Ludwig Ganghofer
Edelweißkönig
Ludwig Ganghofer

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7

»Was hat denn der Bauer heut?« So ging es am folgenden Morgen unter den Dienstboten des Finkenhofes mit flüsternder Frage von Mund zu Mund.

»Dös is gspaßig!« sagte der Schmied, der seit Valtls Abgang die Aufsicht über die Pferde führte, und zwar mit einer Strenge, die Dori bitter empfinden mußte. »Gspaßig! Wer ihn gestern noch gsehen hat, und wer ihn heut so bschaut, wie's ihn umtreibt im Hof, als hätt er Wieselblut in die Füß, der muß schon sagen: Dös is gspaßig, ja!«

»Werdts es schon sehen«, quiekste die alte Waben zwischen ihren Zahnlücken hervor, »und nacher könnts sagen, ich hab's gsagt! Gebts acht, dem Bauer sei' Kümmernis hat sich aus'm Herz ins Kopfgeblüt verschlagen. Da kocht sich nix Guts net aus! Werdts es schon sehen!«

»Kochen? Was wird sich denn kochen? Gwiß nix zum essen!« brummte die Stallmagd. »Von mir aus kann der Bauer sein, wie er mag! Solang ich net hungern muß und richtig mein' Lohn krieg, is mir alles andre einding.«

»Natürlich, dir auf deiner gfräßigen Bank kann gar nix an!« fertigte Dori das Mädel wütend ab. »Dir is lang schon 's Herz in'n Magen abigfallen wie a verreckter Spatz in d' Mistgruben!«

Emmerenz schwieg zu diesen Reden, verfolgte aber desto aufmerksamer und besorgter das seltsame Gebaren des Bauern.

Als wäre Jörg durch lange Zeit von seinem Hof fern gewesen und in der verwichenen Nacht erst zurückgekehrt, so ging er rastlos überall umher, betrachtete alles und fragte nach allem. Immer nur wenige Sekunden duldete es ihn auf der gleichen Stelle. Sein ganzes Wesen war Ungeduld und Unruhe. Hundertmal im Laufe des Vormittags sah man ihn die Uhr aus der Tasche ziehen, als schliche die Zeit in unerträglichem Schneckengang. Oft sah man ihn mitten im Hofe stehen, mit erhobenem Kopf, wie hinauslauschend in unbestimmte Ferne. Häufig auch gewahrte man, wie er plötzlich ohne jede Ursach zusammenfuhr und den scheuen Blick nach der Straße, über das Haus und gegen den Garten irren ließ. Dabei geschah es manchmal, daß sein Blick den forschenden Augen der Emmerenz begegnete. Dann fuhr es ihm heiß über das Gesicht.

Als Enzi kurz vor der Mittagsstunde die Straße betrat, um ein zu Schaden gekommenes Küchengerät zu einem in der Nähe der Kirche wohnenden Handwerker zu tragen, gewahrte sie, daß kurz vor ihr der Bauer den Hof verlassen hatte und ihr voraus den Weg einschlug, den sie zu gehen hatte.

Vor der Kirche lenkte er seitwärts gegen den Pfarrhof ab; da sah ihn Emmerenz plötzlich stehenblieben, das weiße, stille Haus betrachten und wieder umkehren, als hätte er die Absicht bereut, die ihn hergeführt.

Emmerenz grüßte, als er auf dem Rückweg an ihr vorüberkam; Jörg sah das Mädel nicht und überhörte den Gruß.

Lange stand sie und blickte dem Bauer nach. Als sie von ihrem Gang zurückkehrte, war Essenszeit. Bei Tisch mußte sie eine tüchtige Standrede halten, um die schwatzhaften Mäuler zum Schweigen zu bringen und ihren Untergebenen klarzulegen, daß es sich für ordentliche Dienstboten nicht schicke, gegenüber einem Unglücksfall, der die Herrschaft betroffen, in den ›nixnutzigen Tratsch‹ des Dorfes einzustimmen. Dori freilich hätte einer solchen Mahnung nicht bedurft. Von seinen Lippen kam keine Silbe, die an die traurige Geschichte der vergangenen Tage rührte.

Während der Nachmittagsstunden war der Bauer im Hofraum nicht zu sehen; Emmerenz mußte ihn suchen, als sie in einer wirtschaftlichen Angelegenheit seinen Willen hören wollte. Sie kam von der Scheune her durch den Garten; dort sah sie das Veverl unter einem Baum sitzen, die Arme um die aufgezogenen Knie geschlungen, mit ziellosem Blick hinausträumend ins Weite. Neben dem Mädel kauerten die beiden Kinder auf der Erde; sie hatten auf Haßls Grab ein Steckenkreuz errichtet, das sie mit einem Kränzl von Himmelsschlüsseln schmückten.

»Pepperl, wo is denn dein Vater?« sprach Emmerenz den Buben an.

Seufzend richtete sich das Bürschl auf und wischte mit den Händen über die Hüften. »Der Vater? Drin is er, in der Stub. Ich weiß net, was er tut. Wir haben net drinbleiben dürfen, wir zwei und 's Veverl. Uns hat er aussigschickt.« Dabei warf er schnüffelnd das Mäulchen auf und zog die Schultern in die Höhe. »Macht nix, im Garten is auch schön!«

»Habts halt drin an rechten Spitakl gmacht, gelt, Schlankerln?« lächelte Emmerenz und ging durch die Hintertür ins Haus. Als sie die Stube betrat, sah sie den Bauer und die Bäuerin vor dem Tische stehen, die beiden waren damit beschäftigt, allerlei Gewandstücke und Eßwaren in einen Rucksack zu packen. »Ich hab fragen wollen, Bauer –« Emmerenz kam mit ihrer Frage nicht zu Ende. Während die Bäuerin hastig ein Tuch über das Zeug warf, das auf dem Tische lag, fuhr Jörg, obwohl er über Enzis Eintritt mehr erschrocken als erzürnt schien, das Mädel mit heftigen Worten an: »Was willst? Was suchst denn in der Stuben? Dös taugt mir net, dös Umstreunen am hellen Tag. Mach weiter und schau, daß du zu deiner Arbeit kommst!« Emmerenz wußte in ihrer Verblüffung über diesen Empfang nichts Besseres zu beginnen, als hurtig den Rückzug anzutreten. Eine Weile stand sie im Flur, nachdenklich vor sich hinblickend; dann ging sie kopfschüttelnd der Hoftür zu. Draußen begegnete sie dem Kommandanten, der sich zögernd von der Straße heranwürmelte; er war ohne Gewehr und trug die Feiertagsmontur. Der Ausdruck ängstlicher Unbehilflichkeit, der auf seinen sauer lächelnden Hamsterbacken lag, war mitleiderweckend. Er tat einen schweren Schnaufer und konnte nicht reden. Nur seine ausgebuchteten Beine sprachen ein kummervolles »Oh!«. Erst nach emsiger Arbeit mit dem Taschentuche fand er die menschliche Stimme. »Isch der Finkenbauer dahoim?« fragte er die Magd, während sein verlegener Blick die Fenster musterte.

