Ludwig Ganghofer
Edelweißkönig
Ludwig Ganghofer

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5

Still und finster lag noch die Nacht über dem Dorfe; nur einzelne Bergspitzen hoben sich mit mattem Schimmer aus dem Dunkel; auf jenen Höhen ruhte noch der Blick des Mondes, dessen Scheibe dem Tal schon hinter dem waldigen Grat der Höllenleite entschwunden war.

Mit sachtem Rauschen zog ein kühler Wind herunter über die finsteren Gehänge, spielte um die Erker und Türmchen des Schlosses, machte die Wetterfahnen knarren und singen, plauderte durch die kärglich belaubten Bäume des talwärts ziehenden Parkes und fuhr mit fauchenden Stößen durch die offene Tür des Jägerhauses, daß in der Küche die Herdflamme aufloderte und die über dem Feuer hängende Pfanne mit glimmenden Kohlenstäubchen übersprühte.

Auf einer Ecke des Herdes saß Gidi, in der Hand den eisernen Scharrlöffel. Leise pfiff er einen Ländler vor sich hin und guckte nachdenklich auf seine baumelnden Füße. Plötzlich hob er den Kopf. »Ah was! Geduld haben! Mit der Zeit macht sich schon alles.« Hurtig stocherte er den brodelnden Schmarren durcheinander. Die Speise war gar. Gidi stellte die dampfende Pfanne vor sich hin auf ein rußiges Brett, holte einen Löffel und begann zu essen, langsam und bedächtig. Manchmal, wenn er einen zu heißen Bissen erwischte, schnackelte er mit der Zunge und öffnete hauchend den Mund. Als er sein Frühstück zur Hälfte verzehrt hatte, bröckelte er ein tüchtiges Stück Brot in den Rest und stellte die Pfanne dem braunen Schweißhund hin, der auf einen Pfiff des Jägers gesprungen kam. Während der Hund sein Schlappern und Schlingen begann, trat Gidi in die Stube. Da stand ein flackerndes Kerzenlicht auf dem eisernen Ofen. Der Tisch, die Bänke und Stühle, das mit braunem Leder überzogene Sofa, der Schrank und die Kommode waren aus rötlichem Lärchenholz gefertigt. Die Wände starrten von Gemskrucken und Hirschgeweihen, die ihre zitternden Schatten über die weiße Mauer warfen. Das größte der Hirschgeweihe hing quer über dem Tischwinkel und trug zwischen den Stangen ein Kruzifix. Die ganze Wandseite zwischen Tür und Ofen nahm ein breites Zapfenbrett ein, an welchem Gidis Jagdgeräte hingen: die drei Gewehre, der Hirschfänger, die beiden Rucksäcke, das Fernrohr, die Schneereifen und Steigeisen.

Gidi verließ die Stube, um in der anstoßenden Kammer das Bett zu machen und mit dem weißen Tuch zu überdecken, das gefaltet auf einem Sessel lag. Außer einem Schranke bildeten Stuhl und Bett die ganze Einrichtung der Kammer. Gidis Waschtisch war der Brunnen, der draußen vor dem Hause plätscherte. An der Wand war die darstellende Kunst durch eine kolorierte Lithographie vertreten: ›Des Jägers Leichenzug‹; vier Hirsche tragen auf ihren Geweihen den offenen Sarg, darin der tote Jäger in grasgrüner Uniform auf Eichenlaub gebettet liegt; ein Hase in weißem Röckl trägt das Kreuz voran; zwei Kaninchen folgen als Kerzenträger, vier Maulwürfe mit winzigen Spaten sind die Totengräber; als Pfarrer in schleppendem Talar fungiert der Dachs, dem die kugelrunden Tränen der Rührung über die dachswürdig fetten Wangen tröpfeln; hinter dem Sarge, als erster Leidtragender, trollt des Jägers Hund, die Nase traurig gesenkt; ihm folgt, auf der Erde und in den Lüften, alles gefiederte und behaarte Getier des Waldes mit Zeichen und Mienen des tiefsten Schmerzes; nur der Fuchs, der Marder und das Wiesel bilden in diesem Trauergefolge eine Pharisäergruppe und schielen scheinheilig zu dem Fähnlein empor, das, von einem Rehkitz getragen, die Inschrift ersehen läßt:

