Ludwig Ganghofer
Edelweißkönig
Ludwig Ganghofer

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9

Wochen vergingen. Die Tage begannen schon wieder kürzer, die Nächte kühler zu werden. Der Bergwald dehnte sich in dunklem Grün, die Almrosen hatten verblüht, doch auf den windumwehten Schrofen spannte jetzt die lieblichste aller Hochlandsblumen ihre schneeigen Sterne in stiller Schönheit über das kümmernde Höhengras.

Es war in der zweiten Augustwoche, zur Zeit der Edelweißblüte, als Dori eines Morgens aus der Reisighütte kroch, die er sich im Gestein errichtet hatte, um den auf den Lahnern weidenden Schafen auch zur Nachtzeit näher zu sein. Von der Kälte waren ihm die Glieder so starr geworden, daß es ihn Mühe kostete, durch das wirre Latschengezweig zu der Stelle zu gelangen, von der er die Glocke des Widders und die Schellen der Muttertiere hörte. Mit hellem Hirtenruf lockte er die Tiere. Am hurtigsten folgten die Lämmer. Er überzählte sie, während sie ihm unter lustigen Sprüngen näher kamen. Sieben zählte er. Das achte fehlte. »Mar und Josef! Es wird doch net schon wieder eins –« Im gleichen Augenblick hörte er vom tieferen Hang herauf das Klagen des Mutterschafes. Als er das Tier erreichte, liebkoste er es und sprach zu ihm in schmeichelnden Worten. Dann machte er sich auf die Suche. Dabei folgte ihm das Schaf auf Schritt und Tritt, als verstünde es den Hilfswillen des Hirten.

Der Mittag kam, und Dori hatte das Lamm nicht gefunden, doch in der Nähe des Weideplatzes auf feuchtem Sand die frische Fährte eines genagelten Männerschuhes. In seiner Ratlosigkeit sprang er zur Sennhütte hinunter. Obwohl auch Emmerenz nichts anderes dachte, als daß man das Lamm gestohlen hätte, verbrachten die beiden doch den ganzen Nachmittag mit Suchen. Sie hatten sich geteilt. Dori suchte gegen den Höllbachgraben zu. Dabei geriet er in die Nähe der Jagdhütte und sah, daß Gidi wegfertig aus der Tür trat. Der Bub rannte auf den Jäger zu. »Was sagst! Jetzt geht mir schon wieder a Lampl ab.«

»Seit wann?« fuhr Gidi auf.

»Seit heut in der Nacht.«

Gidi tat einen leisen Pfiff. »Ah da schau! Jetzt is dös a Schafdieb gwesen! Heut in der Nacht bin ich droben gsessen unter der Höllenleiten. Ich muß doch amal draufkommen, was dös allweil für a Treiben is im Berg umanand. Um zwei in der Fruh hör ich Steiner gehn, auf vier-, fünfhundert Schritt von mir. Holla! Der Mond is hell gwesen. Jetzt fleckt's aber, hab ich mir denkt. Und auf! Übern Höllbach ummi, bergab bis auf'n Steig und wieder in d' Höh bis zur Lichten im Altholz. Da muß er mir grad in d' Händ laufen. Und richtig, keine fünf Minuten hat's dauert, da hab ich ihn schon daherraffeln hören. Jetzt steht er da vor mir, auf fufzg oder sechzg Schritt! An Mordsbart hat er ghabt und lange Haar wie a stadtischer Maler. Auf'm Buckel hat er ebbes tragen. Gschworen hätt ich, dös is a Gamsjahrling. ›Halt, Lump!‹ fahr ich auf. Mit eim Satz is er drunt überm Steig. Ich hinter ihm her, bergab, bergauf, übers Gsteinet, durch d' Latschen, am Höllbachgraben in d' Höh. Und gahlings hör ich kein Sprüngl nimmer. Fürkommen is mir's noch, als hätt ich a Trumm Stein rumpeln hören. Und stad is alles gwesen, mäuserlstad. Wart, Lump, du stimmst mich net! Hast dich halt einidruckt hinter an Steinbrocken. Dich derwart ich schon. So bin ich gstanden. 's kleinste Ruckerl hätt ich hören müssen im Gsteinet, wo kein Mösl und kein Grasl is. Aber Tag is worden. Und nix, nix, nix! Verschwunden is er gwesen, wie wann ihn der Höllische gholt hätt!«

Dori riß Mund und Augen auf.