»Ja, daheim is er schon. Aber –« Emmerenz verschluckte den Nachsatz, der ihr auf der Zunge gelegen.

Herr Wimmer schob die Mütze in die Stirn und kraute den Hinterkopf. »Das ist eine verfluchte Geschichte!« Mit vollen Backen blasend, betrat er die Schwelle.

Schüchtern klopfte er an die Tür; er hörte in der Stube ein hastiges Flüstern, rasche Tritte und dann des Bauern laute Frage: »Wer is da?«

Herr Wimmer trat ein. »Nix für ungut, Finkebauer! Ich hab komme müsse. Ich hab müsse. Es hat mich nimmer glitte!« stammelte er, während ihm der Schweiß aus den Nasenflügeln brach. Weil er krampfhaft den steifen Blick in die Dielen bohrte, konnte er nicht gewahren, wie Jörg seine verstörten Züge zur Ruhe zwang. »O Gottele, gelten S', Finkebauer«, stotterte Herr Wimmer in das weiß und blau gewürfelte Taschentuch, »arg schreckliche Sache hat's gebe, seit wir uns nimmer gsehe habe! Aber mein liebes Herrgöttle soll mir's bezeugen: Ich, Finkebauer, ich kann nix dafür, daß der mißliebige Handel so schauderhaft ausgangen ischt. Wägerle, wägerle, ich kann nix dafür!«

»Ich weiß schon, Herr Kommandant, Sie hätten's anders gmacht, wär's anders zum machen gwesen! Was von Ihnen aus gschehen is, hat gschehen müssen. Sie sind angstellt dafür und haben gschworen.«

Herr Wimmer traute seinen Ohren kaum, als er diese Worte hörte. Über ihrem hochwillkommenen Sinn übersah er die lauernde Art, in der sie gesprochen waren. Als er nun gar die vor Staunen weit offenen Augen hob und den Bauer mit ausgestreckten Händen auf sich zukommen sah, wußte er vor Verblüffung kaum die Tasche für sein Schnupftuch zu finden. Früher als sein Verstand kam seine Zunge zur Besinnung. Er faßte Jörg bei den Händen, zog ihn zum Tisch und übersprudelte ihn mit Trostworten, mit Versicherungen seiner Teilnahme und Freundschaft. Er beklagte Ferdls Schicksal, und unter Barmherzigkeitstränen, auf die er durch häufiges Augenwischen aufmerksam zu machen suchte, sprach er von dem plötzlichen Tode des ›lieben, schönen Fräule Johanna‹. Dann wieder erzählte er von jenem traurigen Morgen. Er war allzusehr mit dem beschäftigt, was er in jenen ›fürchtigen Stunden‹ gedacht, empfunden und gewürmelt hatte, um ein Auge für die zitternde Unruhe zu haben, mit der ihm Jörg gegenübersaß.

»Aber jetzt«, unterbrach der Bauer plötzlich den Erleichterungsfluß des Kommandanten, »jetzt, wo's aus und gar is mit ihm? Was is nacher jetzt? Is jetzt a Ruh? Sind s' jetzt z'frieden, die drin in der Stadt?«

»No freilich ischt jetzt e Ruh, no freilich ischt jetzt e Fried!« beteuerte Herr Wimmer. »Was könnt man denn da noch wolle, wo nix mehr zum haben ischt! Wo der Tod sein Wörtle gsproche hat, steckt die Gerechtigkeit ihr Schwert in die Scheid. Da hab ich schon gsorgt dafür. Ich bin dem Finkebauer sein Freund. Da hätt der Finkebauer nur den Bericht lese solle, den ich aufgsetzt hab. Wenn Sie da glese hätte, wie ich die Sach mit der Fluchtunterstützung dargstellt hab, und alles andere, was da noch dringstanden ischt, nacher möchte Se mer alle zwei Händ drucke und möchte sage: Der Herr Kommandant ischt mein Freund, dem muß ich's danke, wenn jetzt e Ruh ischt und e Fried. Ja, so isch die Sach. Da beißt koi Mäusle mehr en Faden ab!« Da s Gesicht des Kommandanten glänzte vor freudiger Erregung, als Jörg nun wirklich tat, was ihm so nahegelegt worden war.

»Ich dank, Herr Wimmer, tausendmal! Dös vergiß ich Ihnen nimmer, nie in meim ganzen Leben!« stammelte der Bauer, während er unablässig die Hände des Kommandanten drückte und schüttelte. »Und gelten S', Herr Wimmer, gelten S', wie's jetzt auch sein mag und was auch kommt – wir zwei bleiben gute Freund mitanander!«

»Gewiß, Finkebauer, älleweil gute Freund!« versicherte Herr Wimmer, der sich vor Selbstbewußtsein so stattlich dehnte, daß seine Beinchen der geraden Linie merklich näherkamen. Im Gefühl seines Wertes begann er gnädig mit Jörg zu reden, von unten her und doch von oben herab, und versprach ihm, alles zu tun, um das Gerede im Dorf zu beschwichtigen. Stolz erhobenen Hauptes schlängelte er sich zur Tür hinaus, einen schimmerigen Siegerblick in den polierten Hoffnungsaugen.

Jörg atmete auf. »Den hab ich mir kauft!«

Inzwischen stand Herr Wimmer draußen im Hof, zog an seinem Uniformrock die Falten glatt, drückte die Säbelkoppel über den anspruchsvollen Nabel hinunter und spähte unter Räuspern nach den Fenstern des oberen Stockes. Enttäuschung drohte schon die Purpurschnecke über seinem kokett geringelten Schnauzbart anzublässeln. Da gewahrte er das Veverl und die beiden Kinder zwischen den Bäumen des Gartens. Ein hungriges Funkeln erwachte in seinen Glotzaugen. Unternehmungslustig wollte er seinem unverlierbaren Lebensglück entgegenwürmeln, als sich ihm Dori, der mit einem gefüllten Wassereimer auf dem Kopfe vom Brunnen kam, in den Weg stellte: »Wie geht's, wie steht's, Herr Wimmerle? Älleweil gut?«

Kirschrot färbte sich das Gesicht des Kommandanten, dessen Knöpflnase erstaunlicher Farbensteigerungen fähig war: »Wiwiwiwimmer heiß ich, Wimmer, Wimmer! Und für dich, daß dir's merkst, bin ich der Herr Kommandant, du Tröpfle, du eiskalts!« Er suchte den Buben zu fassen. Der machte flinke Füße und neigte unter kicherndem Didididi den Eimer nach rückwärts, so daß das verschüttete Wasser die Feiertagsmontur des Kommandanten über und über bespritzte.

