Ludwig Ganghofer
Edelweißkönig
Ludwig Ganghofer

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11

Drei Tage und zwei Nächte war Veverl schon vom Finkenhofe fern. »Na, so a weite Wallfahrt!« schmollte das Liesei und rechnete dem Pepperl an den Fingerchen vor, welch eine ›fürchtig lange‹ Zeit verstrichen wäre, seit die Veverlbas den Hof verlassen hatte.

Diese lange Zeit, die den sehnsüchtigen Kindern wie eine Ewigkeit erschien, war für Veverl so kurz geworden, wie Stunden sind.

In der immer gleichen, von flackerndem Fackelschein erhellten Nacht hatte Veverl alles Gefühl für die Zeit verloren. Bei allem, was sie sah und hörte, was sie dachte und fühlte, konnte sie sich nicht einmal darüber wundern, daß sie so häufig zu essen und zu trinken bekam und immer wieder zu schlafen vermochte. Sie schrieb das auf Rechnung der ›zaubermäßigen‹ Behandlung, in der sie sich mit ihrem kranken Fuße befand. So mußte sie auch glauben, daß die Besserung, die ihr Fuß in diesen Tagen und Nächten zeigte, der Erfolg von wenigen Stunden wäre. Das erfüllte sie nicht mit staunendem Respekt vor der Heilkunst ihres Alfen. Es war nur eine Bestätigung der märchenhaften Vorstellungen, die sie von ihrem wunderlichen Vater übernommen und während ihres träumerischen Lebens im Waldhaus großgezogen hatte und an die sie glaubte wie an den lieben Herrgott im Himmel. Ihre Seele glich dem Fabelsee, um den die Zwerge ihre Spiele treiben, in dem die Nixen auf und nieder tauchen und um dessen weiße Rosen die Elfen ihren Reigen schlingen, während hoch darüber hin im Blumenwagen die Feen schweben und der Himmel mit seinen ewigen Sternen in der Flut sich spiegelt. So liegt der See in geheimnisvoller Stille, bis das bärtige Sonntagskind an seine Ufer tritt, den Zauber bricht und die in den See gebannte Jungfrau gewinnt für ein Leben in Glück und Sonne – ›in Glück und Licht‹, wie Veverl den Edelweißkönig in ihrem sonderbaren Traum hatte sagen hören.

Als sie damals aus dem Schlaf erwachte, der sich angesponnen an ihren Traum, hatte sie sich an alles genau erinnert, was sie geträumt zu haben glaubte. Und da hatte sie um ihrer geträumten ›Keckheit‹ willen kaum den Mut gefunden, ihrem Edelweißkönig ins Gesicht zu schauen. Es war aber auch, als hätte der Alf in Wirklichkeit verspürt, was sie ihm in ihrem Traum Liebes erwiesen – ein so freundliches Lächeln und eine so helle Stirne wußte er zu zeigen. Und wie er zu ihr war! Wie er mit ihr plauderte! Wie er alles tat, was er nur zu tun vermochte, um sie vertraut und gesprächig zu machen! Er trank mit ihr die Milch aus der gleichen Schale, und aus dem gleichen Gläsl einen blutwärmenden Wundertrank, der überraschend an Tiroler Spezial erinnerte. Wenn sie aß, dann aß er mit ihr vom gleichen Teller. Und wenn sie die Augen zum Schlummer schloß, legte auch er sich zur Ruhe auf seinen Mantel hin, der, wie Veverl beschwören hätte können, aus den silbergrauen Blättchen von tausend Edelweißpflanzen kunstvoll gefertigt war, obwohl er sich ansah wie ein grauer Lodenfleck. Das war es besonders, was ihm Veverls Zutrauen gewann: daß er jedem Ding ein selbstverständliches Ansehen gab und alles, was er trieb, so lebensmäßig und hauswirtlich tat, ›akrat wie a richtiger Mensch‹!

Ja, wahrhaftig, der kannte die Erdenkinder, kannte sie auch in ihren kleinen schamvollen Schwächen und wußte für alles Unvermeidliche zu sorgen, viel besser als das Hausmädel im Finkenhof – und nicht so merklich. Für Veverl in ihrer hilflosen Verschämtheit waren es fürchterliche Minuten gewesen, als sie besorgen mußte, daß eine so verzweiflungsvolle wie natürliche Frage nicht länger zu verzögern wäre. Der gute Geist schien ihre stumme Qual nicht zu bemerken, sagte aber plötzlich, droben wäre ein glühend heißer Sommertag und er dürfe das nicht länger verschieben: seine dürstenden Pfleglinge zu tränken. »Ich tummel mich schon, daß ich bald wieder heimkomm«, beteuerte er, »aber a Stündl und länger kann's allweil dauern.« Kaum hatte er's gesagt, so war er verschwunden wie ein Hauch, und aufatmend bemerkte Veverl, daß plötzlich vorhanden war, was ihre sorgenvollen Augen früher nicht hatten entdecken können. Eine kleine häusliche Sache, aber doch auch eine ganz unentbehrliche! Man begreift, daß sie im Schlafzimmer des Königs von England, der als der feindressierteste aller Kavaliere der Erde gilt, nicht fehlen kann, nicht einmal in der Ruhestube des Heiligen Vaters zu Rom. Aber zwischen den ewigen Wänden eines Geisterhauses? Unter dem Palastgerät eines unsterblichen Alfen? Das erschien so überraschend, wie es willkommen war. Und fast noch dankbarer als für alle freundliche Betreuung, für die Wunderkur an ihrem Fuß und für die brüderliche Fürsorge durch Stunde und Stunde, war Veverl ihrem Alfen für den glühend heißen Erdentag da droben, für den Durst der Edelweißblüten und für den heimlichen Beistand, der jede schwierige Frage überflüssig machte und sich ebenso einfach wie unauffällig vollzog, ganz ohne jedes ›schreckhafte‹ Zauberwerk.

