Ludwig Ganghofer
Edelweißkönig
Ludwig Ganghofer

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13

Der Grafenjäger vom Valtl durch die Brust geschossen! Die Jagdhütte niedergebrannt! Der Finkenbauer als Schmuggler verhaftet, auf die Verdächtigungen des Knechtes hin, den der Bauer vom Hof gejagt! Das ging wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus. Das ganze Dorf war in Erregung. Dieser Aufruhr gipfelte unter dem pomadisierten Haardach des Brennerwastl. Der schrie sich in Entrüstung die Kehle heiser. Und als sich das Gerücht verbreitete, daß man bei grauendem Morgen durch die Wiesengärten einen Menschen hätte schleichen sehen, der ›akrat wie der Valtl ausgschaut‹ hätte, war es für Wastl eine feste Sache, daß Valtl sich im Dorfe verborgen hielt. Nun fing der Bursch ein Hetzen und Schüren an, führte als zweites Wort die allgemeine Sicherheit im Mund, und es gelang ihm wirklich, eine Schar aufzubringen, die einen Akt der Volksjustiz zu üben gedachte. Sie zogen vor den Leitnerhof, umzingelten das Haus und durchsuchten es bis auf den letzten Winkel. Erfolglos. Jetzt war es wieder der Brennerwastl, der den Verdacht aussprach, ob sich Valtl nicht gerade dort verborgen haben könnte, wo man ihn am wenigsten vermuten möchte: im Finkenhof, in dem der ehemalige Knecht jeden Schlupf und Winkel kannte wie seine Tasche. Mit dieser Weisheit erntete Wastl ein spöttisches Gelächter. Der erste Mißerfolg hatte die Gemüter abgekühlt, und so wurde einstimmig ein friedlicher Vorschlag angenommen: Man zog unter Singen und Johlen ins Wirtshaus. Wastl wütete. Vielleicht hätte er seinen Willen doch noch durchgesetzt, wenn nicht ein Menschenauflauf auf der Straße alle Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätte.

Man brachte den Gidi von der Brünndlalm. Die Emmerenz ging neben der Bahre. Den Trägern folgte Luitpold mit dem Doktor. Mehr noch als den Verwundeten staunten die Leute den jungen Grafen an, der in dem grauen Wettermantel und unter dem grobfilzigen Bauernhut ein sonderbares Bild gewährte.

Am Abend reiste Luitpold in die Stadt, nachdem er vom Arzt erfahren hatte, daß Gidis Verwundung zwar eine bedenkliche sei, daß aber bei der eisernen Gesundheit des Jägers und bei der trefflichen Pflege, die ihm in Aussicht stand, das Beste zu hoffen wäre.

Ums Gebetläuten kam die Enzi in den Finkenhof. »Gelt, Bäuerin«, sagte sie, »dös siehst ein, daß mich mein Gidi im Jagerhäusl nötiger braucht als wie der Finkenbauer auf der Brünndlalm. Mußt halt über a paar Wochen an Aushilf auffischicken.«

Am anderen Morgen wackelte die Waben hinauf zur Almhütte. Als Dori, der unter der Hüttentür stand, die Alte über das Almfeld ›daherknotschen‹ sah, fuhr er sich mit beiden Händen hinter die Ohren: »Uijech! Die Waben! Jetzt is's gut! An alts Weib muß mir auch noch übern Weg laufen! Da is mir's Unglück sicher!« Trübselig guckte er der Näherkommenden entgegen.

»Schöne Sachen passieren daheroben!« pfiff es durch die Zahnlücken der Alten.

»Drunt muß auch net alles bei Verstand sein. Sonst hätten s' net dich da auffigschickt!« Dori verschwand in der Hütte.

Keifend folgte ihm die Alte. Als sie das vergrämte Gesicht des Buben sah, fragte sie doch mit Sorge, was ihm fehle.

»Nix!«

»Ssssso?« sagte sie, erkundigte sich nach dem Befinden der Kühe und begann vom Unglück des Finkenbauern und von der ›gspaßigen‹ Krankheit zu erzählen, von der das Veverl befallen worden wäre. »Gestern in aller Fruh, da hör ich d' Finkenbäuerin in der Stub drin schreien: ›Waben, Waben, Waben!‹ Und wie ich einikomm, liegt 's Madl auf'm Stubenboden. Schier a Stund hat's braucht, bis s' wieder d' Augen aufgmacht hat. Und seit der Zeit is 's Madl wie verwandt. Mit keim redt's a Wörtl, und allweil steht ihr 's Wasser in die Augen!«

Wortlos zappelte Dori auf den Heuboden hinauf, holte die Kraxe herunter und begann sie in Hast mit dem Almgewinn der letzten Tage zu beladen.