Und Gidi sagte: »Weil ich nur weiß, daß dös a Schafdieb gwesen is. Da geh ich leichter ins Tal. Morgen muß ich in d' Stadt eini. Da hab ich Gerichtsverhandlung weg'm Leitnervaltl.«

»Tust mir an Gfallen, gelt? Und sagst es dem Bauer, daß mir wieder a Lampl abgeht.«

»Will's ihm wissen lassen, ja! Und daß kei' Schuld net hast. Aber mußt halt fleißig wachen. Pfüet dich Gott!«

Dori guckte dem Jäger nach, der, ohne den Steig zu suchen, durch den Wald hinunterstieg. Gidis Schritt war lange schon verhallt, und noch immer stand Dori auf dem gleichen Fleck, mit seinen langsamen Gedanken beschäftigt. Endlich richtete er sich seufzend auf, ging dem Höllbachgraben zu und überschritt die Schlucht auf dem schwankenden Baum. Als er auf dem tieferen Gehäng den Steig erreichte, hörte er das Klappern leichter Schritte. Er lugte durch die Bäume, gewahrte einen weißen Schimmer und stieß einen gellenden Juhschrei aus. Wie ein Irrsinniger rannte er über den Steig hinunter. »Veverl, Veverl, Veverl!« Unter der Wucht seines Laufes brach er vor dem erschrockenen Mädel in die Knie. Der Bergstock kollerte ihm aus den Händen, und das Hütl flog ihm davon wie ein Heuschreck.

»Aber Dori!« stotterte Veverl. »Wie kannst denn so narrisch daherrumpeln?«

»Veverl, Veverl!« Sich aufrichtend, tappte er nach den Händen des Mädels.

Scheu verwundert sah Veverl in Doris Gesicht. Leichte Röte färbte ihre Wangen.

»Veverl! Jesus! Wie geht's dir denn? Wie kommst denn da auffi? Und ganz allein bist! Hast dich net verirrt? Schau, da is a schönes Platzl!« Er sprang einem kleinen Mooshügel zu, der zu Füßen einer alten Fichte lag, scharrte die dürren Reiser fort und klatschte die Stelle glatt mit beiden Händen. »Schau, da hast a Rasten wie auf'm Kanapee! Gelt ja?« Zu Veverls Füßen kauerte er sich nieder, zog die Knie an den Leib, schlang die Arme darum und guckte mit seinen glänzenden Durstaugen selig zu dem Gesicht des Mädels hinauf. »Geh, sag mir nur, wie kommst denn auf amal daher? Hat dich denn der Bauer gehn lassen? So allein?«

»Der Jörgenvetter is net daheim. Der hat a Gschäft wo draußen in einer von die Ortschaften. Erst morgen am Abend kommt er zruck. Und übermorgen is der Bäuerin ihr Namenstag. Da hätt ich gern a paar Kranzln gmacht und an schönen Buschen aus Almrausch und Edelweiß.«

»Almrausch?« jammerte Dori. »Da is aus und gar. Aber Edelweiß! Da gibt's grad gnug! Schau, gleich da drüben wachsen die schönsten, wo's a bißl licht is, am Höllbachgraben auffi.«

Veverl erblaßte. »Na, Dori! Da mag ich keine net, vom Höllbachgraben!«

Erschrocken griff Dori mit beiden Händen nach seinen Ohren. »Jesses! Daß ich da net dran denkt hab! Mußt mir net harb sein!«

Veverl lockerte das Halstuch über dem Mieder und schüttelte das Köpfl.

So saßen sie wortlos, bis Veverl das weiße Bündel, das sie am Arm hatte, auf den Schoß nahm und die verknüpften Zipfel löste. »Magst net a bißl zugreifen?«

Als Dori die braunen, runden ›Brandnudeln‹ sah, die sich auf dem weißen Tuch appetitlich ausnahmen, funkelten seine Augen vor Sehnsucht wie zärtlich gewichste Stiefelspitzen. »Ah na! Iß nur du, Veverl! So a Weg macht Hunger!«

»Wann net teilen willst, iß ich auch nix.«

Er stotterte: »Jessas na!« Und griff mit beiden Händen zu.

Nun schmausten sie, daß sich der Vorrat auf dem weißen Tüchl hurtig verminderte. Und während Dori schmatzte und schluckte, wandte er keinen Blick von dem Gesicht des Mädels, das mit träumenden Augen hineinlugte in den leis rauschenden, von wispernden Vogelstimmen erfüllten Bergwald.

»Gelt«, sagte Dori, »schön is da heroben bei uns im Wald?«

Veverl nickte. »Wie sollt mir der Wald net gfallen! Alles Denken in mir geht zruck in'n Wald. Aber weißt, soviel er mir gfallt, soviel traurig muß er mich machen. Schau ich a Bäuml an, so fallt mir mein Vater ein. Wie der den Wald erst mögen hat! Ich mein', es kunnt ihm gar net gfallen im Himmel, wann kein Wald net droben is.«

»Es wird schon einer droben sein! Hat's früher kein' geben – sobald dein Vater kommen is, hat unser Herrgott auf der Stell ein' derschaffen. Ich hätt's auch so gmacht, wann ich der Herrgott wär! Deim Vater z'lieb.«

