffneten sich die Fenster, aus den Türen traten die Leute und sammelten sich auf der Straße zu kleinen Gruppen mit durcheinander schwirrenden Fragen.

Wer konnte gestorben sein, da doch niemand im Dorf schwerkrank darniederlag? Hat es ein Unglück gegeben? Wen mag es getroffen haben? Oder war noch Schlimmeres geschehen? Verbrechen und Mord?

Niemand wußte eine Antwort. Der sie hätte geben können, ging wortlos seiner Wege, heimwärts, dem Finkenhof zu.


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