»Was treibst denn da?« staunte die alte Waben.

»Abtragen muß ich!« Dori sprach kein Wort mehr, bis er die Hütte verließ.

Je weiter er sich von der Alm entfernte, desto hetzender wurde sein Schritt. Auf dem ganzen Weg vergönnte er sich keine Sekunde Rast. Als er aus dem Wald auf die Wiesen trat, tropfte ihm der Schweiß vom Gesicht, und sein Atem rasselte.

Schon näherte er sich der Höllbachmühle. Da stutzte er plötzlich. Hurtig stellte er die Kraxe nieder, duckte sich und schlich zum Ufer des Baches hinüber. Hinter einem der Erlenbüsche, mit denen das Ufer bewachsen war, verbarg er sich. Ein Fuchs, der den zum Opfer auserlesenen, schöngefiederten Gockel belauscht, kann nicht gieriger funkelnde Augen haben, als Dori sie machte, während er durch das Buschwerk die Bewegungen des sechsjährigen Müllersöhnchens verfolgte, das keck über den schwankenden Balken hin und her spazierte, der unterhalb des Mühlausflusses den schäumenden Bach überspannte. Sooft das Bürschl ein bißchen wackelig wurde, zuckte in Doris grinsender Hoffnungsfratze die Freude auf, die sich wieder verfinsterte, sobald der kleine Übermut mit schlagenden Armen das Gleichgewicht zu gewinnen wußte. »Schad! Jetzt hätt's ihn aber schiergar grissen!« Zwischen Sehnsucht und Enttäuschung hin und her geschüttelt, lauerte Dori, bis ihm ein unwillkommener Christengedanke sagte, was er da tat. »Ich bin einer! Kann da sitzen und drauf spechten, ob net dem armen Schluckerl a Sauerei passiert! Jetzt gehst mir aber!« Grimmig schoß er aus den Stauden heraus. Das Bübl auf dem Balken hörte die Büsche rascheln, sah ein bleiches Geistergesicht mit großem Maul und noch größeren Ohren, erschrak darüber, geriet ins Wackeln und plumpste mit grillendem Schrei vom Balken in die milchigen Wellen.

»Jetzt hat's ihn! Halleluuuija!« jubelte Dori und sprang mit glückseligem Satz dem Buben nach in den Bach. Hurtig erwischte er ihn bei dem nach oben gedrehten, zu einer Luftblase aufgeschwollenen Hosenboden und zerrte den kleinen Kerl ans Ufer, wo er ihn herzte und busselte, daß dem Buben Hören und Sehen verging. Dann ließ er das triefende, heulende Knirpsl stehen und rannte davon über die Wiese. Neben der Kraxe warf er sich ins Gras, wälzte sich wie ein Pudel und brüllte in Freude: ›Ich hab eim Menschen 's Leben grett! Jetzt därf ich selber wieder leben! Mei' Sünd is gutgmacht und vergeben! Ich hab mir's Leben wieder gwonnen! Mein Leben! Mein blutjunge Leben!« Kaum versiegen wollten die Tränen seines Glückes. Als er sich endlich erhob, sah er vergnügt an seinem plätschrigen Gewand hinunter. »So kann ich net gut ins Ort eini! Da muß ich mich z'erst a bißl trücknen!« Er nahm die Kraxe auf und lief zum Waldsaum. Hier hängte er seine Joppe über einen Fichtenboschen, dazu das Hemd und die Kurzlederne, machte sonderbar unästhetische Tanzbewegungen und streckte sich, nur noch bekleidet mit Wadlstutzen und Nagelschuhen, ins linde Moos, auf das die Sonne ihre brennende Mittagshitze herunterbullerte. Besonders schön und reizvoll sah der Dori als ›fünfvertelnackichtes Adämle‹ nicht aus. Man hätte glauben mögen, daß er in einer Zeit erschaffen worden wäre, in der sich der liebe Gott über die Gestalt des zukünftigen Menschen noch nicht völlig im klaren war und sie beim ersten mißglückten Experimente formen wollte als eine in die Länge gezogene Mischung aus Spinne und Wäschekluppe. Schönheit war am Dori nur innerlich vorhanden. Sehr reichlich sogar. Trunkene Freude füllte sein Herz, wundersame Lebensbilder gaukelten vor seiner Seele, eine rieselnde Wärme begann in seinem Körper zu erwachsen, und das tat ihm so wohl, daß er in Behagen die Lider schloß und die rätselhaft gedrechselten Knochen dehnte. Stunde um Stunde verrann. Als er aus dem Schlaf erwachte, der ihn wider Willen überkommen hatte, lag schon die Abenddämmerung über Berg und Tal. Erschrocken fuhr er in die gründlich getrockneten Kleider, packte die Kraxe und fing zu rennen an, so besessen, daß die erwärmte Butter auf seinem Buckel sich vorzeitig in Schmalz verwandelte.