Freilich, eine Probe seiner Zauberfertigkeit hatte der Edelweißkönig doch geleistet. Aber das hatte er nicht getan, um sie staunen zu machen und zu verwirren, nur getan, um sie mit einer Freude zu beschenken. Und mit was für einer Freude! Sie hatte ihm sagen müssen, warum sie so spät in der Nacht an jene Stelle gekommen wäre, wo er sie fand. Und da hatte sie ihm von dem Wiedersehen mit ihrem Hansi erzählt, von der Verfolgung des Vogels und dazu des Vogels ganze Geschichte. Er sagte lächelnd: »Wann du den Vogel gar so liebhast, muß ich schon was übrigs tun!« Ehe sie wußte, was sie zu diesen Worten denken sollte, war er aus der Höhle verschwunden. Sie hörte durch die Felsen einen Pfiff und ein lockendes Schnalzen. Dann stand er wieder vor ihr, auf der ausgestreckten Hand den weißen Hansi, der die Flügel reckte und lustig schnatterte: »Do, do, a do, Echi, a do!« Sie lachte und weinte vor Freude und ließ den Vogel nimmer aus den Händen, der bald wieder so vertraut wurde, als wäre er nie von ihr getrennt gewesen und als hätte es nie eine Nacht gegeben, in der ein einsam gewordener Höhlenmensch den von den Klauen eines Habichts übel zugerichteten, halb schon verbluteten Vogel in den Latschen gefunden hatte. Sie wurde nicht müde, mit ihm zu scherzen, und brachte seiner Zunge manch ein vergessenes Wort wieder in Erinnerung. Und jener, dem sie diese Freude verdankte, saß dabei auf dem Rand ihres Bettes und betrachtete sie stumm. Unterbrach sie das Spiel, so begann er mit ihr zu plaudern. Was sie da alles zu hören bekam! Es machte sie stolz, daß er gar nicht geheim tat vor ihr. Als wäre sie seinesgleichen, so erzählte er ihr von seinem Geisterleben, von seinen Geistersorgen, von der Mühe, die ihm die Behütung seiner zahllosen Schützlinge bereite, von allem, was als Edelweißkönig seine Schuldigkeit wäre. Und für alles Geheimnisvolle fand er so muntere Worte, daß ihr häufiger das Lachen als das Gruseln kam. Dazu erzählte er die drolligsten Geschichten von allerlei sonderbaren Menschenkindern, die durch die Kraft der Königsblume den Weg zu ihm gefunden hatten. Bei solchem Geplauder umspielte immer ein heiteres Schmunzeln seinen Mund, als hätte er seine Freude an ihrem gläubigen Staunen. Und wie gut ihr diese Heiterkeit gefiel! Er wurde dabei so menschlich. Wenn er so lächelte, konnte sie keinen Blick von seinem Gesicht verwenden. Freilich, er sah doch auch der Hannibas so ähnlich, die so schön gewesen!

Schon mehrmals hatte er mit ihr vom Dorf geplaudert, von Leuten, die sie kannte. Und da fragte sie ihn einmal, ob er auch die Hannibas gekannt hätte. Eine Weile hatte er geschwiegen und hatte dann vor sich hin geflüstert: »Ob ich s' kennt hab, die Hanni? Ob ich s' kennt hab!« Wie hätte er die Hanni nicht kennen sollen, da er als Geist doch alle Menschen kennen mußte. Er wußte wohl auch von ihrem traurigen Tod, der ihm leid tat in seinem guten Geisterherzen? Das meinte sie aus dem wehen Klang seiner Stimme herausgehört zu haben. Und da war er plötzlich aufgesprungen, um an ihrem Fuß den Verband zu lösen, und hatte sie einen Versuch machen lassen, ob sie schon zu stehen vermochte. Der Versuch war gelungen. Sie hatte sogar ein paarmal den ganzen Raum der Höhle durchschritten, ohne einen heftigen Schmerz im Fuß zu empfinden. Das hatte ihn zuerst gefreut. Und plötzlich war er still geworden, fast traurig. Als sie wieder auf dem Bett lag, hatte er sie angesehen mit einem Blick, unter dem ihr heiß und kalt geworden war, und hatte gesagt: »Wie lang noch dauert's, und dein Fußerl is ganz in Ordnung. Und nacher wirst halt gehn!«

Das hatte ihr einen Stich ins Herz gegeben. Daß sie einmal wieder gehen mußte, von hier und von ihm? Daran hatte sie mit keinem Gedanken noch gedacht. Nun er sie daran erinnert hatte, verstand sie nicht, wie wunderlich ihr zumut wurde. Der Gedanke an die Heimkehr zu den Ihrigen mußte ihr doch Freude machen? Dennoch hätte sie lieber weinen als lachen mögen. Immer dachte sie nur an ihn. Wie von Herzen gut mußte er ihr geworden sein, da ihm der Gedanke an ihr Gehen so weh tat. Wie freundlich war er zu ihr gewesen! Was hatte er alles für sie getan! Wie hatte er sie gewartet und gepflegt! Und da sollte es ihr ganzer Dank sein, daß sie ein ›Vergelt's Gott‹ sagte und ihn allein ließ, sterbensallein!

Diese Gedanken ließen nicht mehr von ihr, und über dem vielen Denken vergaß sie des Redens. Sogar ihr Hansi hatte darunter zu leiden – am meisten aber jener, der das Wort gesprochen, das ihren freundlichen, an der Minute sich genügenden Verkehr zerstört hatte gleich einem bös wirkenden Zauber. Er wurde wortkarg und in sich gekehrt. Alles tat er schweigend, was er sonst mit unermüdlichem Geplauder begleitet hatte. Aber so stumm auch der Mund dieser beiden geworden, eine Sprache war ihnen doch geblieben, die Sprache der suchenden, fragenden Augen.

Aus solcher stummen Zwiesprach fuhr er einmal auf und schüttelte den Kopf, als wollte er Gedanken von sich abwehren, die ihn wider Willen überkamen. Mit zitternden Händen löste er den Verband von Veverls Fuß. Seine Worte klangen kurz und rauh, als er sie aufforderte, das Gehen zu versuchen. Sie wurde blaß vor Schreck und fühlte schon eine Schwäche in allen Gliedern, noch ehe sie auf den Füßen stand. Er brachte ihr die Schuhe. Als Veverl sie angezogen hatte und ihm versicherte, daß sie nicht den geringsten Schmerz verspüre, nickte er. Sie wunderte sich darüber, wie gut sich das Gehen machte. Langsam wanderte sie ein um das andere Mal in der Höhle auf und ab. Immer wieder sah sie ihn an, als warte sie auf ein Wort von ihm, daß es nun genug wäre.

»No schau, es geht ja ganz sauber!« sagte er endlich. »Und da kunnten wir gleich an Spaziergang machen. Ich muß dir doch mein Geisterloschie amal zeigen!« Das klang so sonderbar lustig, daß es sich fast anhörte, als wär' es traurig.

Er faßte ihre Hand und führte sie einer Stelle der Felswand zu. Zögernd folgte sie, befangen von ängstlicher Scheu. »A do, a do!« schnatterte Hansi und flatterte vom Bett auf die Schulter des Mädels, das sich vor eine dunkle, die Steinwand schief durchbrechende Felsenspalte geführt sah. Veverl hatte diese Spalte bisher nicht gewahren können und dachte nicht anders, als daß ihr Alf mit einem stummen Zauberwort die Felsen entzweigerissen hätte.