Veverl, in Gedanken versunken, blickte hinauf zu dem von goldenen Lichtern durchzitterten Gezweig und fühlte die Zähren nicht, die ihr niederrannen über die Wangen. Dem Dori blieb, als er diese Tränen sah, der Bissen im Halse stecken. »Veverl, geh, mußt net weinen! Schau, um wieviel besser du dran bist gegen mich! Du kannst in Lieb an Mutter und Vater denken! Aber ich? Ich weiß net amal, ob ich an Vater ghabt hab. Von meiner Mutter weiß ich bloß, daß man sie im Winter auf der Straßen gfunden hat, kalt und stad. Und den Bauernknecht, der s' gfunden hat, und mich als an elends Würml – den hat der Burgermeister gscholten, weil er uns net um an Tag später gfunden hat. No, viel Unkösten hab ich der Gmeind net gmacht. Wie ich laufen hab können, hab ich mich umanandbettelt in die Bauernhöf. Hunger, Schläg und Schimpferei. Erst, wie sich der Finkenbauer derbarmt hat, is mei' gute Zeit angangen. Schöner, hab ich gmeint, kann man's nimmer haben. Und nacher bist kommen! Du! Und wie ich dich verzählen hab hören von der Heimat im Wald, von Mutter und Vater, da hab ich erst gmerkt, daß 's noch ebbes Bessers gibt als Rubenkraut und ausbachene Nudeln. Na, Veverl! Du därfst net weinen. Mich mußt anschaun. Und nacher mußt lachen!«

Es gab sonst keinen Menschen, dem das Lachen schwer wurde, wenn er den Dori ansah. Aber Veverl blieb ernst und sagte leis: »Ich muß mir halt allweil denken, daß 's Haben besser wär als wie 's Ghabthaben.«

»Ah na! Du hast dein' Vater noch allweil. Den kannst net verlieren. Droben heben s' dir ihn auf. In dir selber tragst ihn umanand, und überall, wo d' hinschaust, hast ihn in die Augen. Schau umanand im Wald! Bei jedem Bäuml siehst ihn stehn und hörst ihn verzählen, wie 's Bäuml heißt, wie's wachst und was ihm wohltut.«

»Ja, Dori! Oft hat er gsagt zu mir: Der Wald is grad wie a Gschichtenbuch. Lesen muß man halt können. Und der Wald mit seine Bäum und Pflanzln is grad wie d' Welt mit ihre Menschen, hat er gsagt. Wie sich d' Leut plagen müssen um ihr Brot, hat er gsagt, und grad wie die einen reich werden und die andern arm, und wie's halt d' Leut im Leben haben oder treiben, hat er gsagt, so geht's mit die Bäum im Wald und überall, wo ebbes wachst im Boden.«

»Na, so was!« staunte Dori, sperrte Augen und Schnabel auf und wackelte mit den Ohrwascheln. Immer war das so beim Dori: je schöner und heiliger ihm was in der Seele zitterte, um so drolliger und menschenwidriger wurde sein häßliches Gesicht.

»Ja, dös hat mein Vater gsagt. Und schau dir amal den Buchstamm an da drüben!« Veverl deutete nach einer Buche von riesigem Wuchs. »Schaut sich der Baum net an wie a Bauer, der dicker wird mit jedem Tag und um sein' Hof ummi allen Grund ankauft, weil er 's Geld und d' Macht hat, daß er die andern drucken kann?«

»Jaja!« grinste Dori. »Und im Wirtshaus sagt er: Jetzt alles zruck, jetzt bin ich da, der Bauer von so viel Grund und Boden.«

»Ja, gelt, so schaut der Buchstamm aus! Aber weißt, der Baum is ehnder a Bäuml gwesen und hat arbeiten müssen und fleißig sein. Wo er a Stückl Boden gsehen hat, auf dös kein andrer net aufpaßt, da hat er gschwind a Wurzen darübergstreckt. Was er aus'm Boden zogen hat, dös hat er gspart, daß er gwachsen is und allweil stärker worden. Seine Astln hat er draxelt, ich sag dir's, so viel gscheit, daß keins dös ander net druckt und engt. Und seine Blattln hat er gschoben, a jeds am richtigen Platz, daß jeds sei' Luft hat und sein bißl Sonn. Drum steht er jetzt da, daß ihm kein Sturm net ankann und kein Wetter! Aber weißt, wo einer gwinnt, muß an andrer verlieren, hat mein Vater gsagt. Därfst dir grad den dürren Lärchbaum anschaun, der neben der Buchen steht. Is noch net alt und is schon krank von unt auf bis oben. Der hat 's Fleißigsein eingstellt in der besten Zeit, hat nimmer aufpaßt auf sei' Sach. Da is ihm der Buchstamm überkommen und hat ihm 's Licht versperrt.«