›Den ihr da liegen secht,
Das war kein Schindersknecht,
Das war ein guter Jäger,
Darumb ein guter Heger,
O daß ein solcher wiederkommen möcht!‹

Ein kunstvoll geschnitzter Rahmen umzog das Bild, dem in einer Ecke des weißen Papierrandes die Worte aufgeschrieben waren: ›Ferdinand Fink z.f.E. s/e Egidius Eberl.‹

»Jetzt heißt's aber tummeln!« murmelte Gidi, als die Turmuhr mit brennendem Schlag die zweite Morgenstunde verkündete.

Er sprang in die Stube zurück, nahm Fernrohr, Rucksack und Büchse und griff nach dem Hut. »Du wirst dich aber schneiden, mein Lieber!« sprach er den Hund an, der ihn mit freudigem Gewinsel umsprang. »Heut heißt's daheimbleiben, ich kann dich net brauchen!« Der Hund schien diese Worte verstanden zu haben; demütig zog er die Rute ein, Gidi öffnete eine Tür, die der Stube gegenüber in ein leeres Zimmer führte, und breitete hier in einer Ecke einen alten Wettermantel über die Diele. »So, da legst dich schön nieder und tust mir ordentlich haushalten, verstehst mich! Pfüet dich Gott! Und dein Bebeewinkerl da hinten, dös kennst! Der Teifi soll dir d' Haar bergauf bürsten, wann dein manierliches Gedächtnis auslaßt. Also!« Dem Hund war es an den Augen anzusehen, daß er gut verstanden hatte. Vorsichtig bestieg er den Mantel, drehte sich schnüffelnd ein paarmal im Kreis und legte sich nieder, seufzend, über jene schlechte Angewöhnung der Menschen, die sie als Ordnungssinn und Reinlichkeitsliebe zu bezeichnen pflegen.

Gidi sperrte die Haustür ab und trat hinaus in die stille Nacht. Er warf einen Blick auf den sternhellen Himmel, hob die Hand, um den Wind zu prüfen, und nickte befriedigt vor sich hin. Rasch ging er die Parkmauer entlang, an die das Jägerhäuschen angebaut war, trat auf die Straße und wanderte durch das schlummernde Dorf. Still und dunkel lagen die Häuser. Nur am Wohnhaus des Finkenhofes sah Gidi hellen Lichtschein durch die herzförmigen Ausschnitte der Fensterläden dringen. Was mochte die da drinnen so früh aus den Federn getrieben haben? Gidi wußte noch nicht, wem am verwichenen Abend die Totenglocke geläutet hatte.

Lang hing sein Blick an dem dunklen Gesindehaus und besonders lang an einem kleinen, eng vergitterten Fenster des oberen Stockes. »Ah ja!« seufzte er vor sich hin und wanderte dem über die steilen Wiesen dem Brünndlkopf zuführenden Steig entgegen. Flinken Ganges suchte er die vor dem Finkenhof versäumten Minuten einzuholen. Als er das Gehölz erreichte, wurde sein Schritt bedächtig und lautlos. Er lüftete die Joppe und öffnete an der Brust das Hemd; ruhig ging sein Atem, während er den finsteren Weg emporstieg, auf dem nur ab und zu eine blanke Felsplatte das Dunkel mit mattem Weiß durchschimmerte.

Es hat einen seltsamen Reiz, solch ein Zu-Berge-Steigen in stiller Nacht. Geheimnisvolles Rauschen zieht durch Busch und Baum. In spärlichen Lücken der Äste blinken die Sterne. Bald näher und heller, bald ferner und schwächer hört man das Murmeln der talwärts rinnenden Bäche. Ein faulender Baumstrunk leuchtet im nassen, nachtschwarzen Moos. Es raschelt das dürre Laub, und vor dem Jäger flüchtet das aufgescheuchte Wild waldeinwärts. Neben dem Pfad ein leises Klappern. Das war wie ein Schritt. Aber kein Menschenfuß ist da gegangen, ein Stein hat wieder einmal einen Schritt getan auf seiner weiten Reise von der Felsenhöhe zum Tal. Aus finsterem Gezweige glühen zwei große runde Augen, und lautlos streicht die Eule durch das schwarze Gehölz. Höher und höher kommt man und gewinnt schon über steile Hänge einen Ausblick in das Tal, in dem die irdischen Lichter wie winzige Sterne flimmern, wenn der ziehende Nebel sie nicht verhüllt.