Ein Dutzend Schritte gingen sie im Dunkel, wobei jenes Murmeln und Rauschen, das Veverl unaufhörlich vernahm, sich zu nähern und zu verstärken schien. Dann machten sie eine Wendung, und mit einem staunenden Ruf verhielt das Mädel den Fuß. Sie stand in einem gewölbten Höhlenraum. Ein schmaler, feuchter Steingrund lief an der gekrümmten Wand entlang gegen ein enges Felstor, durch das ein bleiches Zwielicht schimmerte, ohne den tiefblauen Dämmerschein zu stören, der den ganzen Raum erfüllte. Dieses magische Licht schien aus dem kleinen See zu quellen, der dicht vor Veverls Füßen lag, jetzt ruhig und so glatt wie ein geschliffener Saphir von dunkler Farbe, im nächsten Augenblick aufwallend und Blasen werfend wie kochendes Wasser, und wieder still und ruhig, bis das alte Spiel begann. Dazu ein unablässiges Triefen und Rieseln an den Wänden, ein immerwährendes Klatschen der schillernden Tropfen, die von den abenteuerlich geformten, bläulich leuchtenden Zacken und Buckeln der gewölbten Decke herunterfielen in die geheimnisvolle Flut.

»Wie gfallt's dir da?« hörte Veverl in ihrem bangen Schauen den Alfen fragen. »Schau, dös is mein Brunnen.«

Sie nickte und flüsterte tief atmend vor sich hin: »Der Zauberbrunn!«

»Ganz recht, der Zauberbrunn«, lächelte er, »weißt, aus dem ich 's Wasser trink, dös ewig jung macht und ewig gsund. Aber komm, da kannst dich a bißl setzen! Da sitz ich oft ganze Stunden lang und schau so eini in dös blaue Wunder, weil's mir selber soviel gfallt.«

Er führte sie zu einer aus groben Felsstücken errichteten Bank, über die ein Brett gelegt war. Lange saßen sie hier, stumm vertieft in den Anblick des wundersamen Schauspiels.

Da schauerte Veverl fröstelnd zusammen; sie war wohl völlig angekleidet, doch hatte sie ihr Tuch nicht umgeschlungen.

»Gelt, a bißl frisch is da herin!« hörte sie den Alfen sagen. »Komm, da draußen macht's wärmer.«

Er führte sie zu jenem engen Felstor, durch das sie in einen breiten Höhlenraum gelangten, der ihnen gegenüber eine mannshohe Öffnung zeigte. Die mußte ins Freie führen. Durch sie erhielt der Raum ein Licht, als läge er im Frühschein eines erdämmernden Morgens. Für Veverls Augen schien nach der langen Nacht, in der sie geweilt hatte, dies graue Licht der helle Tag zu sein.

»Schau, dös is mei' Werkstatt«, sagte er, »mein Keller, mein Stadel, mein Schupfen. Und da draußen is der Stall. Schier an ganzen Bauernhof hab ich da beinand.«

Nahe der hellen Öffnung stand ein kleiner Tisch, der mit allerlei Werkzeug und halbvollendeten Schnitzereien bedeckt war. Daneben stand ein plump aus Brettern gefügter Schrank. In Ecken und Nischen waren Vorräte von Schnitz- und Brennholz aufgespeichert. An einem in der Wand befestigten Zapfen hingen große Stücke frischen Fleisches, und darunter sah man ein blutiges Lammfell zum Trocknen über gekreuzte Stäbe gespannt. Veverls Köpfl hatte viel zu tun, um diese ganze Natürlichkeit, die sich ihren Blicken bot, ins Übernatürliche zu übersetzen. Mit allem kam sie zurecht, nur mit den dicken Berggrasbüscheln, die in einer Ecke aufgeschichtet lagen, wußte sie nichts anzufangen. Ihre erste Meinung, als wäre das eine Art von Geistergemüse, schien ihr doch ein wenig zu gewagt. Die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten. Als sie sich mit ihrem Alfen jener Öffnung näherte, sah sie draußen auf einem von magerem, mattfarbigem Moos bewachsenen Raum eine Ziege liegen. Freilich, die Milch, die Veverl getrunken hatte, mußte doch irgendwo hergekommen sein. Eine Kuh im Alfenreich? Das wäre ihr nicht glaubhaft vorgekommen. Aber so eine zottige, krummhornige Ziege hat doch immer ein bißchen was Geisterhaftes und Urweltliches. Meckernd sprang das spitzbärtige Tier in die Höhe, während Hansi krächzend von Veverls Schulter flatterte und durch die Öffnung entflog. »Jesus, mein Hansi!« fuhr sie stammelnd auf, die beiden Hände nach dem fliegenden Vogel streckend.

»Mußt dich net sorgen! Der kommt schon wieder. Er fliegt halt a bißl umanander, frische Luft schnappen.«

Sie trat hinaus auf den von dicht ineinandergeflochtenen Latschenzweigen umhegten Raum. Es war die Oberfläche einer überhängenden Felsspalte. Und nun wußte Veverl sich jenes unablässige Murmeln und Rauschen zu erklären. Weiß schäumende Wellen rollten ihr zu Füßen vorüber, um weiter abwärts zwischen steil gesenkten Wänden brausend zu verschwinden, als stürzten sie in bodenlose Tiefe. Ein Schauder überflog das Mädel, während es die Augen über den Lauf der Wellen aufwärts gleiten ließ bis zu einem brodelnden Wasserkessel, in den aus dunkler Höhe rauschende Fluten sich ergossen. Es war ein unheimlicher Anblick. Überall Zeichen einer wilden Zerstörung, überall verwaschenes, unterwühltes und zerrissenes Gestein, in allen Fugen und Schrunden ein Wust von zertrümmertem Holz. Und als sie von diesem finsteren Bild die Augen zur Höhe hob, in Sehnsucht den lichten Himmel suchend, versperrten vorspringende Steinplatten und ineinandergreifende Felsgefüge ihren Augen den Aufblick, so daß sie wieder zurückkehren mußten zu dem rauschenden Gewässer.

»Wie grausig!« Veverl schauerte.

Der an ihrer Seite stand, nickte vor sich hin und sagte: »Wie halt der Höllbach is!«

Erbleichend taumelte Veverl zurück. »Jesus, Maria! Dös is der Höllbach?« Sie hob die Hand, um sich zu bekreuzen. »Ich bitt gar schön, daß wir fortgehn – fort von da!«

Sie fühlte kaum, daß seine Hand die ihre faßte, um sie zurückzuführen – atmete nur auf, weil jenes fürchterliche Bild verschwand und jenes Brausen ferner klang und wieder zu sachtem Murmeln und Rauschen sich dämpfte.