»Gschicht ihm ganz recht! Weswegen is er so faul gwesen!«

»Und da drüben im Schatten von der Buch, da sind die armen Hascherln daheim, die niederen Feichtenbuschen, die magern Ahornstammerln und wie s' alle heißen. Dös sind die richtigen Tagwerksleut. Die müssen sich plagen um ihr bißl Saft und Kraft und müssen z'frieden sein mit dem Bröserl Sonnlicht, dös der Buchstamm durchläßt. Da geht manchem vor der Zeit der Schnaufer aus. Wenige derwarten's, bis übern Buchstamm 's Alter kommt oder der Holzknecht mit der Axt. Wann s' Platz und Boden erben, fangen s' zum arbeiten und zum treiben an und wehren sich gegen anand. Und da geht's mit dem ein' und dem andern grad so wie mit'm Buchstamm und dem Lärchbaum da! Ja, und ganz verlassene Schlucker und Bettelleut ohne Heimat gibt's, die sich net aufstellen können auf die eignen Füß und froh sind, wann s' wo unterschlupfen. So hat mein Vater gsagt. Da, schau, dös is so einer: der Efeu dort, der sich schön stad auf'n Buchstamm zugmacht hat. So a Buchstamm kann a guter Kerl sein, wann er mag. Und hat gsagt: In Gotts Namen, geh halt her und heb dich in d' Höh an mir und laß dir's wohl sein, ich kann was ablassen, ich hab ja gnug. Da hat sich der Efeu schön auffigschlangelt. Ganz gut vertragen sich die zwei, und ihre Blattln plauschen mitanand. Der Efeu is a brave, dankbare Seel. Weil ihn der Buchstamm mit hinkommen laßt, legt er seine tausend Blattln wie an warmen Mantel um ihn her, daß der Buchstamm net Frost leiden muß, net amal im harbsten Winter. So sorgsam wickelt ihn der Efeu ein!«

»Dös is sei' Pflicht und Schuldigkeit. Wohltaten muß man vergelten.«

»Da hast recht! Aber es denken net alle wie der Efeu. Wie's oft im Leben is, daß man von eim, dem man nix als Lieb erwiesen hat, bloß Wehdam und Kümmernis erfahrt, schau, grad so geht's im Wald zu, hat mein Vater gsagt.« Veverl spähte umher. »Es ist keins in der Näh. Aber 's Geißblattstäudl und 's Jelängerjelieberpflanzl, dös sind a paar söllene Heimtücker! Ja, ich sag dir's! So freundlich sind s' zum anschaun und haben so a scheinheilige Wesen! Ganz zutraulich schleichen s' daher, und wie s' dös gute Bäuml beim Zwickl haben, kreisen s' in d' Höh, gierig und gfressig, lassen nimmer aus, wie mit eiserne Klammern würgen s' und schneiden Furchen eini in d' Rinden, daß dem armen Bäuml schier der Schnaufer ausgeht.«

»Söllene Lumpen! Die sollt man gleich –« Dori schüttelte die Fäuste.

»Ja, ordentlich erbarmen kann ein' so a Bäuml. Dös muß d' Hälfte von allem Saft, den's aus'm Boden zieht, hergeben für die schlierigen Schmarotzer, die sich mit eigene Wurzen gar nimmer ums Fortkommen strapazieren und ganz gemütlich dem armen Bäuml 's weiße Pflanzenblut aussisaugen durch d' Rinden. Da wird wohl oft so a Bäuml 's grüne Köpfl schütteln und sagen: »Dem hab ich so viel z'lieb tan, und jetzt macht er mir's so, dös hätt ich net denkt!«

»Du, Veverl! Is denn dös möglich, daß so a Baum denken kann und ebbes gspürt?«

»Aber Dori! Der hölzerne Baum freilich net. Aber d' Alfin denkt und spürt, die im Baum drin haust. Mein Vater hat gsagt, dös is wie mit der Seel beim Menschen.«

»Jaja, dös versteh ich schon. Aber da sollt sich halt d' Alfin sorgen um ihr Bäuml!«

»Dös tut s' ja! Aber es hat jeder Baum sei' Alfin, jedes Pflanzl sein Wurzenweibl. Und da kommt's halt drauf an, wer gscheiter denkt. Wann auch d' Alfinnen 's Unsichtbarmachen und 's ewige Wesen von der Gottheit haben, im übrigen sind s' wie d' Menschen, hat mein Vater gsagt. Drum geht's im Wald akrat so zu wie in der Welt. Die eine bringt's zu ebbes, die ander kommt um ihren Baum, wie d' Menschen oft um Haus und Hof. Und so an arms Hascherl, wann s' ihren Baum verloren hat, is net zum neiden. Als Waldweibl muß s' umanand irren Tag und Nacht, bis s' wieder a Pflanzl findt, grad in dem Augenblick, wo's aussispitzt aus'm Boden. Da kann sie sich wieder einrichten drin. Derweil aber hat s' a sauers Leben! In die Freinächt treibt s' der wilde Jager umanand und hat sein' grausamen Gspaß damit. Und nie net können s' rasten, wann s' net an Baumstock finden, in den a fromme Hand die zwei schiefen Kreuzln einigschnitten hat.«

»Seit mir dös 's erstmal gsagt hast, bin ich an keim Baumstock mehr vorbei, ohne daß ich mein' Feitl aussizogen hab. Wann ich nur amal eins sehen möcht, so a Waldweibl! Gspaßig müssen s' ausschauen!«

»Mein Vater hat oft eins gsehen. Vor dem haben s' kei' Scheu net ghabt, weil s' gwußt haben, wie gut er's ihnen meint.«

»Du meinst es ihnen doch auch net schlecht! Wann morgen Edelweiß brocken gehst, am End findst gar dem Edelweißkönig sein Königsblüml!«

»Aber Dori!« zürnte Veverl. »Mit so was därf man kein' Spott net treiben!«

»Dös is kein Spott net!« Dem Dori glänzten die heiligen Augen. »Ich hab mir halt denkt, wann eins die richtige Hand für so ebbes hat, nacher hast es du!«

Tiefe Stille. In den Wipfeln der Bäume hatte sich das Rauschen gelegt, und die Dämmerung wob ihren ersten Schleier durch den Wald, von dem der letzte Strahl der Sonne schon geschieden war.