Eine Stunde war Gidi so gestiegen. Über ihm begannen die Sterne zu erblassen. Dämmerung erwachte unter den Bäumen, und von Osten blickte der Himmel schon mit hellem Frühglanz durch das Gezweig, in dem sich bereits vereinzelte Vogelstimmen schüchtern vernehmen ließen. Immer lauschte der Jäger bergwärts. Endlich hörte er, was er zu hören hoffte: jenes wunderlich klingende Klipp-klipp, das kein Jäger mit ruhigem Herzschlag vernimmt.

Eine Strecke pirschte Gidi noch unter den Bäumen, dann begann er den Hahn anzuspringen. Regungslos wie eine Säule stand er, solange der Auerhahn schwieg und das Klippen währte, das schon näher klang und anzuhören war wie helle, immer rascher aufeinanderfolgende Zungenschläge; leitete das Klippen mit dem ›Hauptschlag‹ über in das ›Schleifen‹ – in diesen seltsamen, aus Wispern, Blasen und Pfeifen gemischten Liebesgesang, währenddessen der sonst so wachsame Auerhahn taub ist für alles, was in seiner Nähe vorgeht – dann suchte Gidi sich mit drei flinken Sprüngen dem Baum zu nähern, auf dem er den Hahn vermutete. Und lautlos stand er wieder, ehe das Schleifen noch völlig zu Ende war.

Als der Jäger dem Stand des Hahnes sich so weit genähert hatte, daß er den Falzgesang genau vernehmen konnte, dachte er: Dös is der alte Hahn net! Da laß ich mich köpfen, wann dös net a junger Hahn is, der heut oder gestern erst zugstanden is. Eine Weile spähte er durch das Gezweig der Bäume. Da fiel sein Blick auf etwas Weißes, das, so unscheinbar es sich ansah, das Blut des Jägers in Aufruhr brachte. Jetzt fing der Hahn sein Schleifen an, und mit langen Sprüngen schoß Gidi auf die weiße Flocke zu, um sie von der Erde zu haschen. Es War ein zerfetzter, halbverbrannter Papierpfropf. Hier war ein Schuß gefallen. Auf den alten Hahn. Das mußte an jenem Morgen gewesen sein, an dem der Finkenbauer seinen Knecht vom Brünndlkopf hatte herunterkommen sehen. »Wart, dir leg ich 's Handwerk, du Haderlump!« stieß Gidi zwischen den Zähnen hervor. Da fuhr er lauschend auf; es war ihm, als hätte ein Reis geknackt, wie unter einem Tritt. Der Hahn ließ sein Falzlied verstummen und stob mit klatschendem Schwingenschlage davon. Hastig wandte Gidi sich der Richtung zu, aus der jenes Geräusch gekommen war, und sah aus dem Fichtendickicht den Lauf einer Flinte gegen seine Brust gerichtet. »Wer da?« rief ihn eine Stimme an. Gidi hatte mit raschem Sprung hinter einem Baumstamm Deckung gesucht, und schon lag ihm die Büchse im Anschlag an der Wange: »Gwehr nieder, oder es schnallt!« Im Gebüsch senkte sich die Flinte, und Gidi hörte eine wohlbekannte Stimme: »Dös isch er net! Dös isch der Grafejäger!«

»Je, da schau!« murmelte Gidi und ließ die Büchse sinken.

Zwei Gestalten lösten sich im Zwielicht des Morgens aus dem Dickicht: Herr Simon Wimmer in Begleitung eines Gendarmen.