Zitternd sank sie auf das Bett und sah mit angstvollen Augen ihren Edelweißkönig an, der auf einen Stuhl sich niederließ und wie unter schmerzenden Gedanken die Stirn in die Hände nahm. Als er nach einer stummen Weile sich wieder aufrichtete, fragte er zögernd: »Warum bist du denn so arg erschrocken vorm Höllbach?«

»Weil da an Unglück gschehen is, a fürchtigs Unglück!« hauchte sie »Dös hat meim Jörgenvetter 's Haar grau gmacht und hat eim 's Leben kost', der 's Leben verdient hätt! Du mußt es ja wissen, du, der alles weiß!«

»Ah ja! Wer sollt's denn wissen, wann ich's net weiß!«

Veverl hatte kein Ohr für den seltsamen Ton dieser Worte. »Und du? Du hättst dös Unglück verhüten können?« stammelte sie in Hast. »Weswegen net hast es tan? Weswegen net hast ihm gholfen?«

»Wann ich gwußt hätt, daß er dich gar so dauert, wer weiß, leicht hätt ich's tan. Und wann er jetzt leben tät? Sag, Veverl, wärst ihm a bißl gut?«

»Von Herzen gut! An einzigsmal bloß hab ich ihn gsehen, in der Nacht, und soviel erschrocken bin ich gwesen! Aber allweil hab ich an ihn denken müssen. Und alle sagen, wie grad und richtig als er gwesen is! Und keiner will's glauben, daß er so ebbes Fürchtigs angstellt haben kunnt und daß er –«

»Daß er Menschenblut an die Finger hat!«

Veverl erschrak bis in die Seele.

»Gelt? Jetzt verschlag't 's dir aber d' Red! Tätst wissen, wie alles kommen is, leicht tätst von der Sach a bißl besser denken als wie's Gricht, dös man hinter ihm herghetzt hat. Freilich, 's Gricht därf net fragen: warum? Dös kann bloß fragen: was? Aber du! Sag Veverl, wer is dir 's Liebste gwesen im Leben?«

»Mein Vater selig.«

»Und jetzt denk dir, es wär einer kommen, der dein' Vater um d' Ruh bracht hätt, um Glück und Licht!«

»Ich hätt's net glitten!« fuhr Veverl mit bebenden Worten auf. »Den hätt ich packt, den wüsten Kerl.«

»No schau! Viel anders hat's der Ferdl net gmacht. Was dir dein Vater war, dös is dem Ferdl die Hanni gwesen, sein Auf und Nieder, sein alles! Soviel gfreut hat er sich, wie's ihn einbrufen haben nach München zum Militär. Weil d' Hanni drin war in der Stadt. Und da waren s' oft beianand, die zwei. Allweil hat er sich a bißl Sorgen gmacht, weil d' Hanni so traurig dreingschaut hat. 's Heimweh, hat er halt gmeint, 's Heimweh hätt ihr 's Herzl anpackt. Auf ebbes anders hat er net denkt. Drum hat er seim Bruder gschrieben, ob's net gscheiter wär, sie täten die Hanni heim. Und da kriegt er z' Mittag amal an Brief vom Jörg, daß d' Mariann kommt am andern Tag und d' Hanni heimholt. Gleich is er zur Hanni glaufen. Und 's Madl is erschrocken – der Ferdl hat gmeint: vor lauter Freud. Am andern Morgen findt er richtig die Mariann auf'm Bahnhof, und ihr erster Weg is zur Hanni gwesen. Die wär fortgangen, hat's gheißen, gegen den Platz ummi, wo dem Ferdl sei' Kasern war. Da sind s' der Hanni nach. Und wie s' zur Torwach hinkommen, wird dem Ferdl a Brief geben – a bildsaubers Fräulein hätt ihn dalassen, hat der Feldwebel gsagt, und wär gegen d' Isar nuntergangen.«

»A bildsaubers Fräulen?« warf Veverl flüsternd ein. »Dös kann doch niemand anders gwesen sein als d' Hannibas!«

Er nickte. »Der Ferdl macht den Brief auf und denkt sich noch allweil nix. Kaum fangt er 's Lesen an, da hat sich alles dreht um ihn. Es is gwesen, als falleten die Häuser über ihn her und der Himmel und alles. Und die Mariann hat er beim Arm packt: Komm, um tausend Gotts willen, komm, leicht is's noch net z' spat! Und fortgrennt sind s' mitanand, daß ihnen der Schnaufer schier ausgangen is. Wie s' nunterkommen zur Isar, sehen s' die Leut beieinanderstehn – Veverl! Wie soll ich dir sagen, was dös für an Anblick war: wie d' Hanni so daglegen is auf'm Pflaster!«

Veverl sah die Tränen nicht, die ihrem Alfen in den Bart kollerten. Sie saß gebeugt und schluchzte in die Hände.

»Gelt, Veverl, so ist dein Vater daglegen vor dir! Da mußt dir auch denken können, wie's dem Ferdl war! Du hast weinen können und beten. Im Ferdl aber war nix anders als wie dös einzige: Mei' Hanni, und der s' betrogen hat um Ruh und Glück, der s' einizogen hat in d' Schand und ins Wasser, der lebt, der lebt! Und da hat's ihn anpackt wie Feuer im Hirn, wie Nesseln im Blut. Forttrieben hat's ihn, hin zu dem, der d' Hanni aufm Gwissen hat. Wie dös gwesen is in ihm, da hätt er sich nacher nimmer drauf bsinnen können, und wann's sei' ewige Seligkeit golten hätt! Erst wie dem andern 's Blut über 's weiße Gsicht glaufen is und wie er ihn niederfallen hat sehen, da is ihm der halbe Verstand wieder kommen. Und da hat ihn 's Grausen packt über die eigene Schandtat –«

»Es war kei' Schandtat net, es is an Unglück gwesen«, klagte Veverl, »und unser Herrgott wird's ihm net vergessen haben, daß ihm 's Herzleid um d' Schwester den Sinn verwirrt hat.«

»Veverl! Dös war a barmherzige Wörtl. Ich sag dir Vergelt's Gott!«

Betroffen blickte Veverl auf. Und da sprach er nach kurzem Schweigen mit leiser Stimme weiter: »Tausendmal hab ich mir schon denkt, daß der Herrgott Gnad für Recht hat walten lassen, weil er's dem Ferdl erspart hat, a Menschenleben auf'm Gwissen z' haben. Es brennt ja Menschenblut schon gnug! Und alles andre! Alles andre noch dazu! Aber –« Verstummend sprang er auf, als wollte er alle Erinnerung an diese trübe Geschichte von sich abwerfen. Und während er sich aufs Knie niederließ, sagte er: »Schau, dös is net recht, daß wir über dem Ferdl auf dein Fußerl ganz vergessen.« Er bückte sich, um ihr die Schuhe herunterzuziehen, und hielt ihr zwei schwarze, wenig geisterhafte Filzpantoffeln hin, in denen Veverls Füße verschwanden wie weiße Mäuschen im Dachsbau.