Fluchend stellte Freund Simon die Verfolgung ein. »Wart, wenn ich erscht emal was z' rede hab im Finkehof, nacher ischt's aus mit deiner gute Zeit!« So knirschte er zwischen den Zähnen, während er mit dem Taschentuch die Wassertropfen von seiner grünen Maikäferhülle tupfte und sich hinausringelte auf die Straße.

Bald nach ihm verließ der Finkenbauer den Hof, den schwerbepackten Bergsack auf dem Rücken.

Als am Abend die Nachbarsleute zum ›Dreißgerbeten‹ kamen und nach dem Bauern fragten, sagte ihnen Mariann, daß ein dringendes Geschäft den Jörg nach einem entfernten Dorf gerufen hätte.

Fast eine Woche blieb er aus. Spät an einem Abend kehrte er zurück und betrat das Haus durch den Garten. Der Zufall wollte, daß ihm die Emmerenz mit einem Licht im Flur begegnete. Als sie den Bauer betrachtete, meinte sie, er könnte eher von schwerer Arbeit zurückkehren als von einer Reise und von Geschäften; so sahen seine schrundigen Hände und seine übel mitgenommenen Kleider aus.

In der Wohnstube brannte in dieser Nacht die Lampe bis in den Morgen hinein.

Tage und Wochen vergingen. Das Leben auf dem Finkenhof schien wieder im alten Geleise zu rollen. Dennoch hatte es ein anderes Gesicht bekommen. Die Mariann, die sonst so resolut in ihrer Wirtschaft geschaltet hatte, war still geworden, in sich gekehrt; wer sie beobachtete, konnte gewahren, wie häufig ihre guten Augen mit dem Ausdruck tiefer Sorge auf dem ergrauten Kopf ihres Mannes ruhten. Jörg hatte sich in seinem Wesen wohl zum Besseren verwandelt; aber die schweigsame Zerstreutheit und eine Art ›schreckhafter‹ Unruh waren ihm verblieben. Wenn die Ehhalten darüber ihr Gerede führten, pflegte Enzi zu sagen: »Laßts den Bauer in Fried! Der hat a Herz, und dös trauert sich so gschwind net aus.«

Häufig war Jörg abwesend; entweder wanderte er mit dick angepacktem Rucksack die Straße hinaus oder fuhr im einspännigen Bernerwägelchen davon, das mit Kisten und Schachteln beladen war; meist blieb er nur eine Nacht vom Hofe fern, manchmal auch durch mehrere Tage.

Diese Wege und Fahrten hatten stets eine triftige Ursache, die den Dienstboten von der Bäuerin immer mit vertraulicher Genauigkeit klargelegt wurde. Bald war es ein Kauf- oder Tauschgeschäft mit Vieh und Pferden, bald ein Holzhandel, bald der nötig gewordene Ankauf von Sämereien, von Geräten für die Wirtschaft, bald dies, bald jenes. Diese Wege und Fahrten häuften sich aber so sehr, daß im Dorf ein Gemunkel entstand. Die Emmerenz sagte zu den Leuten: »Daheim, wo ihn alles an die traurigen Täg erinnert, kann der Bauer sein' Hamur nimmer finden. Drum sucht er ihn draußt umanand und bsorgt halt selber, was er sonst von andere hat bsorgen lassen.« Bei Gelegenheit eines Kirchganges geriet sie einmal hart mit dem Valtl aneinander, der bei dem übel berüchtigten Leitenbauer in Dienst getreten war und die Leute gegen seinen ehemaligen Dienstherrn hetzte. Als sie dem Bauern das mitteilte, schwieg Jörg eine Weile und sagte dann: »Ich danke dir, Enzi! Aber den Valtl laß reden! Sein Reden tut mir net weh.« Von nun an war er seltener vom Hofe abwesend und beteiligte sich fleißiger als in den letzten Wochen an der Arbeit in Haus und Feld. Daß er sich häufig in der dunklen Abenddämmerung durch den Garten davonschlich und bei grauendem Morgen wieder heimkehrte, das wußte nur die Mariann. Viel begann Jörg sich in dieser Zeit mit seinen Kindern zu beschäftigen, die sich herzlich an den Vater anschlossen. Waren sie doch mit der Veverlbas seit Wochen nicht mehr zufrieden! Früher, wenn Veverl mit ihnen in der Stube oder im Garten beisammen saß, war sie ein Kind mit den Kindern gewesen, hatte ihre Spiele geteilt, hatte ihnen stundenlang vorgeplaudert von allem, was sie in Herz und Köpfl trug. Jetzt war sie schweigsam und verschlossen. Aus einem Kameraden der Kinder war sie zur stillen Wächterin geworden. Wenn die Kinder zu ihren Füßen spielten, saß sie mit im Schoß gefalteten Händen, hinausblickend in ziellose Ferne. Noch ernster und träumerischer als früher staunten die dunklen Rehaugen aus ihrem lieblichen Gesicht. Dabei streckte sich die Gestalt des Mädels von Tag zu Tag, und runder und voller sproßten ihre Formen.

Wenn auch nur Jörg diese Wandlung zu verstehen meinte, fiel sie doch allen im Finkenhof auf. Ein einziger hatte keine Augen dafür – der Dori. Veverl war ihm das Veverl, und so, wie sie war, war sie ihm alles. Dieser langohrige Bursch mit den spreizknochigen Stelzbeinen war der einzig Glückliche im ganzen Finkenhof. Sein Übermut hatte bald die Oberhand über die Trauer seines guten Herzens gewonnen: Er stand bei Jörg in goldener Gunst, und was für ihn die Hauptsache war: seit Valtls Abgang konnte er ungestört seiner wunschlosen Verehrung für Veverl nachhängen. Er tat, was er ihr an den Augen absehen konnte. Von keinem Wege kam er zurück, ohne ihr einen ›Buschen‹ mit nach Hause zu bringen. Für solche Zeichen seiner Verehrung dankte ihm Veverl bald mit einem guten Wort, bald mit ihrem stillen Lächeln. Wenn er vor ihr stand und dieses dankende Lächeln hineintrank in seine zwinkernden Augen, zitterte das lange, knochige Ungetüm vor Freude am ganzen Leib. Und wußte Dori für Veverl nichts Liebes mehr zu ersinnen, so bereitete er um ihretwillen den Kindern hundert kleine Freuden. Er fertigte ihnen Puppengerät, Grillenhäuschen, Maikäferkutschen, fliegende Drachen und bewegliche Schlangen, baute ihnen Wassermühlen und schnitzte für sie aus knorrigen Wurzeln allerlei unförmliches Getier, das an Leib und Gliedern viel harmonischer aussah als er selbst.