»Was is denn jetzt dös für an Art?« lachte Gidi. »Meints leicht, ich bin a Scheiben für eure ärarialischen Schießprügel? Was habts denn zum Suchen da?«

»Nix für ungut, Herr Eberl«, stammelte der Kommandant unter Pusten und Schnauben, »bei derer Dunkelheit isch e Verkennung älleweil e mögliche Sach. Sie dürfe mer's glauben, es ischt für uns selber fürchtig. Die Bergsteigerei bei der Nacht hab ich dick! Und da habe mer jetzt schon ghofft, es hätt en End. Das ist eine verfluchte Geschichte! Eine verfluuuchte Geschichte!« Seine Stimme erstickte unter dem großen Taschentuch, mit dem er an Hals und Wangen den rinnenden Schweiß zu trocknen suchte.

Ein Gutes hätte diese Begegnung doch, ließ sich der Begleiter des Kommandanten vernehmen; sicherlich könnte der Jäger darüber Aufschluß geben, ob er Steig schon gangbar wäre, der zum Grenzpaß führe und von dort zurück gegen den Hochgraben der Höllbachklamm.

»Gangbar is er schon, der Steig! Aber dös wird a paar ghörige Tröpfln Schweiß kosten! Droben heißt's ordentlich stapfen im Schnee. Passen S' auf, Herr Wimmer, da werden S' wimmern! Was wollts denn da droben beim Grenzpaß? Habts an Schwärzer auf der Muck?«

»O Gottele, Gottele«, jammerte der Kommandant, »lieber möcht ich streifen auf e ganze Schmugglerbande als auf den, der zum Suchen ischt. Hab mich gestern noch so endsmäßig drüber gfreut, daß ich mich so gut steh mit'm Finkebauer. Und jetzt – das ist eine verfluchte Geschichte! Der Mann wird jetzt sein' ganze Haß auf mich unschuldige Würmle verkehre und wird net denke, daß gege die Berufspflicht ein und ällemal nix z' machen ischt.«

»Ho, ho, ho!« unterbrach Gidi Herrn Wimmers wehklagenden Redefluß. »Was kunnt denn der Finkebauer mit Schandarmenweg zum schaffen haben?«

»Sie, so müssen S' fein auch net reden!« fuhr der Begleiter des Kommandanten beleidigt auf. »Der Schandarm geht hinterm Unrecht her. Ich weiß net, ob ich auf Schandarmenweg net lieber geh als auf Jagerschlich.«

»Strapezieren S' Ihnen net so! Ich hab mir nix Übels denkt. Und im übrigen Pfüet Gott, wann's Ihnen gar so pressiert!« Das brummte Gidi dem Gendarmen nach, der ohne Gruß davongegangen war.

»Lassen S' ihn! Ischt halt e Hitzköpfle!« seufzte Herr Wimmer unter seinem rührsamen Taschentuch. »Aber glaube Se mir, der Finkebauer hat jetzt mehr mit uns z' schaffen, als ihm selber und uns älle lieb ischt. Wir streife da auf sein' Bruder, auf den Fink-Ferdinand, der vom Regiment desertiert ischt und auch sonst noch in ein fürchtige Verdacht –« Freund Simon verstummte. Er schien sich der Tatsache zu erinnern, daß es Amtsgeheimnisse gibt.

»Der Ferdl? Desertiert?« fuhr Gidi erschrocken auf. »Dös is net wahr, dös glaub ich net!«

»Und doch ischt die Sach net anderscht, leider Gottes!« jammerte Herr Wimmer und wollte schon einen ausführlichen Bericht beginnen, als ihn ein schriller Pfiff seines Begleiters zur Eile mahnte.

