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Als Veverl aus ihrer Ohnmacht erwachte, waren die klatschenden Schläge des Regens auf ihrer Wange das erste, was sie empfand. Die kalte Nässe ermunterte sie rasch, und da fühlte sie, daß ihr Kopf an einer Schulter ruhte, daß ein Mantel um ihren Körper gewickelt war und daß sie von zwei starken Armen durch Sturm und Nacht getragen wurde. Im gleichen Augenblick erinnerte sie sich an alles und meinte zu verstehen, was mit ihr geschah. Ein seltsames Gefühl, halb Schreck, halb freudiger Schauer, durchzuckte sie bei dem Gedanken, daß es nun wirklich so gekommen war, wie sie in ihrer Not geträumt und gehofft hatte: Der beschworene Alf war ihr erschienen, hatte sie auf seine Arme gehoben und trug sie zur Almhütte.
Gern hätte sie, als wieder ein Blitz die Nacht erhellte, das bleiche Geistergesicht betrachtet. Aber sie fand nicht den Mut dazu. Dennoch empfand sie keine Furcht. Was ihr geschah, das war nach ihrem Glauben ein seltenes Glück, wie es unter Tausenden kaum einem widerfährt. Sie drückte fest die Augen zu und fühlte sich wohl bei dem Wiegen und Schweben auf diesen starken, sicheren Geisterarmen. Ihr war, als ging' es im Fluge durch die Nacht, während in Wirklichkeit ihr Retter mit mühsamer Vorsicht über das rauhe Geröll tappte und in der sturmerfüllten Finsternis nur schwer einen Weg durch die triefenden Latschen bahnen konnte.
Mitten im Gebüsch blieb er stehen, und Veverl sah beim Schein eines Blitzes, wie dicht vor ihr ein Felsblock, als hätte ein Zauberwort ihn bewegt, zur Seite rollte. Dann war es ihr, wie wenn sie mit jenem, auf dessen Armen sie ruhte, in die Erde zu versinken begänne. Erschrocken fuhr sie zusammen, und während hinter ihr ein dumpfer Schlag sich hören ließ, als hätte sich eine schwere Pforte geschlossen, stammelte sie den Namen des Erlösers und der Heiligen Jungfrau.
Da schlossen sich die beiden Arme fester um ihren Leib, und an ihr Ohr schlug eine freundliche Stimme: »Mußt dich net fürchten, Veverl! Es geschieht dir nix! Und gelt, es is dir schon wieder besser? Gott sei Dank!«
Gott sei Dank! Dieses Wort gab ihr allen verlorenen Mut zurück. Was konnte ihr Übles von einem Geiste widerfahren, der vor den heiligen Namen, die sie gesprochen, nicht in Rauch und Luft zerfloß, sondern selbst den lieben Herrgott auf den Lippen führte? Und ob er sie nun zur Almhütte trug oder in sein eigenes Geisterhaus – sie wußte, daß er sie vor dem Sturm beschützen und ihren Fuß heilen würde. Das Wie war seine Sache. Wie sollte ein Menschenkind sich unterstehen dürfen, einem hilfreichen Geiste was dreinzureden! Und wie gut er ihren Namen wußte! Freilich, so ein Berggeist, der in seinen freien Stunden unsichtbar umeinanderspaziert, kennt alle Leute talauf und talab, die Alten und die Jungen, die Lebendigen und die Verstorbenen. Und wie herzlich er zu ihr geredet hatte, um ihre Angst zu vertreiben! Daß ihr seine Stimme so seltsam bekannt klang, verwunderte sie nicht. Ihr Vater hatte oft gesagt, daß ein guter Geist, wenn er guten Menschen erscheint, mit einer ihnen wohlbekannten Stimme zu ihnen redet, damit sie vor ihm nicht erschrecken möchten. Und aus gleichem Grunde nimmt er auch bei seinem Erscheinen Gestalt und Züge an, die einem Menschen lieb. sind. ›Leicht ähnelt er gar meinem Vater?‹ dachte Veverl.