Im Finkenhof sah er durch die erleuchteten Fenster des Dienstbotenhauses die Ehhalten bei der Schüssel sitzen. Auch die Stubenfenster des Wohnhauses waren erleuchtet. Die Haustür fand er verschlossen. Er pumperte, und die Bäuerin öffnete ihm. Sein erstes Wort war eine Frage, wie die Sache mit dem Finkenbauer stünde? »Es wird sich schon alles wieder machen!« gab Mariann kleinlaut zur Antwort.

»Und wo is denn 's Veverl?«

»Die is schon droben in der Kammer.«

»So? Wie ich von der Waben ghört hab, wär's Veverl krank?«

»Ah na! Doch weiter! Jetzt is kei' Zeit net zu eim Diskurs im Hausgang. Lad dei' Kraxen ab und trag alles in'n Keller abi.« Sie schritt ihm voraus in die Küche, entzündete ein Kerzenlicht und gab es ihm. Dann kehrte sie in die Stube zurück, während Dori die Kellertreppe hinunterstieg. Als er drunten seine Last auf die Fliesen gestellt hatte, lauschte er zum Hausflur hinauf und brachte aus der Kraxe ein zierliches Sträußl von Edelweißblüten zum Vorschein. »Ich steck's ihr hinter die Türschnall, da findt sie's gleich in aller Fruh!« Er streifte die Schuhe von den Füßen, huschte lautlos hinauf in den dunklen Hausflur und zur Treppe, die nach dem oberen Stockwerk führte. Auf der Treppe blieb er erschrocken stehen – er sah an Veverls Kammer die Tür offen, sah auf der Kommode den Leuchter mit der brennenden Kerze stehen. Schon wollte er geräuschlos den Rückzug antreten, da hörte er über sich aus einer Ecke des Ganges eine zischelnde Stimme: »Ich rat dir's im guten, tu kein' Muckser, vor ich net draußen bin aus'm Haus!« Das Blut wollte ihm gerinnen beim Klang dieser Stimme. Er spähte durch die Geländerstäbe dem Winkel zu, aus dem er sie gehört hatte – sah das Mädel zitternd an die Wand gedrückt und vor ihr die dunkle Gestalt des Burschen, den er an der Stimme erkannt hatte, bevor er noch in dem halben Dunkel die scharfen Züge und den langen Schnurrbart gewahrte. »Lump, du gottverfluchter!« kreischte Dori und sprang die Treppe hinauf. Als er die oberste Stufe erreichte, warf Valtl sich über ihn. Dori brach unter der Wucht dieses Stoßes in die Knie, im Stürzen riß er den Burschen mit sich nieder, und die beiden kollerten mit Gepolter die Treppe hinunter bis auf die Steinplatten des Hausflurs. Unter Hilferufen eilte Veverl auf die Treppe zu, hörte einen stöhnenden Schrei des Dori und sah, wie Valtl die Haustür aufriß und wie ihm Dori mit beiden Fäusten schon wieder an der Gurgel hing.

Da flog die Stubentür auf, und die Mariann erschien auf der Schwelle. »Um Gotts willen! Was is denn?«

»Der Dori und der Valtl!« stammelte Veverl. »In meiner Kammer bin ich gwesen, hör an Schritt auf der Dachbodenstieg, will nachschauen, und wie ich die Tür aufmache steht der Valtl vor mir und halt mir 's Messer hin.«

»Jesus!« schrie die Bäuerin. Sie sprang zur Haustür hinaus, sah einen dunklen Knäuel, der sich über den Hof hin gegen die Straße balgte, und hörte Doris röchelnde Stimme: »Du willst der Veverl ebbes anhaben? Du? Du willst der Veverl ebbes anhaben?« In ihrer Sorge kreischte Mariann in die Nacht hinaus: »Leut! Leut! Leut!«