Gidi blieb allein und blickte ratlos dem in die Dämmerung hineinwürmelnden Kommandanten nach. Der Ferdl desertiert? Das Wort war ihm in die Glieder gefahren. Der Ferdl? Der nie ein Unrecht tat und niemals Unrecht duldete, nie einen Streit begann und Streit bei anderen stets mit dem rechten Wort zu schlichten wußte? Der das beste Gut des Menschen in einem ehrlichen Namen sah? Der den blauen Rock des Königs immer mit Stolz getragen hatte und für seine Tapferkeit auf dem Schlachtfeld mit dem Eisernen Kreuz belohnt wurde? Und dieser Ferdl sollte gehandelt haben wie ein Ehrloser oder Feigling? Und jenes andere Wort des Kommandanten? Welcher Verdacht konnte auf dem Ferdl lasten? Ein Verdacht kann falsch sein und ungerecht, muß es sein gegenüber einem Menschen, wie der Ferdl einer war! Aber ein Mensch ist immer nur ein Mensch. Es können Stunden kommen, in denen man seiner selbst vergißt. War eine solche Stunde über den Ferdl gekommen?

»Na! Na! Ich kann mir nix Schlechtes vom Ferdl denken!«

Rings um den Jäger erwachte der Tag. Rosiges Licht übergoß den Himmel und flutete durch den Bergwald. Die schneebedeckte Zinne, hinter der die Sonne herauftauchte, sah sich an, als trüge sie eine Riesenkrone von glühendem Erz. Ein goldenes Leuchten und Flimmern, ein Flattern, Pispern und Zwitschern im Wald. Auf der nahen Rodung klang aus dem Heidelbeerkraut das Locken der Auerhennen, und mit leisem Krächzen schoß eine verspätete Schnepfe über die Wipfel hin.

Da klang von der Felsenhöhe ein dumpfes Brummen herunter. Gidi fuhr auf. Da droben mußte eine Schneelawine gegangen sein. Wer hatte sie gelöst? Eine flüchtende Gemse? Oder ein Mensch?

Heiß schoß dem Jäger das Blut in die Stirn. Daß ihm erst jetzt dieser Gedanke kam! Wenn Ferdl einer Hilfe bedurfte? Mußte er sie nicht zuerst beim Freunde suchen? Gidi rannte über den Hang, daß unter seinen Schuhen die Steine flogen. Auf und nieder, aus dem Bergwald hinaus über die Lichtung der Brünndlalm und der Höllbachklamm entgegen, aus der ihm von ferne schon das Brausen und Tosen des Wildwassers entgegendröhnte. Jetzt erreichte er die Schlucht. Ein Baumstamm war als Steg über die finstere Tiefe geworfen. Gidi eilte darüber weg, als wäre der Baum eine breite Straße, und erreichte die aus Blöcken gefügte Jagdhütte. Sie stand auf einem grasigen Hügel, überschattet von moosbehangenen Fichten.

Der Jäger zerrte einen Schlüssel aus der Tasche, schloß die aus dicken Bohlen gezimmerte Tür auf und trat durch den Küchenraum in die Stube. Er legte Büchse und Rucksack ab, öffnete die zwei kleinen, mit Eisenstäben vergitterten Fenster und stieß die Läden auf. Sonnenlicht erhellte den mit Brettern verschalten Raum, dessen Einrichtung aus Tisch und Bänken, einem Wandschrank und Geschirrahmen, einem eisernen Ofen und einem Bett mit wollenen Decken bestand. Er rührte die Klinke der versperrten Tür, die zu der anstoßenden ›Grafenstube‹ führte. Und wieder hinaus ins Freie. Den forschenden Blick zur Erde gerichtet, umkreiste er die Hütte. »Dagewesen is er! Keine zwei Stund kann's her sein!« Vor den Fenstern war das Gras zertreten, und an einer feuchten Bodenstelle zeigte sich der Abdruck eines Männerfußes, einer ungenagelten Sohle.