Sie hob mit einem mutigen Blick die Augen. Undurchdringliche Finsternis. Und immer tiefer ging es, wie über steinerne Stufen hinunter, dann wieder geradeaus und wieder tiefer, bald zur Rechten, bald zur Linken. Es mußte ein schmaler Felsgang sein, durch den sie getragen wurde. Bald streifte sie mit dem Haar, bald mit einer Fußspitze die Wände. Und da staunte sie, wie jener, der sie trug, so rasch und sicher seinen Weg durch diese Nacht zu finden wußte. Freilich, Geister haben Augen, die zur Nachtzeit besser sehen als Menschenaugen am hellen Tag.
Mit jeder Sekunde steigerte sich ihre Spannung und das Gefühl des Wundersamen, von dem sie umwoben war. Jeden Augenblick erwartete sie das Aufflammen eines zauberhaften Lichtes. Jetzt und jetzt, meinte sie, müßte sich das unterirdische Reich des Alfen in jener Pracht enthüllen, die sie in ihren Träumen sich ausgemalt hatte und die zu schauen immer das Ziel ihrer Wünsche gewesen war. In dieser Erwartung des Ungewöhnlichen bestärkten sie die seltsamen zischenden und pfeifenden Laute, die sie vernahm, das geisterhafte Flattern, das an ihr vorüberhuschte, das dumpfe Dröhnen und Knattern, das sich von Zeit zu Zeit erhob, und das geheimnisvolle Murmeln und Rauschen, das immer deutlicher wurde, bald wie nahe Plauderstimmen klang und bald wie fernes Gelächter.
Da löste ihr Retter den nassen Mantel, der sie umhüllte. »So Veverl, schau, da kann dir kein Sturm nimmer an und kein Regen!« Er ließ sie zu Boden gleiten. Als sie auf die Füße zu stehen kam, sank sie mit leisem Wehlaut in die Knie. »Um Gotts willen! Kindl! Was hast denn? Du kannst ja net stehn?« so hörte sie ihren Alfen erschrocken fragen. »Bist am End gar recht ungut gfallen? Hast dir was tan?«
»Am Fuß, am linken –«, stammelte sie und fühlte sich im gleichen Augenblick wieder emporgehoben, einige Schritte getragen und achtsam niedergelassen auf ein lindes Heubett. Dabei hörte sie den Alfen, der sich so hilfsbereit erwies, mit Sorge zu ihr sagen: »Jetzt versteh ich dös alles erst! Da muß ich gleich nachschauen! Aber sorg dich net, es wird net so gfahrlich sein! Dös wird sich schon wieder richten lassen, ja, da weiß ich gar viel, was gut is für so was!«
Freilich, ›was gut is für so was‹, wer in der Welt sollte das besser wissen als er, der mit hastigem Schritt sich von ihr entfernte? Sie hörte ein Rascheln und Knistern, sah ein rötliches Licht erglimmen, sah an einer goldig glitzernden Felswand die helle Flamme einer Fackel auflodern. Mit gebannten Augen hing sie an der männlichen Gestalt, deren Umrisse sich scharf von der flackernden Helle abhoben. Und da meinte sie gleich zu erkennen, daß diese Gestalt ihrem Vater glich, der auch eine Joppe getragen hatte, eine kurze Lederhose, graue Strümpfe und genagelte Schuhe. Sie meinte ihn zu sehen, wie er oft, wenn er an stürmischem Tag aus dem Wald nach Hause gekommen war, am Herde stand und das Feuer schürte, während das Regenwasser von ihm niedertröpfelte, gerade so wie von jenem, der dort vor der lodernden Fackel stand.
Nun wandte er sich. In der Hand ein Kerzenlicht, kam er auf das Heubett zugeschritten. Veverl, zitternd am ganzen Leib, sah mit erweiterten Augen in sein bleiches Gesicht, das mit dem gekräuselten Bart zwischen den braunen, die Schultern berührenden Haaren sich ansah wie das Gesicht eines Jünglings und doch wie das von Kummer und Schmerz erzählende Antlitz eines gereiften Mannes. Dicht vor Veverl blieb er stehen, hob das Licht, als wollte er sein Gesicht noch heller beleuchten, und fragte mit ernster Stimme: »Veverl? Kennst mich? Weißt denn, wer ich bin?«
Sie vermochte kein Wort herauszubringen. Während sie keinen Blick von seinem Gesicht verwandte, nickte sie. Wie hätte sie ihn nicht kennen sollen? Hatte sie ihn doch selbst gerufen!