So saß er einmal im Garten und bosselte für den kleinen Pepperl ein ›Hottohü-Roß‹ aus einem Wurzelstück. An dem störrigen Holze zerbrach die verschliffene Klinge seines ›Feitels‹. Dori wußte sich zu helfen. Vor einigen Wochen hatte er auf Anordnung des Bauern eine große Kiste von der Bahn geholt; beim Abladen vom Wagen war der Deckel losgesprungen; ärgerlich hatte Jörg über die schlechte Kiste und die nichtsnutzigen Nägel gescholten und dann gesagt: »Dem Ferdl seine Schnitzersachen sind's, seine Messer und Werkzeug. Ich hab's von Bertlsgaden schicken lassen. Wann dös Zeug für mich auch kein' Nutzen hat, man kann's deswegen doch net fremde Leut überlassen.« Diese Kiste, die in der Bodenkammer verwahrt worden war, suchte Dori auf. Als er den Deckel öffnete, fand er die Kiste leer. Schon wollte er sich wieder davonschleichen, als Jörg mit zornrotem Gesichte vor ihm stand: »Du Nixnutz, du! Was strühlst denn du da umanand?« Bei diesen Worten war dem Bauern auch die Hand ausgerutscht nach einer Richtung, in der das Riesenohr des Dori hinderlich im Wege war. Stotternd berichtete der Bub, was ihn hergeführt hätte. Rasch legte sich der Zorn des Bauern. »Natürlich is die Kisten leer. Ich hab die Sachen aufghoben, drunt im Kasten. Man kann s' doch net verrosten lassen, daheroben! Hättst halt a Wörtl gredt zu mir! Und da hast an Schmerzensdank, du Unfürm du!« Das Geschenk, das Jörg dem Burschen reichte, war sein eigenes, mit Schildpatt beschlagenes Taschenmesser, das neben drei blitzenden Klingen eine kleine Säge und einen Bohrer enthielt. »Mar und Josef! Bauer! So a Messer!« jubelte Dori. »Da is eine Tachtel schon z'wenig, da mußt mir schon noch a paar gwichtige dazuschlagen!« Jörg lächelte: »Geh weiter und schau, daß mein Bub sein' Holzgaul kriegt.« Und richtig hatte Pepperl am andern Tag sein Hottohü-Roß, für dessen Schweif und Mähne Enzis Staubbesen die nötigen Haare lassen mußte. Das Mädel merkte den Schaden, forschte mit Scharfsinn den Täter aus und überzahlte hinter Doris Ohren den Wert des Messers. Bis in die Nacht hinein schalt sie über den ›unsinnigen Glachel‹.

Sie war überhaupt in der letzten Zeit sehr übler Laune, die Emmerenz, und mußte am Gesindetisch manch spitziges Wörtl hören. Man fragte sie mit Vorliebe, weshalb sich denn der Grafenjäger nie mehr im Finkenhof sehen ließe. Die alte Waben sagte einmal: »Gelt, du Feine, jetzt hast ihn aussibissen mit deiner Beißzang, jetzt reut's dich, und jetzt tätst ihn am liebsten wieder einibeißen!« Spöttisch lachte Emmerenz und verließ ohne Widerrede die Stube. Tatsache war es aber doch, daß Gidi seit dem Begräbnistag der Hanni den Finkenhof nicht mehr betreten hatte. Um so fleißiger sprach Herr Simmerle Wimmerle vor, wenngleich ihm Doris unermüdliche Streiche diese Besuche sehr verbitterten. Der Bub hatte es bald gewittert, auf welch absichtsvollen Wegen die ›verfluchte Geschichte‹ würmelte, und sann unermüdlich darüber nach, welch einen neuen Schabernack er dem ›Didididi‹ spielen könnte. Redlich wurde Dori von Veverl unterstützt, um Herrn Wimmers hoffnungsvolle Laune mit abdämpfender Asche zu bestreuen. Ein einziges Mal nur war es ihm gelungen, das Mädel zu sprechen, und Veverl hatte nach dieser Unterredung, so kurz sie gewesen war, durch lange Stunden ein rotes Mal auf der Wange umhergetragen. Seitdem floh sie in die verborgensten Winkel des Hauses, wenn sie vom Hofe her das würdevolle Räuspern vernahm.

In der Hoffnung, Veverl zu treffen, stellte sich Herr Simon Wimmer sogar manchmal beim ›Dreißgerbeten‹ ein; aber nur ein einziges Mal glückte es ihm, den Platz an Veverls Seite zu erobern; sooft er dann wiederkam, fand er die Emmerenz zur Linken, den Dori zur Rechten des Mädels. Vom letzten ›Gsturitrunk‹, der am fünfundzwanzigsten Mai gehalten wurde, trug er ein seiner ›Bildung‹ wenig entsprechendes Räuschl mit nach Hause. Die Leute wunderten sich damals, daß Jörg zugleich mit dem Rosenkranz für Hanni auch die Gebete für den Ferdl schließen ließ, für den doch nach Recht und Brauch zwei Tage länger hätte gebetet werden sollen. Das Benehmen des Finkenbauern in dieser Sache hatte überhaupt manches Verwunderliche. Während er den Rosenkranz für die Hanni stets mit lauter Stimme mitzubeten pflegte, verließ er immer die Stube, wenn die Gebete für den Ferdl begannen. Die Leute machten ihre Glossen. ›Er zürnt seim Bruder noch im Tod und kann's ihm net vergessen, daß er ihm d' Schandarmerie einizügelt hat in'n Hof!‹

Am Morgen nach dem letzten ›Gsturitrunk‹ stieg Emmerenz bei grauendem Tag zu Berge. Die Zeit der Almfahrt war nah, und da wollte die Fürmagd Nachschau halten, wie ihre Brünndlalmhütte sich ›gwintert‹ hätte und ob sie nicht durch die Lawinenstürze und Föhnstürme zu Schaden gekommen wäre.