Kopfschüttelnd kehrte Gidi zur Tür zurück und setzte sich auf die Schwelle. Mit funkelnden Augen spähte er hinauf zu den felsigen, schneebedeckten Höhen. Dann nahm er das Fernrohr und suchte mit ihm die steilen Hänge und den Grat der Höllenleite ab. Seufzend ließ er das Glas sinken und spähte wieder mit flinken Augen. Plötzlich zuckte es über sein Gesicht. »Was is denn da droben? Dös kann doch kein Gams net sein!« Hastig richtete er das Fernrohr nach dem schwarzen, beweglichen Punkt, den er hoch zwischen klotzigen Felsen und dem steilen, schneebedeckten Hange wahrgenommen hatte. »Jesus Maria, der Ferdl! Und grad in d' Händ muß er ihnen laufen, wann er aussisteigt übern Grat.« Er sprang in die Stube, riß die Büchse an sich, stürmte wieder ins Freie und schmetterte hinter sich die Tür ins Schloß. Über den Berghang hinauf, als hätte er ebenen Grund unter sich. Noch ehe der Wald zu Ende ging, begann der Schnee, der sich in dicken Klumpen an Gidis Schuhe heftete. Jetzt erreichte er eine offene, von Felsentrümmern übersäte Fläche und spähte zur Höhe. Deutlich konnte er die Gestalt des Freundes unterscheiden, den nur noch eine kurze Strecke vom Grat der Höllenleite trennte.

»Na also, ich hab mir's ja denkt!« stammelte Gidi. Der gleiche Blick, der ihm den Freund zeigte, hatte ihn auch die scharf vom Himmel abgehobene Gestalt gewahren lassen, die vom jenseitigen Berghang über den Grat auftauchte. Er riß einen Fetzen Bast von einer Birke, nahm ihn zwischen die Lippen, und nun schrillte ein Laut durch die Lüfte, der wie der Schrei eines Habichts war. Dreimal wiederholte er dieses Warnungszeichen. Das mußte Ferdl hören und mußte sich der Zeiten erinnern, in denen sich die Freunde mit diesem Ruf im Bergwald gesucht und gefunden hatten.

Gidi sah, wie Ferdl im Anstieg plötzlich innehielt und in rasender Flucht sich talwärts wandte. Der Warnungspfiff des Jägers konnte noch nicht bis in jene Höhe gedrungen sein. Ferdl selbst mußte die Gefahr gewahrt haben, die über ihm drohte. Und auch der Verfolger mußte von der Grathöhe den Flüchtling erblickt haben, denn er stürmte über den steilen Hang herunter. Gidi meinte in dem Verfolger den Begleiter des Kommandanten zu erkennen. Der war allein. Hatten die mühsamen Pfade jenseits des Grates den Kommandanten hinter seinem Begleiter zurückbleiben lassen? Oder war er nicht hinaufgestiegen, sondern andere Wege gegangen?

Gidi nahm sich die Zeit nicht, diese Frage zu beantworten. Er zwängte sich zwischen Felsblöcken hindurch, wand sich über klotziges Gestein und eilte dem Rande der Höllbachklamm entgegen. Immer dem Abgrund folgend, mühte er sich keuchend der Höhe zu. Das Rauschen und Brausen der Gewässer, die in dunkler Tiefe ihre schäumenden Wirbel schlugen, erstickte das Geräusch seiner Tritte. Es gehörten der schwindelfreie Blick und der sichere Fuß des Jägers dazu, um solchem Weg mit solcher Eile zu folgen. Da war nirgends ein Übergang von der offenen Höhe zur Tiefe, überall jäh abstürzendes Gestein; bald erweiterte sich die Schlucht zu riesigen Kesseln, in deren Abgrund die milchweiße Brandung kochte, bald wand und krümmte sie sich im Bogen, und da brüllte der Bach unter dem Zwang seiner engen Fesseln, sich aufbäumend an verwaschenen Felsen; bald wieder verschwand das Wasser mit dumpfem Brummen unter vorspringendem Felsgefüge, unter schief in bodenlose Tiefe sich senkenden Wänden. Überall entquoll eine dunstige Kälte dem Abgrund, und dünne Nebel schwebten herauf, um in der Sonne zu zerfließen.

Höher und höher eilte Gidi, in Sorge, ob er noch rechtzeitig jene Stelle erreichen würde, an der die Schlucht ihre Ränder so nah aneinander zieht, daß sie mit einem herzhaften Sprung zu übersetzen war. Ferdl mußte auf seiner Flucht in die Nähe dieser Stelle gelangen. Weiter drüben sperrten abstürzende Felsen seinen Weg, und die offene Almlichtung durfte er nicht betreten. Gidi hoffte, daß es ihm gelingen würde, den Freund im richtigen Augenblick an jene Stelle zu rufen. Und hatte er ihn erst an der Hand, dann wußte er ihn auf Wege zu führen, auf denen kein Dritter ihnen folgen würde. Nur eine offene, von Geröll überdeckte Felsfläche und einen niederen, von Latschen, Birken und kümmernden Fichten bewachsenen Hang hatte Gidi noch zu überwinden.