»Gelt«, sagte er, »dös verschlage dir d' Red! Leicht glaubst es gar net, daß ich's bin? Dös hättst dir wohl nie net denkt, daß d' mich noch amal zum Sehen kriegst. Wie's zugangen is, dös war wie a Wunder, für dös ich meim Herrgott net gnug danken kann.«
Da meinte Veverl falsch verstanden zu haben. Nicht er, sie selbst war es doch, die dem lieben Herrgott für das Wunder danken mußte: daß sie im Augenblick der Not die zaubermächtige Blume gefunden hatte.
»Aber jetzt is net Zeit zum Reden!« hörte sie ihn sagen. »Komm, Veverl, laß mich dein Fußerl bschaun.«
Er ließ sich nieder, stellte den Leuchter neben sich auf den Felsboden und begann an Veverls verletztem Fuß den Schuhriemen zu lösen. So sachte und sorgsam er dabei verfuhr, Veverl meinte vor Schmerz vergehen zu müssen. Sie biß die Zähne zusammen und rührte sich nicht.
»Jesus, Veverl!« jammerte er, als er den entblößtem, rot verschwollenen Fuß auf seinem Knie hatte. »Dös schaut sich ungut an!« Er bat sie, zu versuchen, ob sie den Fuß bewegen könnte. Den Schmerz überwindend, drehte sie den Fuß im Knöchel und rührte die Zehen.
»No also!« sagte er und nickte mit ermunterndem Lächeln zu ihr hinauf. »Dös schaut sich übler an, als wie's is. Da is nix brochen, nix grissen. Arg aufgschürft hast dich halt und 's Glenk a bißl verprellt. Kann sein, es is a Flaxen überzogen. Aber sorg dich net, ich richt dir dein Fußerl, dein arms, schon wieder zamm, daß gar nix nimmer merkst.«
Nun huschte auch um Veverls Mund ein mutiges Lächeln. Alles kam, wie sie geträumt und erwartet hatte. Mit ehrfürchtiger Dankbarkeit blickte sie auf ihn nieder. Und als er jetzt den Fuß noch einmal betrachtete und die Hände sanft um den verschwollenen Knöchel legte, fühlte sie durch die Kühle, die von diesen Händen in ihr heißes, hämmerndes Blut hinüberströmte, den Schmerz schon zur Hälfte gelindert.
Er rückte einen Holzstuhl herbei, legte den kranken Fuß darauf, damit das ›gsunkene Blut a bißl verlaufen‹ könnte. Dann raffte er den Leuchter von der Erde, sprang davon, und als ihm Veverl nachsah, war es ihr, als verschwände er mitten durch die Felswand.
Regungslos, mit verhaltenem Atem lauschend, saß sie. Und hörte keinen Tritt mehr, hörte nur das Knistern der Fackel und jenes geheimnisvolle Murmeln und Rauschen. Scheu lugte sie in dem länglich gerundeten Höhlenraum umher, in dessen Tiefe die Mündung des Felsenganges, durch den sie gekommen sein mußte, gleich einem schwarzen Trichter sich ausnahm. Staunend betrachtete sie die im Fackelschein glitzernden Wände, die ihr von tausend Edelsteinen übersät schienen. Über diese Wände wölbte sich eine von funkelnden Tropfen und Zacken starrende Kuppel, die bei dem Spiel der zuckenden Lichter und Schatten sich ansah, als tröffe sie von flüssigem Erz – von Gold und Silber, wie Veverl meinte.