Da rannten sie aus dem Gesindehaus herbei, aus allen Nachbarhöfen, mit Stöcken, mit Lichtern. Alle sprangen der Straße zu. Und da fanden sie den Valtl ausgestreckt auf dem Boden, das blutige Messer in der zuckenden Faust, an der Kehle gewürgt von Doris Händen, der über ihm lag mit der unbegreiflichen Form eines krampfhaft zuckenden Körpers. Die Weiber schrien, während die Männer sich über die beiden warfen. Einer zerrte das Messer aus Valtls Hand, die anderen suchten den Dori aufzurichten. Der hing mit seinen Fäusten an Valtls Hals verklammert, und immer schrillte es von seinen Lippen: »Du willst der Veverl ebbes anhaben? Du? Du willst der Veverl ebbes anhaben?« Er verstummte auch nicht, als es den Männern endlich gelang, ihn fortzureißen gegen den Straßenrain. Die anderen sprangen auf Valtl zu, um ihn dingfest zu machen. Erschrocken wichen sie zurück, als der Knecht keine Hand zur Abwehr regte. Leblos lag Valtl auf der Straße, erdrosselt von Doris Fäusten.

Jetzt erlosch auch das Geschrei des Dori in gurgelndem Stammeln. Aus dem wirren Lärm hörte man eine Frauenstimme: »Jesus, Maria, es reißt ihn um!« Und einer der Männer schrie: »Es rinnt ja 's Blut von ihm abi wie lauter Bacherln!«

»Holts den Pfarr! Tragts ihn eini ins Haus! Laufts um an Dokter!« schrillten die Stimmen der Leute, die den blutenden Buben umstanden.

Der Schmied drängte sich durch den Kreis, hob den Dori vom Boden auf und trug ihn zur Gesindestube. Hier legte er ihn auf die Kissen und Decken nieder, die man aus der Mägdekammer herbeischleppte und über die Dielen breitete.

Mariann rannte ins Wohnhaus hinüber, um Tücher und Essig herbeizuschaffen. Veverl kniete neben dem Dori und hielt seine Hand umschlossen. Ein mattes Lächeln lag um den blassen Mund des Buben, und ein feuchter Glanz war in seinen Augen. »Mußt net weinen, Veverl! Dir is nix gschehen! Heut weiß der Mensch wieder amal, daß er an hilfreichen Herrgott hat.«

»Dori, Dori!« klagte das Mädel.

»Mußt dich net sorgen, Veverl! Dös tut mir nix! Ich därf wieder leben, ich hab mir mein Leben wieder gwonnen!« Doris Stimme dämpfte sich zu mattem Flüstern. »Selbigsmal in der Nacht, eh man d' Hanni heimbracht hat, da hab ich an Streit ghabt mit'm Valtl – und wie ich zur Stuben aussi bin, is er mir nach – derwischt hat er mich net – auf an Baum bin ich auffi, drüben beim Haus – und in der Hanni ihrem Stübl hab ich dich gsehen – und angrufen hab ich dich – ganz stad – und wie dös Schüsserl zum Fenster gstellt hast und den Wecken – da hab ich gmeint, es ghört für mich – und wann er Hunger hat, der Mensch, no ja, da frißt er halt, weißt!«

In einem Röcheln erstickten seine Worte, schwer hob sich seine Brust, ein schmerzvolles Zucken flog über sein Gesicht, und tief drückte er den Kopf in das Kissen, so daß die kalkweiß abstehenden Ohren nach vorne klappten und fast die blutleeren Wangen berührten.

»Sorg dich net, Veverl – mei' Sünd is büßt. Ich därf wieder leben! Ich hab an Menschen aussigrissen aus der kalten Ewigkeit – 's Müllerbübl hab ich aus'm Wasser zogen und hab mir 's Leben gwonnen – und muß net sterben! Jetzt därf ich leben –« Immer leiser war seine Stimme geworden. Ein Zittern überrann seinen Körper, und der schwere Kopf schien zwischen den Schultern zu versinken. So lag er eine Weile regungslos. Nun streckte er sich mit lächelndem Seufzer. Und über seine lebensfrohen Augen legte sich der Schleier des Todes.

»Dori!« schrie das Veverl, während die anderen, die den stumm gewordenen Buben umstanden, mit murmelnden Stimmen zu beten begannen.

Als der Doktor kam, blieb ihm nichts anderes mehr zu tun, als die Todesursache festzustellen. Er fand in Doris Brust und Schultern sieben Stiche, jeder ausreichend, um einer Menschenseele das Türlein ins bessere Jenseits aufzusperren. Fast unglaublich erschien es, daß einer mit solchen Wunden noch die Kraft besaß, einen anderen zu überwältigen. »Der Bub muß ein Leben gehabt haben wie ein Hirsch in der Brunft«, sagte der Doktor, »oder wie ein Heiliger im Martyrium.«


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