Sie sah ihn an, wie betäubt von allem, was sie gesehen und gehört hatte. Bald fröstelte sie, bald glühten ihr die Wangen.

»Veverl, ich glaub, es braucht's kein' frischen Umschlag nimmer. A bißl Ruh noch, und alles is gut.« Er erhob sich, nahm seinen Platz auf dem Sessel wieder ein, kreuzte die Arme, nickte vor sich hin und sah ihr ernst in die Augen.

Veverl hielt seinen Blick eine Weile aus, dann senkte sie die Lider, als würde ihr bang vor dieser schwermütigen Glut.

Da sagte er: »Gelt, freust dich schon, daß bald wieder fortkommst aus der Finsternis und heim zu deine Leut?«

Sie zuckte zusammen und schwieg.

»Sag, Veverl? Wann wieder daheim bist, wirst auch diemal denken an mich?«

Sie nickte.

Er setzte sich an Veverls Seite auf das Bett. »Dös därf ich mir doch net hoffen, daß d' mich wieder amal bsuchen tätst?«

»Dös ging doch gar net!« stammelte sie. »Ich hab ja mein Königsblüml verloren.«

»Richtig, ja!« bestätigte er. »So eins wachst alle Jahr bloß an einzigs. Gelt? Aber dös wär kein Hindernis net. Wann ich amal wem gut bin, braucht er 's Königsblüml nimmer. Da gibt's allerlei Merkzeichen, wo ich ganz gern drauf geh. Zum Beispiel: wann d' am Höllbach in die Höh steigen tätst, bis zur ›hohen Platten‹ –«

»Wo 's Unglück mit dem Ferdl gschehen is?« unterbrach ihn Veverl, während sie ein Gefühl hatte, als begännen sich auf ihrem Kopf die Haare zu rühren.

»Ja, so a Platzl is bsonders gut für so was! Wann du da an Stein in'n Höllbach wirfst und bis zehne zählst und wieder wirfst und wieder zählst, fünfmal hinteranander, nacher tät ich wissen, daß du droben bist. Und auf der Stell wär ich bei dir! Aber –« Seufzend drückte der Alf, gleichsam zum fühlbaren Vorwurf, den Ellbogen sacht an Veverls Arm. »Gelt, du kommst nimmer?«

Veverl hatte nicht den Mut zu schweigen. »Man kann net wissen –« lispelte sie, bebend am ganzen Leib.

»Man kann net wissen?« wiederholte er. »Was ich weiß, weiß ich gwiß: daß mir bang sein wird um dich und daß ich allweil bei dir sein will mit meine Gedanken. Du hast mir liebe Stunden einibracht in mein unguts Leben. Du bist mir gwesen wie a freundliche Lichtl in der Finsternis. Wann jetzt gehst, wird's wieder Nacht. Und doppelt traurig schaut sich mein Leben an!«

Veverl saß mit geneigtem Kopf, die zitternden Hände im Schoß gefaltet. Sie spürte ein hämmerndes Pochen an ihrem Hals und fühlte Schauer um Schauer auf ihren Schultern. Wie herzlich sprach er zu ihr! Dennoch war ihr die Brust zusammengeschnürt in Furcht und Bangen, die Seele erfüllt von namenloser Angst. Sie guckte scheu an ihm hinauf und erbebte vor der leidenschaftlichen Flamme, die ihr aus seinem Blick entgegenschlug. Ehe sie wußte, wie ihr geschah, hatte er ihre Hand ergriffen, seinen Arm um ihre Schultern geschlungen, und so zog er sie an seine Brust, unter den leisen Worten: »Veverl, schau, am liebsten ließ ich dich gar nimmer fort von mir und tät dich bhalten für Leben und Ewigkeit!«

Da sprang sie auf mit einem markerschütternden Schrei und riß sich aus seinen Armen.

»Veverl!« stammelte er und streckte die Hände nach ihr.

Sie taumelte vor ihm zurück. »Jesus, Maria!« stöhnte sie mit blassen Lippen und schlug in Grauen die Arme vor das Gesicht.

Wenige Schritte folgte ihr der Alf mit gestreckten Händen, unter wirren Worten. Dann blieb er stehen, sah sie schweigend an und wandte sich ab. Die Fäuste an die Schläfen pressend, verschwand er aus der Höhle.

Mühsam nach Atem ringend, richtete Veverl sich auf. ›Fort, fort, fort!‹ Das war in Todesangst ihr einziger Gedanke. Sie starrte um sich, ihre Augen fanden den dunklen Trichter des Felsenganges und die flackernde Fackel. Sie huschte vom Bett, fuhr in die Schuhe, riß die Fackel von der Wand und stürzte mit ihr dem dunklen Schachte zu, auf den Lippen das Stoßgebet: »Heilige Mutter Gottes, steh mir bei!«

Keuchend hastete sie hinauf über Stufen und Geröll. Der Qualm der Fackel benahm ihr fast den Atem. Manchmal lehnte sie sich erschöpft an die Steinwand, um gleich wieder aufzufahren, erschreckt durch das gespenstige Flattern der ›Geisterdrachen‹, zu denen in ihren Augen die aus den Felsschrunden aufgescheuchten Fledermäuse wurden. Vorwärts und vorwärts! Bei diesem angstvollen Hasten wurden ihr die Minuten zu Stunden. Nun war der Schacht zu Ende. Kein Weg mehr. Vor sich und zu beiden Seiten fühlte und gewahrte sie nur kaltes, regungsloses Gestein. Im gleichen Augenblick klang hinter ihr eine Stimme, die ihren Namen schrie und unter dem Widerhall der hohlen Winde dröhnte. Die Fackel sank aus Veverls Händen, sie erlosch – und durch die Finsternis schimmerte in dünnem Streif ein grelles Licht. Den Namen des Erlösers kreischend, stürzte Veverl sich gegen die lichte Stelle. Der Stein gab nach. Aufjubelnd wankte sie hinaus in den hellen Tag, fast erblindend vor dem lang entbehrten Glanz der Sonne. »Veverl! Veverl!« tönte es noch aus dem Schacht. Sie floh wie ein gehetztes Reh durch die schlagenden Zweige der Latschenbüsche. Als sie den Almsteig erreichte, brach sie erschöpft zusammen, faltete die Hände und wollte beten. Ein donnerndes Krachen schreckte sie auf und trieb sie zu neuer Flucht. –

Ganz nahe war ein Schuß gefallen. Über dem Höllbach drüben, vor der Jagdhütte.

»Herr Graf«, hatte Gidi zu seinem Herrn gesagt, »an Schuß sollten S' doch machen, vor wir auffisteigen. Damit S' doch wissen, ob 's Büchsl noch richtig hinschießt.«

Schweigend hatte Luitpold das Gewehr aus Gidis Händen genommen und an die Wange gehoben. Auf hundertfünfzig Gänge lag zwischen den Bäumen ein faustgroßer, weißer Stein. Als der Schuß krachte, war er verschwunden.