Der Glaube an die Übernatürlichkeit des Vorganges, der sie hierhergeführt hatte, wurzelte so unerschütterlich in ihr, daß sie unfähig war für jede natürliche Wahrnehmung. Was ihren Erwartungen entsprach, das hob sie noch darüber hinaus, und was mit ihnen im Widerspruch stand, das wußte sie durch die Erinnerung an alles, was der Vater einst dem Kinde vorgeplaudert hatte, flink mit ihrem Glauben in Einklang zu bringen. Wenn die im Fackelschein flimmernden Tropfsteingebilde für Veverls Augen von Silber, Gold und Edelsteinen zu blitzen schienen, wenn die zahlreich in den Wandschrunden steckenden Edelweißsträuße ihre Meinung rechtfertigten, daß im Haus des Edelweißkönigs das Edelweiß in dicken Buschen aus den Felsen sprießen müßte, so wußte sie auch die nichts weniger als übernatürliche Einrichtung der Höhle ihrem Glauben anzupassen. Die guten Geister, als deren bester ihr der Edelweißkönig galt, sind bei allen geisterhaften Eigenschaften ›im übrigen akrat wie d' Menschen‹. Sie hungern und dürsten, trinken und essen. Wenn sie essen wollen, müssen sie doch auch kochen. Ewig die kalten Wurzeln und Kräuter nagen, das kann auch dem geduldigsten Geistermagen auf die Dauer zuwider werden. Und wenn die Geister kochen wollen, müssen sie einen Herd haben oder einen kleinen Ofen, wie Veverl einen in der Felsenecke stehen sah, und müssen Pfannen, Krüge, Schüsseln und Teller haben, wie sie da und dort auf Vorsprüngen der Wände lagen und staken. Und so ein Alf hat zur Blütezeit seiner Schützlinge alle Hände voll zu tun. Da mag er oft todmüde heimkehren, und ein Schläfchen mag ihm bekommen. Er wird sich dazu nicht auf den kalten, harten Felsboden legen, sondern sagt einen Zauberspruch, wie der Mensch ein Hui, und hat seine richtige Bettlade mit einer Heumatratze, mit einem Polster und zwei weißen Lammfellen darüber, und zum Überfluß noch eine dicke, wollene Decke gegen die Kälte, die ›so z'mittelst drin im Erdboden aus allen Felsen haucht‹.
Für Veverls gläubige Augen erschien diese Einrichtung sogar noch als eine Steigerung des Märchenhaften. ›Jedes x-beliebige Wichtl kann Sachen von Gold und Silber haben.‹ Aber Sachen machen, die von Gold und Silber sind und trotzdem ausschauen wie von Holz und Eisen, damit ein Menschenkind, wenn es ein Wunder hereinführt in so ein Alfenhaus, nicht gleich in Gichter fällt vor Schreck und Staunen – das, meinte Veverl, wüßte nicht leicht ein anderer Geist dem guten Edelweißkönig gleichzutun. Wie ›zaubermaßig geschickt‹ er sein mußte, verrieten ihr die schönen Schnitzereien, die sie überall gewahrte und mit denen besonders reich eine nischenförmige Wandhöhlung ausgestattet war. Hier stand auf einem altarförmigen Aufbau ein zierliches Kästchen, über das sich ein Kruzifix mit dem geschnitzten Bilde des Heilands erhob.