»Veverl, sag«, fragte Dori nach einer sinnierlichen Weile, »wann's so wär und der Edelweißkönig möcht sich sehen lassen vor dir? Tätst dich fürchten?«

»Warum denn fürchten?« fragte Veverl erstaunt. »Der Edelweißkönig is a guter Geist, der d' Menschen gern hat.«

»No, jetzt weißt, a Geist is a Geist!« sagte Dori zögernd. »Vielleicht redst bloß so, weil noch nie kein' Geist net gsehen hast.«

»Meinst?« klang es leise.

Dori bekam ein Gesicht, als hätte man ihm das Haar von der Stim um ein paar Fingerbreiten nach rückwärts gezogen. »Wirst doch net sagen wollen, daß d' schon amal ein' gesehen hast? An Geist?«

Ein stilles Lächeln spielte um den Mund des Mädels, das mit verträumten Augen hinaufblickte in das dunkelnde Gewirr der Äste. »Ob ich ein' gesehen hab? Ich weiß net gwiß. Oft träumt man was und meint, man hätt's gsehen mit wache Augen. Und dieweil sieht man ebbes und meint, man hat's bloß träumt. Noch gar net lang is 's her. Da hab ich ein' ghört, an Geist, und hab verspürt, daß er dagwesen is.«

Mit einem Ruck saß Dori an Veverls Seite. »Jöises, Jöises, was für a Geist kann denn dös gwesen sein?«

Veverl neigte sich zu dem Ohr des Buben und flüsterte: »Der Hannibas ihr arme Seel.«

»Ah geh!« Dem Dori flog ein Gruseln über die viereckigen Schultern.

»Ja! Beim Namen hat s' mich grufen, in der selbigen Nacht, vor man d' Hanni aussibracht hat aus der Stadt – wie ich drin gstanden bin in ihrem Stübl und hab ihr 's Armeseelenmahl aufs Fensterbrettl gstellt, an weißen Wecken und a Schüsserl Milli. Und in der Fruh, wie ich nachgschaut hab, war der Wecken gessen und d' Milli is trunken gwesen.«

Veverl sah nicht, wie Dori bis hinter die Ohren erblaßte; sie hörte nur sein heiseres Lachen. »Aber! Aber Veverl! Wie kannst denn so ebbes glauben! Wer da gessen und trunken hat? Kann denn dös net a Mensch gwesen sein? A richtiger Mensch mit Blut und Beiner?«

Ernst schüttelte Veverl den Kopf. »So ebbes is gar net zum Denken! Wie käm denn in der Nacht a Mensch ans Fenster vom oberen Stock auffi? Und so was tät doch a Mensch net. Wann sich einer am Armeseelenmahl vergreift, hat mein Vater gsagt, der muß sterben im selbigen Jahr.«

»Sterben? Jesus, Maria!« stammelte Dori.

»Was hast denn?«

»Nix. Gar nix!« An dem Buben waren seltsame Lähmungserscheinungen zu beobachten. »Aber sag um tausend Gotts willen: wann einer net wissen tät, daß dös an Armeseelenmahl war, von dem er gessen und trunken hat?« Mit dem Ausdruck flehender Angst hingen seine weit aufgerissenen Augen an Veverls Lippen.

»So ebbes muß man wissen!-

Dem Dori schrumpfte der Kopf zwischen die Schultern. Wie ein eckiges Häuferl Elend mit zwecklosen Armen und Beinen sah er aus. »O heilige Mutter! Jetzt is schön! Und so eim is gar nimmer z' helfen?«

»O ja!« sagte Veverl, und Doris Kummergesicht verzog sich zu einem Grinsen der Erleichterung. »Weißt, so einer muß sein verfallenes Leben einlösen und muß eim andern Menschen 's Leben retten, hat mein Vater gsagt.«

Trostlose Klage malte sich wieder in Doris verzerrten Mienen. »Jesus, Jesus! Wie kommt denn einer gschwind zu so ebbes?«

Veverl hatte sich erhoben. »Schau nur, wie spat als's worden is! Wie man sich nur so verplauschen kann! Jetzt heißt's aber tummeln!«

Mühsam erhob sich Dori. Seine Spinnenbeine stolperten unsicher, als er dem Mädel durch den dämmerigen Hochwald folgte. Nach kurzer Wanderung erreichten sie eine Stelle, wo der Pfad eine Biegung machte, um auf dem Berghang eben fortzulaufen. Dori pumpte einen tiefen Atemzug aus seiner belasteten Seele heraus. »Gelt, Veverl, bist net harb, weil ich net weiter mit dir geh? Ich muß da auffi in d' Höh, ich hab mei' Liegerstatt da droben bei meine Schaf. Es wird sowieso schon Nacht, bis ich auffikomm.«

»Aber ja, Dori! Laß dich net abhalten! Ich find mich schon hin zur Hütten. Und morgen in der Fruh, da holst mich zum Edelweißbrocken, gelt?«

»Ja – wann ich noch kommen kann!« stieß Dori mit versagender Stimme vor sich hin.