Emmerenz kam von ihrer Bergfahrt früher zurück, als man erwartet hatte. Aufgeregt suchte sie den Bauer und fand ihn in der Stube. »Denk dir, Finkenbauer«, berichtete sie entrüstet, »mei' ganze Hütten is mir ausgraubt worden! 's eiserne Öferl haben s' aussigrissen aus der Sennstub, 's ganze Kreisterbett haben s' davon, den Tisch mitsamt der Bank, die zwei Stühl und alles Gschirr, was droben gwesen is übern Winter. Sogar mein' Herrgott haben s' mitgnommen, die unchristlichen Halunken, und alle meine Heiligenbildln dazu!«

»Da hört sich aber doch alles auf!«

»Vor drei, vier Wochen muß die Rauberei schon gschehen sein. Wo s' den Ofen aussigrissen haben aus der Wand, sind die Riß und Brüch schon ganz alt zum anschaun. Und an Schlüssel zur Hüttentür müssen s' ghabt haben. Oder es ist gleich gar a Schlosser dabeigwesen. An der Tür kannst gar nix sehen, daß ebbes aufgsprengt wär. Ganz schön war 's Schloß wieder zugsperrt. So a Lumperei!«

Die Hände auf dem Rücken, wanderte Jörg in der Stube auf und nieder und schalt und wetterte, daß die Fenster klirrten.

»Mit'm Schimpfen is nix gholfen, Bauer. Da muß ebbes gschehen! Soll ich zum Kommandanten laufen, daß er die Sach zur Anzeig nimmt?«

»Was? Anzeigen? Dös wär mir noch 's Rechte!« fuhr der Bauer auf. »Daß ich zum Schaden noch den Spott tragen müßt! Lieber in d' Höll einifahren, als aufs Gricht und zur Großmutter Justizia! Meintwegen sollen s' hin sein, die paar Mark, die dös Sach wert is! Is mir allweil lieber, als daß mich d' Leut auslachen im ganzen Ort. Brauchst weiter nix reden! Ich laß dir dein Hüttl schöner wieder herrichten, wie's gwesen is.«

Das geschah in den nächsten Tagen, auf eine Weise, daß niemand Ursache fand, nach dem Verbleib der alten Geräte zu fragen.

Der Sonntag kam, an dem der Almtanz abgehalten wurde, eine Art von Abschiedsfeier für die Sennerinnen, die in der folgenden Woche den Auftrieb nach den Almen vollführen sollten.

Da war es zur Nachmittagszeit, als Gidi von seinem Bergrevier herunterstieg ins Tal. Von weitem hallten ihm die quirlenden Tanzweisen, die Jauchzer und das lustige Stimmengedudel entgegen. Was ging ihn die fidele Gaudi der anderen an? Vierzehn Tage hatte er droben in seiner Jagdhütte verbracht, sein Mundvorrat war aufgezehrt, und um ihn zu erneuern, kam er ins Dorf. Bei grauendem Abend wollte er wieder droben sein im Bergwald.

Als er am Wirtshaus vorüberschritt, rief ihn der Bräumeister mit freundlichen Worten an, und Kameraden winkten ihm mit dem Krug den Willkomm zu. Da konnte Gidi nicht anders. »No, meintwegen, a Stamperl!« Er ging auf die mit grünen Birkenbäumchen geschmückte Tür zu. Vielleicht zog ihn neben Durst und Höflichkeit noch was anderes in das lustige Haus. Forschend musterte er die offenen Fenster des im oberen Stocke liegenden Tanzsaales.

Er betrat die Stube, deren Decke unter den Füßen der Tanzenden zitterte und dröhnte. Eine Weile währte es, bis er mit ›Gott gsegn's‹ und ›Vergelt's Gott!‹ von Krug zu Krug die Runde gemacht hatte. Dann ging er in die Schlafkammer der Wirtsleute, um seine Büchse in eine sichere Ecke zu stellen, warf den Rucksack auf die Dielen und hieß den Hund sich darauf niederkuschen. Als er wieder in die Stube zurückkehrte, streifte sein Blick das Zapfenbrett, an dem in langer Reihe die Hüte der Gäste hingen. Einer dieser Hüte fiel dem Jäger auf. Er nahm ihn vom Brett herunter. »No also, ganz frisch is er noch!« So murmelte er, während er den Auerhahnstoß betrachtete, der dem Hut als Zierde aufgesteckt war.

»Was mußt denn du an meim Hut umanand schaufeln?« klang eine meckernde Stimme über Gidis Schultern, während ihm eine knöcherne Hand den Hut entriß. Vor dem Jäger stand der Brennerwastl, ein magerer Bursch, dessen ländlich geckenhafter Anzug das Sprichwort rechtfertigte, das im Dorfe gang und gäbe war: ›Hoffärtig wie der Brennerwastl.‹

»Da mußt dich net gar so vereifern!« sagte Gidi lächelnd. »Dein Auerhahnstoß hat mich halt a bißl verinteressiert. Wo hast ihn denn her?«

»Geht's dich was an? Ob ich ihn gfunden oder kauft hab, dös is mei' Sach!«

»Da hast recht! Aber nix Bsonders hast da net am Hut. Da hebst net viel Ehr damit auf. Ja, du, da hab ich an andern daheim, an Spielhahnstoß! So ein' hast noch net gsehen im Leben. Der is ausanandergschaart, daß keiner mit der Hand die Schaar derspannt, kohlrabenschwarz und schimmrig wie frischer Stahl, und in der Mitten bluhweiß gflaumt. Du! Wann den auf deim Hütl hättst! Da müßt jeder stehnbleiben, der dich antrifft auf der Straßen! Und d' Madln täten Augen machen! Du!«

Gierig funkelte die Sehnsucht in dem sommersprossigen Gesicht des Burschen. »Gidi! Verkauf mir den Stoß, ich laß nimmer aus! Verlang, wieviel als d' magst! Ich gib dir fünf Markln, achte, neune, zehne! Da hast zehn Mark, und der Stoß ghört mir!« Dabei wühlte er schon mit der Hand in seiner Tasche.