An diesem heiligen Bildnis haftete Veverls Blick, und je länger sie es betrachtete, desto mutiger atmete sie auf. Sie fühlte den Alfen, in dessen Reich sie zu weilen glaubte, sich menschlich nähergerückt, jetzt da sie einen in ihrer Nähe wußte, der über ihnen beiden stand. So mutig sie auch geworden war, dennoch schrak sie zusammen, als sie jenen, an den sie unablässig dachte, plötzlich vor sich stehen sah, wie aus den Felsen herausgetreten. Er hielt was in den Händen; das glich einem grobleinenen Handtuch, war aber gewiß ein feenhaftes Gewebe, das er beträufelt hatte mit wundersamer Arznei. Unter freundlichen Trostworten wand er dieses Tuch um Veverls kranken Fuß. Sie drückte die Augen zu vor Schauer und Behagen. Wie kühl das war, und wie wohl es tat! Nun faßte er sie um die Hüfte, als wollte er sie auf dem Bett in bequeme Lage bringen. Erschrocken zog er die Hände zurück: »Um Gottes willen! Daß ich da net schon lang dran denkt hab! Bist ja über und über naß. So kannst net bleiben, da tätst mir am End noch verkranken!« Er sah den Blick, mit dem sie sein eigenes durchnäßtes Gewand streifte, und sagte, als könnte er in ihren Gedanken lesen: »Mir schadt's net! Bei eim Leben wie's meinige gewöhnt man sich an so was. Aber du? So därfst net bleiben! Leg 's Tüchl und 's Mieder ab! Und 's oberste Röckl mußt abstreifen. Schau, dös macht doch nix. Ich zünd a Feuer an. Da wird's a bißl warm herin, und deine Sachen trücknen wieder. Mußt dich net scheuen vor mir. Gelt na? Ich bin doch schier wie a Bruder zu dir!«
Vertrauensvoll nickte Veverl und löste das geblumte Tuch von ihren Schultern. Als sie das Mieder öffnete, schrak sie zusammen. »Jesus, Maria«, stammelte sie, »'s Blüml! Ich hab mein Blüml verloren!«
»Was für a Blüml?«
»Mein Edelweiß!«
»Da brauchst dich net z' kümmern!« tröstete er. »Gleich kannst wieder eins haben von mir. Ich hab's ja gnug. Hundert für eins kannst haben.«
Sie atmete erleichtert auf, und während er sich am Ofen zu schaffen machte, nahm sie das Mieder ab, streifte das durchnäßte Röckl über den roten Unterrock, legte die Gewandstücke auf den Holzstuhl und ließ sich lautlos zurücksinken.
Als er vom Ofen herüberkam, befiel sie trotz ihrer willenlosen Folgsamkeit doch ein Gefühl der Scham, und hastig zog sie die wollene Decke bis an den Hals.
Jetzt stand er vor dem Bett und sah ihr mit leisem Lächeln in die Augen. »Gelt, so taugt's dir besser? Ja, da kannst es jetzt ganz schön abwarten, bis dein Fußerl wieder Verstand annimmt. Aber –« Er unterbrach sich, ging davon und brachte ein weißes Tuch. »So därfst net liegen mit die tropfnassen Haar! Geh, heb dich a bißl in d' Höh!«
Willig richtete sie sich auf und hielt sich still, während er die Nadeln aus ihren Zöpfen zog, die Flechten löste und mit dem Tuche achtsam die Strähnen ihres braunen Haares trocknete. »So, kleins Weibl, jetzt kannst dich wieder legen!« sagte er. Und wortlos stand er vor ihr, als könnte er sich an dem Bilde nicht satt sehen: wie sie vor ihm lag unter der linden Decke, das liebliche, vom offenen Haar umflossene Gesicht hineingedrückt ins weiße Lammfell, überfunkelt vom Zitterschein der Fackel.
Seufzend wandte er sich ab. Veverl wagte sich nicht zu rühren, hörte nur, daß er im Ofen ein Feuer anzündete und mit allerlei Geschirr hantierte. Nach einer Weile kam er und bot ihr eine dampfende Schale hin. »Da, Veverl, trink, daß doch fürs erste a bißl ebbes hast! Nacher richt ich dir schon was Bessers!«
Sie nahm. Was sie trank, das schmeckte wohl wie gewärmte Geißmilch, war aber sicher ein wunderkräftiger Zaubertrank. Das glaubte sie nicht nur, das fühlte sie bei jedem Schluck in ihrem Blut.