»Geht schon noch! Sauber auch noch!« schmunzelte Gidi. Es war für ihn, seit sie am verwichenen Nachmittag das Schloß verlassen hatten, der erste vergnügte Augenblick.

Welch eine trübselige Nacht war das gewesen! In der Hütte waren die beiden vor dem flackernden Feuer gesessen, und Gidi hatte erzählen müssen – vom Finkenhof und ›vom selbigen Tag in der Hahnfalzzeit‹.

Der Morgen hatte schon durch die kleinen, vergitterten Fenster gegraut, als sie zur Ruhe gegangen waren. Von einer Frühpirsch auf den ›Kapitalhirsch‹ war keine Rede mehr.

Jetzt ging es der Höhe zu. Es galt den drei ›Fetzengamsböcken‹, die so ›gfangig‹ standen. Zuversichtlich stieg Gidi, den Hund an der Leine führend, seinem Herrn voran. Da droben wird's ›schnallen‹. Mindestens einer von den drei Böcken mußte ›dran glauben‹.

Als die beiden Jäger zu dämmernder Abendzeit in die Jagdhütte zurückkehrten, war der dicke Edelweißbuschen auf Gidis Hut die ganze Beute. Gidi machte ein Gesicht wie ›neun Tag Regenwetter‹. Hatte er doch beim ›Anriegeln‹ des ›Bogens‹ von der Schneide der Höllenleite aus durch das Fernrohr mit angesehen, wie sich der stärkste der drei Böcke vor den Stand des Grafen hingestellt hatte, ›schier mit'm Bergstecken zum Derschlagen‹. Vergebens hatte Gidi nach dem sehnsüchtig erwarteten ›Schnaller‹ ausgelauscht. Die Büchse quer im Schoß und den Kopf in die Hände gestützt, hatte der Graf neben dem Wechsel gesessen, während das Wild an ihm vorüberzog, gemächlich, als wüßte es, wie wenig Gefahr ihm drohe von dem so tief in Gedanken Verlorenen.

»Alles, was recht is! A richtiger Mensch muß trauern, wann er ebbes Liebs verliert. Aber an Gamsbock, der sich hinstellt auf a Dutzend Gäng, den braucht man deswegen net auslassen!«

Jetzt guckte Gidi im Küchenraum der Jagdhütte verdrießlich in die Pfanne, in der die ›Röschnocken‹ schmorten, sein und seines Hundes Nachtmahl.

In der Jägerstube saß Luitpold, durch das offene Fenster aufblickend zum dämmernden Himmel. Manchmal nippte er von dem roten Wein, der auf dem Tische stand.

Als Gidi hereinkam, um die Hängelampe anzuzünden, erhob sich Luitpold, wünschte seinem Jäger gute Nacht, lockte den Hund zu sich und zog sich zur Ruhe in das ›Grafenstüberl‹ zurück.

»Du lieber Herrgott! Den hat's arg erwischt! Der braucht a Zeitl, bis er sich wieder zammklaubt! – Laßt an Gamsbock durch!«

Der Jäger ging in die Küche zurück, um das Geschirr zu spülen und aufzuräumen. Als er damit zu Ende war, trat er ins Freie, schaute nach Wind und Wetter aus, schloß an allen Fenstern die Läden und versperrte, als er in die Hütte zurückkehrte, hinter sich die Tür.

In der Stube ließ er sich den Rest des Weines schmecken. Plötzlich erhob er sich, nahm seinen Hut vom Zapfen und betrachtete den Edelweißbuschen. »Ah was! Ich trag ihr den Buschen ummi. Weil er gar so schön is! Sie braucht ja net denken, daß er von mir kommt. A Freud hat s' doch!« Lautlos nahm er die Büchse, öffnete die Hüttentür, sperrte sie von außen wieder ab und sprang durch die Nacht dem Almsteig entgegen.

Als er die Lichtung erreichte, auf der er wenige Nächte zuvor mit dem ›Schafdieb‹ zusammengetroffen war, stockte ihm plötzlich der Fuß. Es war ihm, als hätte er ein Geräusch gehört, ein Rascheln im Gebüsch. Er lauschte in die Nacht hinein. ›Is wohl a Stückl Wildbret gwesen!‹ dachte er und sprang gegen die Brünndlalm.

Da tauchte aus den Büschen eine dunkle Mannsgestalt heraus, die sich über die schräg liegenden Felsplatten auf den Steig heruntergleiten ließ. Scharf hob sich das geschwärzte Gesicht mit dem lang herunterhängenden Schnurrbart von den helleren Steinen ab. Leis lachend spähte der Bursch dem Jäger nach und warf die kurze Büchse, die er in der Hand getragen, hinter die Schulter. »Dich hab ich glegen derschaut! Jetzt will ich dir den Almtanz danken! Geh nur fensterln! Ich zünd dir derweil a Lichtl an, daß d' leichter wieder heimfindst!«

Hastigen Laufes folgte er dem Pfad, bis die stille, dunkle Jägerhütte vor ihm lag. Neben der Tür waren dicke Reisigbündel aufgeschichtet, wie sie zum Entzünden des Herdfeuers dienen. Eines um das andere nahm er und reihte sie zu Füßen der Holzwand rings um die Hütte. Fast hatte er den Kranz geschlossen, als er aus dem Innern der Hütte den Anschlag eines Hundes vernahm.

»Schau, jetzt hat er sein Hundsviech daheim lassen! No, d' Jagdhund mögen 's Warmhaben gern!«

Er bückte sich, ein leises Zischen, und durch das dürre Reisig züngelten blaue Flämmchen.

Da fuhr der Wilddieb erschrocken auf. Ein klirrender Laut war an sein Ohr geschlagen, als wäre in der Höhe des Latschenfeldes die eiserne Spitze eines Bergstockes gegen einen Stein gestoßen worden. –

Der Bursche spähte über den Berghang.

Sein Blick drang durch die Nacht nicht hinauf bis zu jener Höhe, in der zwischen dichtem Latschengebüsch zwei Männer standen, Hand in Hand.

»Und pfüet dich Gott jetzt!« sagte der eine, der auf dem Rücken eine schwerbeladene Kraxe trug. »Ich hol in einer von die nächsten Nächt, was ich heut net tragen kann. Leicht is bis dahin auch a Schreiben vom Münchner Advokaten da. Und wie d' Antwort ausfallt, so oder so – in derselbigen Nacht mußt fort und über die Grenz.«

»Jetzt geh ich doppelt schwer.«

»Es muß sein. So geht's nimmer. Es reden d' Leut schon davon, daß ich so oft in der Nacht net daheim bin. Und gelt, sei gscheit und nimm dich in acht! Damit net am End noch wer dahinterkommt, wer im Höllbachgraben haust.«

Mit festem Druck umschlossen sich die Hände der beiden. Während der eine sich niederließ auf das Gestein und den Kopf in die Hände stützte, rückte der andere die Kraxe höher und stieg durch die Büsche hinunter.