»Geh, plag dich net!« wehrte Gidi. »Den Stoß verkauf ich net. So ein' krieg ich selber nimmer, net bis auf hundert Jahr!« Seine Stimme wurde leis. »Aber ich schenk dir den Stoß, wann d' mir sagst, von wem den andern hast.«

Mit verdutzten Augen guckte der Bursch dem Jäger ins Gesicht, lugte scheu um sich her und wisperte: »Sag: auf Ehr und Seligkeit!«

»Auf Ehr und Seligkeit.«

»Und daß d' mich net verratst?«

»Daß ich dich net verrat'«

»Vom Leitner-Valtl hab ich ihn kauft, vor drei Wochen, um vierthalb Mark, ganz feucht in die Spulen is er noch gwesen, wie ich ihn kriegt hab.«

»Is gut! Zwischen sechse und siebne bin ich daheim, da kannst wen schicken um dein' Stoß!« Gidi wandte sich von dem Burschen. »Gwußt hab ich's eh schon! Aber 's Gwißwissen is allweil besser als wie 's Wissen.«

Er betrat den Flur und wollte die mit schäkernden Paaren verstellte Treppe zum Tanzboden hinaufsteigen. Da schlug durch die offene Hintertür der Klang einer Zither und ein Gewirr von lachenden Stimmen an sein Ohr. Aus diesen Stimmen kicherte eine besonders hell und lustig heraus.

Die Tür führte zu einem weiten, von Bäumen durchsetzten Hofraum, den ein hoher Staketenzaun von der Straße trennte; in der Tiefe des Hofes war Brennholz in langen, plumpen Scheiten zu einer klafterhohen Mauer aufgeschichtet; rechts und links von der Tür standen im Schatten des vorspringenden Daches zwei Tische; den einen sah Gidi besetzt mit Burschen, deren Gesichter von Trunk und Tanz gerötet waren; er zuckte mit keiner Wimper, als er Valtl unter ihnen gewahrte. Stumm nickend erwiderte er den grüßenden Zuruf einiger Burschen und steuerte dem anderen Tisch entgegen, um den die Mädeln saßen.

»Du, paß auf, jetzt holt dich einer!« kicherte eine Schwarzhaarige und stieß Emmerenz den Ellbogen in die Seite.

»Laß mir mei' Ruh! Dei' Botschaft is kein' Puff net wert!« brummte Enzi und verdrehte die Augen.

Da stand der Jäger vor ihr. »Was is, Emmerenz, probieren wir ein' mitanand? Hörst es, an Landlerischen spielen s' droben. Dös is mein liebster! Und der erste Tanz mit dir? Da kann's net fehlen!«

Emmerenz runzelte die Stirn, erhob sich langsam und legte ihre Hand in die Rechte des Jägers. Während die beiden so der Tür zuschritten, begann am andern Tisch die Zither zu schwirren, und mit heiserer Stimme fiel Valtl in die Weise ein:

     »Der Bua, der is kurz,
Und sein Madl net lang,
Und da san die zwei richtigen
Stutzln beisammen.«

Heiteres Gelächter. Es war unverkennbar, wem das Trutzlied gelten sollte. Und Valtl sang weiter:

        »Und dö zwei san schon grecht,
Und dö zwei passen zamm,
Und dös gibt d'r a Rass,
So lang wie mein Daam

Das Lachen verstärkte sich, während alle Blicke an dem Jäger hingen. Ein drohendes Funkeln glomm in Gidis Augen. Doch er lächelte, und fester schlossen sich seine Finger, als er fühlte, daß Emmerenz ihre Hand aus der seinen ziehen wollte.

      »Und 's Madl is kugelrund –«

So wollte Valtl von neuem beginnen. Sein heiseres Kreischen wurde von der hellklingenden Stimme des Jägers übertönt, der in die Ländlerweise, die durch die offenen Fenster des Tanzsaales heruntertönte, mit den Worten einfiel:

          »Der Haber muß reif sein,
Eh kann man net maahn,
Und a Hirsch, der vermirkt's net,
Wann d' Aasraben kraahn!«

Lustiger Beifall folgte dieser Strophe. Sogar auf Enzis Lippen erschien ein Lächeln der Befriedigung, das aber rasch wieder verschwand, als sie die Antwort vernahm, die Valtl der Strophe des Jägers folgen ließ:

»Und der Jagerknechtsbua
Und sei' Stallmagd dazua
Und sein räudiger Hund
Is a gar schöner Bund!«

Dunkle Röte goß sich über Enzis Gesicht, und dem Jäger die Hand entreißend, stieß sie zornig hervor: »Schand und Spott muß man haben mit dir! Da such dir an andre dazu!«

Mit wenig freundlichem Blick sah Gidi der Emmerenz nach, als sie dem Platze zuschritt, von dem er sie geholt hatte. Dann drehte er sich zu dem Knecht herum. Sein Gesicht verzerrte sich, und bläulich schwollen ihm die Adern. Er schleuderte den Hut beiseite und sprang mit einem Wutschrei auf Valtl los, der dem Jäger die Hände mit gespreizten Fingern zur Abwehr entgegenstreckte.

Kreischend fuhren die Mädeln auseinander, und die Burschen schnellten von der Bank, um sich zwischen die beiden zu werfen. Aber ein Abwehren schien nicht vonnöten. Gidi ließ die Fäuste sinken und keuchte: »Na! Abkühlen muß ich mich z'erst. Sonst kunnt's an Unglück geben!«

Eh noch die anderen begriffen, was diese Worte bedeuten sollten, stürmte Gidi dem aufgeschichteten Brennholz zu und sprang, den Kopf in den Nacken duckend, die Arme eng anziehend an die Brust, mit mächtigem Satz frei von der Erde über die hölzerne Mauer. Die Burschen und Mädeln guckten mit verblüfften Gesichtern nach dem aufgebeigten Holz, über dessen Höhe Gidi schon wieder einhergeschossen kam; unter der Wucht des Sprunges sank er in die Knie, raffte sich auf, nahm einen kurzen Anlauf, sprang von neuem – und sprang, bis sein Atem rasselte, bis der Schweiß ihm niedertropfte über den Bart. Eine förmliche Tollwut schien den Jäger überkommen zu haben. Wie er es trieb, das war ein halb beängstigender, halb komischer Anblick. Die Mädeln begannen zu kichern. Nur eine blieb stumm und drückte sich an die Mauer. Die Burschen fingen zu lachen an und riefen dem Jäger scherzende Reden zu. Wenn sie sein Treiben auch hirnsinnig fanden, bewunderten sie doch diese wilde Kraft und zähe Gelenkigkeit. Nur einer von ihnen lachte nicht. Der griff verstohlen nach seiner rechten Hüfte und lockerte das Messer in der Scheide.

Und wieder kam Gidi über die Holzmauer gesprungen. Aufatmend hielt er einen Augenblick still, dann stemmte er Schultern und Nacken gegen die Scheite und schob und drückte, bis der Holzstoß zu weichen begann und mit Krachen und Prasseln zusammenstürzte.