Nun erreichte er die Felshöhe, und da erstarrte ihm der Fuß. Auf dem jenseitigen Rande der Schlucht sah er den Kommandanten hinter einem Steinblock kauern, so rund zusammengehuschelt, daß er einer grün montierten Riesenkartoffel ähnlich war. Lauschend hielt Herr Wimmer den Kopf nach vorne geschoben und spähte über die Kante des deckenden Steines. Aus dem bergwärts ziehenden Latschendickicht hallte lautes Rappeln, Rollen und Brechen. »Halt!« ließ eine heiser schreiende Stimme sich vernehmen. Jenes Klappern und Brechen verstummte nicht, es verstärkte sich, kam näher und näher. Im Latschendickicht sah man die Wipfel und Äste zittern, schwanken und schlagen. »Halt!« wiederholte sich jener heisere Ruf. Nun teilten sich die Zweige, und Ferdl wankte auf das offene Gestein, keuchend wie ein gehetztes Wild. Einen Augenblick unterbrach er, um Atem zu schöpfen, seinen Lauf und drückte die eine Faust, mit der er die blaue Mütze krampfhaft umschlossen hielt, auf die kämpfende Brust, die andere auf die rechte Hüfte, von der das Beinkleid niedergerissen war und den blutüberronnenen Schenkel entblößten. Wieder wollte er talabwärts fliehen. Da würmelte der Kommandant aus seinem Versteck hervor und sperrte den Weg. »Ergeben S' Ihnen in Güt, Ferdinand Fink! Es isch kein Ausweg mehr!«

Wortlos taumelte Ferdl zurück, spähte mit brennenden Augen um sich, sah drüben den Jäger stehen und stürzte unter gurgelndem Aufschrei dem Rande der Höllbachschlucht entgegen.

Hinter ihm brach in diesem Augenblick der Verfolger aus dem Dickicht und riß mit einem dritten »Halt!« das Gewehr an die Wange.

»Net schieße, net schieße!« kreischte der Kommandant, der aus Naturanlage kein Freund von tragischen Verwicklungen war und vielleicht auch ein bißchen an seine bedrohten Heiratspläne dachte. Angstvoll zappelte er auf den Gendarmen zu, und während er ihm das Gewehr in die Höhe schlug, daß der Schuß sich krachend in die Luft entlud, fuhr drüben über der Schlucht der Jäger aus seiner Erstarrung auf, mit dem Warnungsschrei: »Um Gotts willen, Ferdl, dös is ja verruckt, da springt ja kein Hirsch net ummi!«

Die Warnung kam zu spät. Schon schnellte Ferdl sich mit hohem Satz hinaus über den Rand der Schlucht. Die Verzweiflung mußte ihm die Kräfte zu solchem Sprung gegeben haben. Glücklich erreichte er auch mit den Füßen das andere Ufer, doch unter der Wucht des Sprunges brachen ihm die Knie. Jammernd warf Gidi sich mit gestreckten Armen dem Freund entgegen, konnte ihn nimmer erreichen, nimmer fassen, sah ihn taumeln, sah ihn die Arme kreisend in die Luft schlagen und rückwärts niederstürzen über den Felsenrand, unter dem gellenden Aufschrei: »Jesus Maria! Grüß mein' Jörgenbruder!«

Ein dumpfer Schlag, das Rasseln und Poltern der nachstürzenden Steine, und aus der Tiefe war nur noch das Brausen und Rauschen des Wassers zu hören, während in der Höhe der schneebedeckten Felsen mit grollendem Hall das Echo des Schusses verrollte.

»Jesus!« stammelte Gidi. »Unser Herrgott sei gnädig deiner armen Seel!« Er hob die zitternde Hand und bekreuzte das erblaßte Gesicht.


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