Als er den Almsteig erreichte, wurde er angerufen: »Wer da?« Fast brachen ihm die Knie vor Schreck. Nur einen Augenblick währte die Schwäche, die ihn beim Klang dieser Stimme überkommen hatte. Dann sprang er hinaus über den Steig und keuchte dem finsteren Walde zu, verfolgt von jenem, der ihn angerufen. Talwärts ging es in wilder Jagd. Sorge und Verzweiflung schienen dem Menschen übermenschliche Kräfte zu geben; aber die Last auf seinem Rücken wurde wie Blei, der Atem begann ihm zu versagen, und von Schritt zu Schritt verminderte sich die Hast seines Laufes. Aus dem Walde vermochte er noch hinauszuwanken auf eine Rodung. Dann erloschen ihm die Kräfte. Da stand auch schon der Verfolger vor ihm.

»Finkenbauer! Du!«

»Ja, Gidi! Aber mußt dir nix Übels denken. Um tausend Gottes willen bitt ich dich, komm morgen zu mir und laß mit dir reden!«

»Der Finkenbauer auf Schleicherweg? Da brauch ich weiters nix wissen. Dös geht kein' Jager ebbes an. Dös schlagt ins Steuerfach!«

Die Achseln zuckend, wandte sich Gidi und schritt dem Waldsaum entgegen. Er suchte den Steig nicht wieder zu gewinnen. Quer über den Berghang nahm er die Richtung nach der Jagdhütte.

Manchmal blieb er stehen, um seinen erregten Atem zur Ruhe kommen zu lassen. Einmal murmelte er vor sich hin: »O du narrische Welt! Was eins erleben kann! Der Finkenbauer als heimlicher Schmuggler! Jetzt tät's mich nimmer wundern, wann sich d' Hebamm maschkieren möcht als Schützenhauptmann.« Da hob er lauschend den Kopf. Es war ihm, als vernähme er zwischen den Bäumen einen leisen Schritt, der sich zu nähern schien. »Ja, Himmel! Is denn heut der ganze Berg lebendig?«

Nun sah er eine dunkle Gestalt vorüberschreiten. Heiß schoß ihm das Blut zu Kopf, als er über die Schultern jener Gestalt den Lauf einer Büchse aufragen sah. Im gleichen Augenblick gewahrte er auch die scharfe Linie des geschwärzten Gesichtes mit dem langen Schnurrbart. Und da sprang er schon mit wildem Satz auf den Burschen los und schlug ihm die Faust ins Genick. »Hab ich dich amal, du Lump, du kotzmiserabliger!«

»Für heut noch net!« zischte Valtl und riß, unter Gidis Faust sich duckend, das Gewehr von der Schulter. Der Jäger erkannte die Gefahr und fuhr mit beiden Händen nach der Büchse. Zu spät. Ein Blitz, ein Knall. Und »Jesus!« konnte Gidi noch stöhnen. Dann brach er zusammen, und der Waldboden trank sein Blut.

Der Hall des Schusses rollte über den Berghang und brach sich mit dumpfem Widerhall an den finsteren Felsen.

Da fuhr auch jener einsame Träumer, der immer noch, seitdem ihn Jörg verlassen, regungslos auf dem Steine saß, empor aus seinen brütenden Gedanken. Ein Schuß? Wer konnte da geschossen haben? Mitten in der Nacht? Er spähte talwärts. Über dem Höllbach drüben sah er eine grelle Röte durch die Bäume leuchten, sah züngelnde Flammen aufschlagen zwischen den schwarzen Lärchenwipfeln.

»Herrgott im Himmel! Dem Gidi sei' Hütten brennt! Da hat's an Unglück geben! Und er is heroben! Er und der Gidi! Gütiger Herrgott, laß mich nur jetzt net z' spat kommen!«

Das waren nicht mehr Gedanken, es waren stammelnde Schreie. Und der sie ausstieß, jagte in rasendem Laufe talwärts, immer entlang dem abstürzenden Ufer des Höllbachgrabens, der Gefahr nicht achtend, die ihm drohte, oft in mächtigem Sprung hinwegsetzend über Steinblöcke und wirres Buschwerk. Als er den Balken erreichte, der den Höllbach überbrückte, hörte er schon das Krachen des brennenden Gebälks, das Rauschen der Flammen und das Geheul des Hundes. So schauerlich diese Laute klangen, sie gaben ihm Hoffnung, sie sagten ihm, daß in der Hütte das Leben noch nicht unmöglich geworden.

Nun stand er vor dem brennenden Hause, sah, wie der Rauch in dicken Stößen aus den vergitterten Fenstern quoll, und sah die Flammen auf und nieder lecken über die geschlossene Tür. Wie diese Tür öffnen? Mit verzweifelten Blicken spähte er umher. Kein Balken, kein Pfahl, kein Scheit! Aber dort, unter einer Lärche, stand der schwere Baumblock, der als Hackstock diente. Auf diesen Block stürzte er zu, riß ihn empor und schleuderte ihn gegen die glimmende Tür. Krachend klafften die Bretter auseinander. Während der Block zurückrollte von der Schwelle, zwängte sich schon der Hund mit heiserem Gewinsel durch die eröffnete Lücke, stand mit hängender Zunge, schüttelte die Funken von seinem Fell und stürzte aufheulend davon, zwischen den Bäumen verschwindend.

Ein Ruck der kräftigen Arme, die den Block geworfen, und die klaffenden Türbretter flogen zur Seite. Rötlicher Qualm schlug dem Eindringenden entgegen und trieb ihn wieder zurück über die Schwelle. Unter tiefem Atemzuge hob sich seine Brust. Dann stürzte er wieder vorwärts, hinein in den von zuckender Helle und lichtem Rauch erfüllten Küchenraum. Da stieß sein Fuß gegen einen menschlichen Körper. Er schrie, warf sich auf den gepflasterten Boden hin, riß den Leblosen an seine Brust und wankte mit ihm ins Freie. Aufatmend stand er still und erkannte das blasse Gesicht. »Er!« Seine Augen hingen wie gebannt an dieser weißen, von der breiten Narbe durchzogenen Stirn. »Der Gidi? Jesus, der Gidi!« Er ließ die Last seiner Arme niedergleiten ins Moos und wandte sich wieder der brennenden Hütte zu. Schon stand er auf der Schwelle. Da stürzte ein glühender Pfosten vor ihm nieder, und krachend neigte sich die eine Seite des Gebälkes, dessen Klammern das Feuer schon zerrissen hatte. »Da gibt's kein Helfen nimmer!« Er bekreuzte sich und sah mit trauernden Augen in den glostenden Haufen. Nun schrak er auf und sprang zu dem anderen, warf sich nieder zu ihm, griff nach der Stelle des Herzens, fühlte unter den zitternden Fingern ein mattes Pochen, raffte den Körper des Bewußtlosen auf seine Arme und eilte mit seiner Last in keuchendem Lauf dem Steige zu und hinauf über den steinigen Berghang, wo ihn die dichten Büsche verschlangen.