»Weswegen sollst denn net kommen können? Brauchst ja bloß deine Füß a bißl rühren!« lachte Veverl. »Pfüe Gott derweil!«

Dori drückte Veverls Hand, als wär's ein Abschied fürs Leben. Da sah ihm Veverl besorgt ins Gesicht; eine Frage lag ihr auf der Zunge; aber der Bub mit seinen Krackelbeinen, ohne sich noch einmal umzusehen, gaukelte schon den steilen Hang hinauf.

»Was hat er denn?« murmelte Veverl, während sie dem Dori nachblickte, bis er im Dickicht verschwand.

Zögernd und sinnend folgte sie dem Wege. Bald erreichte sie die Lichtung, auf der die Begegnung Gidis mit dem rätselhaften Schafdieb stattgefunden hatte. Falbe Helle lag noch über dem Platz und um das spärliche Buschwerk, aus dem sich einzelne Felsblöcke erhoben. Als Veverl die Lichtung überschritten hatte und schon den finsteren Wald betreten wollte, hörte sie einen schwirrenden Flügelschlag und ein kurzes Flattern. Sie blickte der Lichtung zu, aus der sie das Geräusch vernommen hatte, und ein leiser Aufschrei glitt von ihren Lippen. Auf einem der Felsblöcke sah sie einen weißen Vogel in Taubengröße sitzen, der nach dem Flug die Schwingen schloß. Ein paar Laute stammelnd, die halb wie Schreck und halb wie Freude waren, fuhr sie mit den Händen nach ihrem Gesicht, als wollte sie fühlen, ob es wachende Augen wären, mit denen sie zu sehen meinte, was unglaublich war.

Der Vogel reckte und drehte den Kopf, duckte sich und begann zu plappern: »Do, do, Echi, a do, a do!«

»Jesses, ja, du mein lieber Herrgott!« jubelte Veverl und huschte mit ausgestreckten Händen durch das Gestrüpp dem Felsblock zu. »Hansi! Mein Hansi, mein liebs!« Schon war sie dem Stein so nahe, daß sie den Vogel haschen zu können meinte. Da flog er mit zornigem Krächzen auf und flatterte dem Walde zu. »Jesus, er kennt mich nimmer!« klagte Veverl. Während sie der Richtung zusprang, in der sie den Vogel zwischen den Bäumen hatte verschwinden sehen, rief sie lockend immer den Namen: »Hansi, Hansi, mein Hansi!« Trotz der Dämmerung, die schon im Walde herrschte, sah sie bald hier, bald dort auf einem Ast das weiße Gefieder schimmern. Sie hörte den Vogel durch die Zweige flattere und vernahm sein schnurrendes Plappern: »Do, do gedegg, a do!« Doch immer, wenn sie ihm nahe kam, floh er unter scheuem Krächzen der Höhe zu. Mit Klagen und Locken folgte sie ihm, achtete des Weges nicht, den sie ging, und vernahm nicht das dumpfe Rauschen, das näher und näher klang, je weiter sie den fliehenden Vogel verfolgte. Sie kam aus dem Wald und wand sich durch dichtes Gestrüpp. Nun gelangte sie auf einen steilen, von Steingeröll überlagerten Hang. Wieder sah sie den Vogel auf einem Felsblock sitzen, wieder suchte sie ihn zu haschen. Und da verschwand er plötzlich, wie in die Erde versunken. Einige Schritte noch tat sie. Dann fuhr sie schaudernd zurück. Ihr zu Füßen gähnte die schwarze, bodenlose Tiefe.

»Jesus, Maria! Der Höllbachgraben!«

Sie wollte fliehen, während sie sich mit zitternder Hand bekreuzte. Schon beim ersten Schritt geriet ihr Fuß auf einen locker liegenden Stein, der ins Rollen kam. Veverl wankte, versuchte seitwärts zu springen und glitt mit dem Fuß in eine Steinschrunde. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Knöchel, und stöhnend brach sie zusammen. Schwer gelang es ihr, den schmerzenden Fuß aus der Spalte zu befreien. Als sie sich aufzurichten und den verletzten Fuß zu gebrauchen versuchte, hatte sie ein Gefühl, als träte sie auf spitze Nadeln. Mit aller Überwindung verbiß sie den Schmerz, unter Marter und Mühe machte sie einige Schritte, konnte sich nimmer aufrecht halten und sank auf den Steinboden.

Nun wußte sie, daß sie ohne fremde Hilfe keinen Schritt mehr von der Stelle käme, und fürchtete, den Fuß gebrochen zu haben. Eine Stunde noch, dann mußte sich die Dämmerung in tiefe Nacht verwandeln. Und diese ganze, lange Nacht sollte sie hier verbringen. Hier! Sie erkannte die Stelle, an der sie sich befand: die ›hohe Platte‹, wo das Unglück mit dem Ferdl geschehen war.