»So! Jetzt bin ich abkühlt. Jetzt bin ich grecht für dich, du Haderlump!« keuchte der Jäger, stürzte auf Valtl zu und warf sich über ihn, daß der Tisch ins Wanken kam und Zither und Krüge mit Klirren und Klappern zu Boden flogen. Valtl hatte mit einem Fluch dem Angreifer den linken Arm entgegengestemmt, während in seiner Rechten das Messer blitzte.

Ein wildes Kreischen erhob sich. Schon aber hatte der Jäger Valtls Arm erhascht, und den Burschen niederreißend auf das Pflaster, schmetterte er ihm die Hand, die das Messer umklammert hielt, gegen die Steine, daß die Klinge weit hinausflog in den Hof.

Droben im Tanzsaal verstummte die Musik, neugierige Gesichter erschienen an allen Fenstern, und die Tür füllte sich mit Leuten. Burschen und Männer stürzten auf die Ringenden zu, um sie auseinanderzureißen. Aber wie ein wütender Eber die ihn verfolgende Meute, schüttelte Gidi die Fäuste von sich ab, die über seine Arme und Schultern herfielen. »So? Stechen willst? Stechen?« schrie er und zerrte seinen Gegner halb von der Erde. »Ghörst du da her? Ghörst du unter Menschen? Wart, dir zeig ich, wo d' hinghörst!« Unter Würgen und Drosseln stieß er den Knecht vor sich her dem Zaune zu, in dichtem Knäuel das ganze Rudel der Abwehrenden hinter sich nachziehend. Valtl schlug mit Händen und Füßen um sich, kratzte und biß. Dieser zähen, von Wut und Haß entfesselten Kraft gegenüber gab es kein Entrinnen. Mit jähem Ruck hob Gidi den Burschen in die Höhe und wälzte ihn über die knackenden Staketen, daß er gleich einem vollen Sack auf die Straße plumpste und über Staub und Steine hinunterkollerte in die Wiese.

Mühsam erhob sich Valtl. »Wart, Jager! Dös brock ich dir ein!« knirschte er und verzog sich unter dem Gelächter der Leute hinter die nahen Haselnußstauden.

Lachend kehrten die Männer und Burschen zu den Tischen und ins Wirtshaus zurück; sie waren froh darüber, daß diese böse Sache einen so annehmbaren Ausgang gefunden hatte.

Gidi stand eine Weile, tief atmend, und wischte mit dem Joppenärmel über das Gesicht. Dann schritt er auf Emmerenz zu. »So, Madl! Der Weg ist frei. Jetz komm zum Tanz!«

»Gelt, du, laß mich in Ruh!«

»Enzi!«

»Enzi? Enzi hat d' Mutter zu mir gsagt und kann mein Bauer sagen. Für dich heiß ich Emmerenz. Und zum Tanz such dir an andre, du wütiger Teufel, du!«

»Schau, aber grad mit dir möcht ich tanzen!« Gidi haschte das Handgelenk der Emmerenz. Da half ihr kein Wehren und Sträuben. Wortlos zog er sie mit sich fort in den Flur und über die Treppe hinauf in den Tanzsaal. Mit Lachen und Kichern drängten die Mädeln und Burschen hinter den beiden nach.

Keinen Augenblick gab Gidi das Mädel frei; mit der linken Hand zog er sein Schnürbeutelchen aus der Tasche, öffnete es mit Fingern und Zähnen und warf einen Preußentaler auf den Musikantentisch. »An Landlerischen!« befahl er. Und als die Weise begann, schwang er mit einem Juhschrei den Hut, schraubte den Arm um Enzis Hüften und wirbelte sie durch den niederen Saal, daß ihre Röcke flogen und die dicken, rotblonden Zöpfe sich lösten. Rings um die Wände stand Paar an Paar gereiht. Gidi war bekannt als der beste Tänzer des ganzen Tals; es war immer ein ›Staat‹, ihn tanzen zu sehen.

Jetzt löste er mit einem neuen Juhschrei den Arm, schwang die Tänzerin ein paarmal noch an der Hand im Kreis herum und begann zu platteln, das hurtig sich drehende Mädel mit forschendem Blick verfolgend, ob es nicht ans Ausreißen dächte. Enzi aber mochte sich gesagt haben, daß jeder Widerstand ohne Sinn und Zweck wäre. Die vielen Augen, die auf ihr ruhten, stachelten auch ihren Ehrgeiz. So war sie ganz bei der Sache und bot alle Gewandtheit auf, um sich und ihrem Tänzer keine Schande zu machen. Das hatte auch Gidi bald heraus. Und da hub er nun im Takt mit der Musik ein Schlagen, Stampfen, Schnalzen, Schnackeln und Springen an, daß es hallte und klatschte! Sooft er, den Sätzen der Tanzweise entsprechend, seinen ›Plattlgang‹ vollendet hatte, sprang er, halb sich überschlagend, unter gellendem Juhschrei so hoch empor, daß die Schuhsohle das Gebälk der Decke streifte. Dann wieder faßte er Enzi um die Hüften und drehte sich mit ihr unter den mannigfachsten Wendungen und Armverschränkungen, die den beiden so gut gelangen, als wären sie zusammen auf dem Tanzboden aufgewachsen.

Lauter Beifall erhob sich, als die Musik verstummte und Gidi zum letzten Jauchzer das Mädel mit beiden Armen hoch aufschwang über seinen Kopf.

Stolz lächelnd blies Enzi, als sie wieder auf den Dielen stand, die hochroten Backen auf und wollte ihrem Tänzer die Hand reichen, um sich aus dem Saal führen zu lassen.

Gidi übersah diese Hand. »Dös war unser erster Tanz, Emmerenz!« sagte er leis. »Und ich mein' schier, unser letzter! Ich dank dir schön. Und nix für ungut!« Damit rückte er den Hut und stapfte davon.

Wenige Minuten später wanderte er schon mit langen Schritten dem Schloßberg zu, die Büchse auf dem Rücken, begleitet von seinem Hund, der mit spielenden Sprüngen seinen Herrn umkreiste.

Im Finkenhof war ein arges Verwundern darüber, als die Fürmagd lange vor Betläuten schon vom Almtanz nach Hause kam, mit einem so fuchsteufelswilden Gesicht, daß ihr alles Gesind aus dem Wege ging.