Er sah nicht mehr den Fackelschein, der sich auf dem Almsteig hastig einherbewegte durch den Wald. Und beim Rauschen des Höllbachs hörte er die schreiende Mädchenstimme zwischen den Bäumen nicht: »Da, Dori! Da! Da!«

»Ja, Enzi, da bin ich schon!« klang aus dem Wald die Antwort des Buben. »Was is denn? Wie ich aufgfahren bin aus'm Schlaf und hab dich schreien hören, hab ich gmeint, es träumt mir! Was is denn, sag?«

»Es muß was geben haben! A Stund kann's her sein, da bin ich aufgwacht, und es is mir gwesen, als hätt ich an Schritt ghört vor der Hütten.« Daß sie Gidis Schritt erkannt und den Edelweißbuschen vor ihrem Fenster gefunden hatte, das verschwieg sie. »Gar nimmer schlafen hab ich können. Und auf amal hat's gschossen. Gleich hab ich mir denkt, da muß ebbes net in der Ordnung sein. Mit'm Jager! Angehn tut er mich freilich nix, der Jager, aber a Mensch is er doch! Drum hat's mir kei' Ruh nimmer lassen –« Mit kreischendem Aufschrei verstummte Enzi. Etwas Erschreckendes war dicht an ihrem Rock vorübergefahren. »Was is denn dös gwesen?« stammelte sie und neigte die Fackel.

»Dem Gidi sein Hund!« schrie der Bub und deutete dem Schweißhund nach, der mit suchender Nase über den Steig surrte und zwischen den talwärts ziehenden Büschen verschwand.

»Heilige Mutter! Dem Gidi is ebbes gschehen!« schluchzte Enzi und fing zu laufen an, daß dem Dori die langen Beine zu kurz wurden. Nun blieb sie ohne Atem stehen, wie versteinert, und lauschte gegen den tieferen Wald. »Dori? Hörst es!« stieß sie mit heiserem Geflüster vor sich hin. »Hörst es denn net? Da drunt!«

Durch die Finsternis des Waldes klang der klagende Standlaut des Hundes, der seinen Herrn gefunden hatte.

Ehe Dori einen Gedanken auszudenken vermochte, war Enzi schon zwischen den Bäumen verschwunden. Der Bub rannte mit erhobener Fackel der Richtung zu, die sie genommen. Wohl vernahm er immer wieder das Rauschen und Brechen der Büsche und Zweige. Dennoch gelang es ihm nicht, das Mädel einzuholen. Näher und näher klang das Heulen des Hundes. Jetzt durchzitterte ein herzzerreißender Schrei die stille Nacht.

Keuchend kam Dori zur Unglücksstelle und sah den Jäger ausgestreckt auf der Erde, sah das Mädel über ihn hingeworfen und sah den Hund, der winselnd an der Faust seines Herrn leckte.

»Enzi!« stammelte Dori. Da fuhr das Mädel auf und schrie: »Da schau, jetzt haben s' ihn mir erschossen! Mein' Buben!« Wieder warf sie sich neben den Jäger hin, hob seinen Kopf in ihren Schoß und kreischte: »Jesus, Maria! D' Augen hat er offen. Und reden möcht er, und anlachen tut er mich! Gidi! Du Lieber, du Guter, du! Um tausend Gotts willen, mach d' Augen nimmer zu!« Ihre Worte erstickten. Während sie mit dem Arm über ihre Augen fuhr, sprudelte es wieder von ihren Lippen: »Ich bin die Richtige! Pfui Teufel! Heulen kann ich! Nix als heulen, wo's Helfen gscheiter wär! Weiter, Dori! Steck 's Licht in Boden! Und her zu mir!«

»Ja, Madl, ja!« stammelte der Bub und bohrte die Kienfackel in den moosigen Grund. »Enzi!« Er lauschte. »Mir is, als höret ich Leut im Wald!«

»Leut? Die schickt mir der Herrgott! Da is ihm zum Ausgleich ebbes Verstandsams eingfallen!« Mit hallender Stimme schrie sie in den Wald hinein: »Ho! Leut! Da her! Da her!«

»Ho! Ho!« scholl es von verschiedenen Seiten. Dunkle Gestalten tauchten unter den Bäumen auf. Es waren Holzknechte, die in der Hütte auf dem Höllbachschlage hausten. Sie hatten den Schuß gehört und die Brandröte gewahrt, hatten den Gluthaufen der Hütte gefunden und das jammernde Geschrei des Mädels vernommen. Jeder wußte einen Rat, und es schien ihnen das klügste, den Jäger hinunter ins Schloß zu tragen.

»Nix da!« fuhr Enzi auf. »Dritthalb Stund bis ins Dorf abi? Seids denn verruckt, ös Narrenviecher! Zu mir in d' Hütten kommt er auffi! Weiter, Dori! Her da! Du haltst mir mein' Buben! Du, Hies, rennst abi ins Ort um an Doktor! Weiter! Du, Sepp, springst auffi in d' Sennhütten, zündst a Feuer an, stellst Milli und Wasser zu! Da hast den Schlüssel zu meiner Truhen, da nimmst dir a meinigs Hemmed und schneidet es in handbreite Streifen! Weiter! Und du und du, ös zwei machts aus Stecken a Traggatter zamm! Und du, Lenzi, hilfst mir Daxen reißen zum Drauflegen!«

Einen Blick noch warf sie auf das Gesicht des Jägers. Dann legte sie seinen Kopf in Doris Arme und sprang auf die nächste Fichte zu, die Hände schon nach einem der buschigen Zweige streckend. Sie zog und zerrte die Äste nieder, daß es krachte durch den Wald, daß die rauhen Rinden ihre Hände blutig rissen und daß ihr der Schweiß in dicken Perlen über die Augen troff. Ihr Eifer feuerte auch die Männer an. Eine Hand kam der anderen zu Hilfe. Ehe noch wenige Minuten vergangen waren, konnten sie schon den Gidi auf die fertige Bahre legen. Sie hoben die Stangen auf ihre Schultern, drei Holzknechte und die Emmerenz. Dori leuchtete mit der Fackel voraus, und ihm zur Seite trippelte der Hund, der immer wieder stehenblieb und winselnd aufblickte zu der stillen Last, die da getragen wurde.


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