»Dori, Dori, Dori!« schrie sie in die Dämmerung und hoffte, daß der Bub noch so nahe wäre, um ihren Hilfeschrei vernehmen zu können. Wieder und wieder rief sie seinen Namen. Zwischen Wald und Felsen verhallten ihre Rufe, ohne daß eine Antwort kam. Ratlos, die Hände im Schoß gefaltet, blickte sie vor sich hin. Da gewahrte sie zu ihren Füßen, auf einem kleinen, spärlich bewachsenen Grasfleck einen weißen Schein. Sie beugte sich nieder. Was da im Abendwind auf hohem Stengel schaukelte, war ein Edelweiß von seltener Größe.

Sie brach die Blume, und eine heiße Hoffnung zuckte in ihrem Herzen auf. Bei der tiefen Dämmerung sah sie nur den weißen Schimmer. Mit zitternden Fingern begann sie die Strahlen des Edelweißsternes zu befühlen. Je weiter sie zählte, desto brennender steigerte sich ihre Unruhe und Erregung. Bis auf zwanzig hatte sie schon gezählt, als sie tief atmend einen Augenblick innehielt. Dann zählte sie weiter – »Siebenundzwanzig, achtundzwanzig!« Nun nannte sie keine Zahl mehr, befühlte nur den nächsten Strahl des Sternes – und jetzt den letzten vor den beiden Fingern, in denen sie zum Merkmal noch den ersten hielt.

»Sein Blüml!« stammelte sie. Einen Augenblick der Scheu und Unentschlossenheit. Dann war sie das Kind ihres Vaters, war ruhig, war erfüllt von gläubigem Mute. Mit leiser Stimme begann sie die Berufung aufzusagen:

»Edelweißkönig, ich ruf dich an!
Ich liebe deine Blümln, hab keim noch was tan!
Dein Blüml is gwachsen, dein Blüml hat blüht,
Der Herrgott hat's gschaffen, und du hast es bhüt!

Aus Näh oder Weiten, aus Berg oder Tal,
Dein Blüml, dös ruft dich von überall!
Edelweißkönig in Hergotts Nam,
Edelweißkönig, ich ruf dich an!«

Da war es gesprochen – und sie erschrak vor ihrem eigenen Mut. An allen Gliedern begann sie zu zittern, und der Atem drohte ihr zu versagen. Angstvoll spähte sie in der Dämmerung umher. Mit jedem Augenblick meinte sie die geisterhafte Gestalt des Beschworenen vor sich auftauchen zu sehen. Aber Sekunde um Sekunde verrann, die Sekunden wurden zu Minuten, mehr und mehr verschleierte die sinkende Nacht den Grund, und nur das dumpfe Rauschen des Höllbachs war zu hören. Sonst kein Laut in der dunklen Runde.

»Es muß net 's richtige Blüml sein!« Erleichterung war es, was sie empfand, nicht Enttäuschung. Nun fühlte sie auch wieder an ihrem Fuß den brennenden Schmerz, den die Erregung übertäubt hatte. Sie machte einen Versuch, sich aufzurichten, und sank wieder zurück. »Es hilft nix, bleiben muß ich die ganze Nacht!« Sie dachte an den Vogel, der sie hierhergelockt. Hätte sie ihn nur haschen können! Dann wäre sie nicht allein, hätte mit ihrem Hansi schwatzen, vom Vater mit ihm reden können. Durch zärtliches Schmeicheln hätte sie den wiedergefundenen Liebling entschädigt für die bösen Tage, die er auf seiner Irrfahrt vom verwaisten Waldhaus bis hierher erlebt haben mußte. Wie hatte der verwöhnte und verhätschelte Vogel das gelernt: seine Nahrung zu suchen, sich zu schützen vor Frost und Stürmen, vor Marder und Habicht? Ob er wohl noch der warmen Stube im Waldhaus sich erinnerte, wenn er einsam in seinem kalten Schlupfe saß, vielleicht in einer Steinschrunde des Höllbachgrabens? Im Höllbachgraben! Beim Gedanken an diesen unheimlichen Ort zuckte in Veverl ein beängstigender Zweifel auf. War der weiße Vogel auch wirklich ihr Hansi gewesen? Nicht etwa ein Spuk, der sie zu ihrem Unheil hierherlockte? Nein, nein! Sie hatte den Vogel genau erkannt, hatte ihn Worte plappern hören, die er im Waldhaus lernte. ›Echi‹ – das war in Hansis Sprache ihr eigener Name, das sollte ›Evi‹ heißen. ›So, bist aa do?‹ hatte ihr Vater oft den Vogel angesprochen, der mit seinem ›do, a do‹ diese Worte nachzuschwatzen pflegte. Und sein ›gedegg‹ erinnerte daran, wie häufig der Vater das Hansi , wenn es ihm bei der Arbeit lästig wurde, mit scheltendem ›Geh weg!‹ von der Hobelbank scheuchen mußte. Nein, sie konnte nimmer zweifeln. Der Vogel, den sie gesehen hatte, war wirklich ihr Hansi gewesen. Wie hatte sie nur einen Augenblick so töricht sein können, an einen Spuk zu glauben! Freilich, der Höllbachgraben! Und –