Drei Tage verstrichen. Unter den Sticheleien der Dienstboten verschlimmerte sich Enzis Laune noch. Am bittersten mußte Dori darunter leiden. Wie er seine Arbeit auch tun mochte, immer hatte die Fürmagd zu nörgeln. Sie bekam in diesen Tagen eine rutschige Hand‹, mit der sie dem Burschen ihre unwillige Meinung bei jeder Gelegenheit in des Wortes empfindlichster Bedeutung zu ›Gehör‹ brachte.

Um dieses Umstandes willen atmete Dori auf, als der Morgen kam, an dem der Auftrieb zur Alm erfolgen sollte. Er hoffte, daß die gesunde Bergluft die Hand der Emmerenz von diesen für ihn so schmerzhaften Nervenzuckungen kurieren möchte. Aber der Erlösungsmorgen brachte auch den Abschied von Veverl. Als Dori bei grauendem Frühlicht in die Gesindestube zur Morgensuppe kam, hatte er verschwollene, rote Augen. Und immer wieder fuhr er mit der Faust unter die schnuffelnde Nase, während er die siebzehn Schafe, die droben auf den Bergen seiner Aufsicht unterstehen sollten, aus dem Pferch in den Hof trieb, wo er den Muttertieren die kugeligen Schellen, dem Hammel die Leitglocke um den wolligen Hals befestigte. Inzwischen rumorte die Emmerenz zwischen Hof und Ställen hin und her. Unter Schelten und Schreien trieb sie die läutenden, brüllenden Kühe und die blökenden Kälber vor dem Zaun auf einen Knäuel zusammen und fuchtelte mit ihrem langen Haselnußstecken wie ein Fuhrmann mit der Peitsche.

Im Hof stand Mariann in leisem Gespräch mit dem Bauern, der die schwerbepackte Kraxe auf dem Rücken trug.

Veverl, die beiden Kinder an den Händen, blickte mit großen Augen in das lebendige Treiben. »Dori, Dori!« hatte sie schon ein paarmal leise gerufen. Aber sooft der Bursch in ihre Nähe kam, torkelte er abgewandten Gesichtes an ihr vorüber.

Jetzt mahnte der Bauer die Emmerenz, das Schelten und Fuchteln zu lassen; mit Ruhe käme sie rascher zum Ziel; es wäre an der Zeit, mit dem Auftrieb zu beginnen, wenn man vor der Mittagshitze die Brünndlalm erreichen wollte.

Als Veverl den Jörgenvetter so drängen hörte, suchte sie den Dori unter seinen Schafen auf. Die beiden Kinder trippelten ihr hurtig nach. Der kleine Pepperl haschte den Widder bei den gewundenen Hörnern und suchte ihn als Reitpferd zu benützen, wogegen das ungefällige Tier mit Blöken und Bocken ernstliche Einsprache erhob. Das Liesei stellte sich, die nackten Ärmchen unter dem Schürzl verschränkend, an Veverls Seite, die den Dori vorwurfsvoll anredete: »Du? Willst denn auf d' Alm auftreiben, ohne daß mir Pfüe Gott sagen tätst?«

»Ah na, Veverl«, stammelte er. »Ich wär schon noch kommen, gwiß, ganz gwiß!«

»No, jetzt brauchst nimmer kommen, jetzt bin ich ja da! Und schau, Dori, da hab ich dir ebbes bracht! Dös gib ich dir mit auf d' Alm, weil so a guter Mensch bist!« Veverl zog was aus der Tasche und reichte dem Burschen ein winziges, aus dunklem Seidenstoff genähtes Beutelchen, das an einer Schnur befestigt war. »Dös mußt um den Hals hängen! A heiligs Bannwürzl is drin. Dös bschützt vor gachem Unglück und vor Zaubermacht. So hat mein Vater gsagt, der mir's geben hat.«

Dicke Zähren schossen dem Burschen in die Augen. »Veverl, Jesses na, dös kann ich net nehmen!« stotterte das gerührte Ungeheuer, griff aber mit beiden Händen nach dem Schnürchen. Danken konnte er dem Mädel nimmer, denn Veverl mußte dem Pepperl zu Hilfe eilen, der an die Hörner des Widders angeklammert hing und von dem scheu gemachten Tier zwischen den auseinanderstiebenden Schafen umhergeschleift wurde. Dori wollte dem Mädel nachstürzen, aber das Liesei hielt ihn an der Joppe zurück. »Du, Dori, dauert's noch lang, bis die Edelweißblümln blühen?« fragte das Kind.

»O mein, noch gwiß sechs Wochen!« Der Bub versuchte seinen Joppenzipfel aus den Händen des Kindes zu ziehen.

Das Liesei hielt fest. »Gelt, Dori, wann s' blühen, bringst mir recht schöne Stammerln. Und wann dem Edelweißkönig sein Königsblüml findst, nacher bringst mir's auch, gelt, Dori? Ich gib dir zwei Schmalznudeln dafür. Gelt, Dori?«

»Ja, ja, Liesei, ich bring dir's schon, aber jetzt laß mich a bißl aus!«

Weiter kam Dori nicht, denn der Bauer mahnte: »Schau, daß dei' Kraxen in d' Höh bringst! Es is an der Zeit!« Er reckte sich und rief über die Herde weg: »Enzi! Jetzt wird amal marschiert!«

»Ja, Bauer, ich bin schon grecht!«

Die Mariann hatte das Weihbrunnkesselchen aus der Stube geholt, rief die Sennerin und den Hüterbuben zu sich, besprengte sie mit geweihtem Wasser und wünschte ihnen glückliche Almzeit. »Für enk zwei, fürs Viech und für d' Schaf!«

Nun setzte sich der Zug in Bewegung. Der Bauer schritt voraus; ihm trotteten die Schafe nach, dann kamen mit Läuten und Brüllen die Kühe und Kälber, denen Enzi und Dori mit ihren hohen Kraxen und langen Stecken folgten.

Am Zaun glückte es dem Dori noch, Veverls Hand zu erhaschen. Er sprach kein Wort, er schnuffelte und schluckte nur. Als er die Straße erreichte, fuhr er sich mit der Faust über die Augen und ließ einen Juhschrei in die Lüfte schrillen.

»So is recht! So ghört sich's!« lächelte Mariann. Dann wandte sie sich mit ernstem Gesicht zu Veverl. »Daß sich d' Enzi gar net hören laßt! Die zieht heuer mit eim sauren Gemüt auf d' Alm. So ebbes is net gut, für sie net und net fürs Viech.« Mit besorgtem Blick sah sie der Emmerenz nach, die hinter den Kalben einherschritt, als ging' es weiß Gott wohin, nur nicht nach der Brünndlalm, nach ihrem ›liebsten Platzl auf der weiten Gotteswelt‹.


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