Ein Schauer überlief sie. Gewaltsam suchte sie diesen Gedanken zu verscheuchen, lauschte dem dumpfen Rauschen, hob die zitternde Hand, bekreuzte sich und begann zu beten. Während sie mit leiser Stimme ein Vaterunser um das andere sprach, überkam eine tröstende Ruhe ihr Gemüt. Sie konnte beten. Was hatte sie da zu fürchten? Ewig würde die Nacht nicht dauern. Bei grauendem Morgen mußte Dori in die Sennhütte kommen und würde mit Enzi ausziehen, um sie zu suchen und zu finden.

Geduldig ertrug sie die heftigen Schmerzen an ihrem Fuß, um dessen Knöchel sich eine glühende Geschwulst zu bilden begann.

Die Nacht war da. Kühl und finster lag sie über den Bergen. Nur wenige Sterne funkelten am Himmel, der sich mit Nebelschleiern überzogen hatte. Unter ihnen erlosch die Mondhelle der östlichen Ferne. Von den Felsen fuhr ein kalter Wind zu Tal, wechselte hin und her und verkündete nahen Regen.

Mühsam rückte Veverl einem Felsblock entgegen, hinter dem sie die Windstöße weniger zu spüren hatte und auch einigen Schutz vor dem Regen finden konnte, wenn das Unwetter ausbrach. Kaum hatte sie den Block erreicht, als sie mit beiden Händen erschrocken an die Brust fühlte. Sie fürchtete, das Edelweiß verloren zu haben, das sie ins Mieder gesteckt hatte. Erleichtert atmete sie auf, weil der weiße Stern noch da war. Sie wollte ihn bewahren zum Gedenken an diese Nacht und an die Hoffnung, die sein Anblick in ihr erweckt hatte. Lächelnd schalt sie sich wegen der törichten Angst, von der sie sich beim letzten Wort der mutig begonnenen Beschwörung hatte befallen lassen. Was hätte sie zu fürchten gehabt von diesem ›guten Geist, der alle braven Menschen gern hat‹? Sie sah den Alfen vor sich stehen in der Gestalt, die ihr der Vater einst geschildert hatte, sah den grauen, faltigen Mantel, das weiße Gesicht mit den blauen Augen, den braunen Bart und auf dem Lockenhaar den mit der Edelweißkrone geschmückten Hut – eine Gestalt ›zum Gernhaben eher als zum Fürchten‹. Das hätte sie sich gefallen lassen können: wenn er so erschienen wäre, hätte sie auf seine Arme gehoben, bis zur Hütte getragen und mit einer Berührung seiner Hand ihren Fuß geheilt! Hatte er doch gleiche Wohltat schon vielen andern erwiesen. Das wußte sie, ihr Vater hatte das gesagt. Und war es nicht so gekommen – die Schuld hatte nicht an ihr selbst gelegen. Sie hätte schwören können, daß sie von dem Spruch, den der Vater sie lehrte, kein Buchstäbchen übersah. Dös Blüml halt, dachte sie, 's Blüml kann net 's richtige sein!

Sie löste die Blume von der Brust und begann mit den Fingern die samtweichen Zacken des Sternes abzufühlen. Wieder zählte sie dreißig Strahlen, schüttelte den Kopf und wollte nicht glauben. »Sonst hätt er ja kommen müssen!« Aufs neue begann sie zu zählen, vergaß des schmerzenden Fußes, vergaß der Nacht und des Himmels, der in weiter Runde schon behangen war mit wogendem Gewölk. Da fielen die ersten schweren Tropfen. Ehe Veverl sich enger an den Fels zu schmiegen vermochte, rauschte und klatschte ein strömender Regen über das Gestein. Fröstelnd zerrte sie das Röckl um die Schultern. Mit Sausen peitschte der Wind ihr den Regen entgegen, und bald fühlte sie, wie die kalte Nässe an ihren Körper quoll. Jetzt fuhr sie lauschend auf und vernahm ein Klirren, als ginge einer mit genagelten Schuhen über das Geröll. »Dori? Dori?« schrie sie in die stürmische Nacht hinaus.

Die Schritte verstummten. Schon wollte Veverl den Namen des Buben wieder rufen. Da loderte mit einem blechernen Donnerschlag, unter dem die Erde bebte, ein Blitzstrahl aus den Wolken, bei dessen flammendem Schein der Wald und die Berge wie in Feuer zu schwimmen schienen. Und mit gellendem Aufschrei warf sich Veverl rückwärts gegen den Fels. Wenige Schritte vor ihr, in der lohenden Helle, sah sie eine Gestalt in grauem Mantel, mit geisterblassem Gesicht, das ein Bart umrahmte. Und über dunklem Haar der Spitzhut, den eine Krone von Edelweißsternen schmückte.

»Alle guten Geister –«, vermochte Veverl noch zu stammeln. Dann schwanden ihr die Sinne.


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