Als sie ihm mit einem ›Vergelt's Gott‹ die geleerte Schale reichte, ging er wieder zum Ofen; Veverl hörte das Klappern einer Pfanne, hörte ein Brodeln und Schmoren. Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie bei seiner ›geistermaßigen Kocherei‹ ein bißchen hätte zuschauen können. Da trat er wieder zu ihr ans Bett. Und wieder hatte er was in der Hand. Das war nach Veverls Meinung sicher ein Zauberstab, obwohl es aussah wie ein eiserner Scharrlöffel. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und sagte lächelnd: »Gleich hab ich dich kennt, wie ich dich in der Blitzlichten gsehen hab. Und z'erst schon, wie ich dein Rufen ghört hab, is mir's gwesen, als ob du's sein müßtest. Aber du? Was hast dir denkt, wie mich gsehen hast? Denn wann ich mich bsinn auf deine Wörtln –« Er unterbrach sich und sprang zum Ofen, von dem sich ein verdächtiges Zischen hören ließ. Dort stand er lang und arbeitete fleißig mit dem Zauberstab. Wirre Gedanken schossen durch Veverls Köpfl. Sie vermochte keinen mehr zu Ende zu denken, es lag über ihr wie eine Betäubung, wie ein Rausch. Eine prickelnde Wärme durchrann ihren Körper. Sie fühlte sich so leicht, spürte ihre Glieder nimmer, kaum noch den schmerzenden Fuß. Die Lider wurden ihr schwer. Lächelnd schloß sie die Augen und lauschte der seltsamen Musik, zu der das Knistern der Fackel, das Prasseln des Feuers und jenes unablässige Murmeln und Rauschen in ihren Ohren sich verwob. Leiser und leiser klang es. Veverl hörte nichts mehr.
Gabel und Messer in der einen Hand, in der anderen einen Teller, kam der sonderbare Koch vom Herd herüber, blieb stehen und betrachtete das Gesicht des schlummernden Mädels, »Schau, jetzt hat s' der Schlaf packt!« Er nickte zufrieden. »Der taugt ihr besser als a Lamplbraten.« Lautlos kehrte er zum Ofen zurück und stellte den Teller auf die eiserne Platte. Dann holte er einen Bergstock, befestigte ihn über dem Ofen, hängte Veverls nasse Kleider darüber und dazu die eigene Joppe. Plötzlich hob er lauschend den Kopf. Er hatte ein Geräusch vernommen, das dem Aufschlag eines fallenden Steines glich. Noch zweimal hörte er dieses Geräusch und verschwand in dem dunklen Trichter des Felsenganges. Als er nach einer Weile zurückkehrte, führte er einen zweiten an der Hand, zog ihn vor das Lager und sagte: »Da schau her! Was ich für an Gast kriegt hab!«
»Um Gotts willen«, flüsterte der andere, »Wie is denn so was möglich? Z' Mittag, wie ich fort bin, war 's Madl noch daheim!«
»Wann erst wissen tätst, wie ich's gfunden hab, dös arme Hascherl! Aber komm! Daherin taugt mir 's Reden net! Sie kunnt aufwachen, und der Schlaf tut ihr wohl!«
Die beiden verließen durch eine die Steinwand schief durchbrechende Felsenspalte den Höhlenraum.
Stille Minuten verstrichen. Im Ofen verstummte das Prasseln, und als das Feuer erlosch, war auch die Fackel niedergebrannt bis auf einen müde flackernden Stumpf.
Ruhig gingen die Atemzüge der Schlummernden. Manchmal bewegte sie die Lippen, als spräche sie im Traum. Nun schlug sie die Augen auf. Das Erwachen erst verriet ihr, daß sie geschlafen hatte. War sie denn aber auch wirklich erwacht? Oder schlief sie noch und träumte? Wenn sie wirklich wach wäre, könnte sie doch nicht hören, was sie hörte: diese halblaute Stimme, die aus den Felsen zu quellen schien und der Stimme des Jörgenvetters glich. Der Jörgenvetter war auf Geschäften in einem fernen Dorf. Und wie käme er zum Edelweißkönig! Da müßte er doch die Königsblume gefunden haben, die sie selbst gefunden hatte, die also kein anderer finden konnte. Fast hätte sie lachen mögen über ihren ›unsinnigen‹ Traum! Und was sie in diesem Traum den Jörgenvetter sagen hörte, war etwas völlig Unbegreifliches. Sie hörte ihn vom Edelweißkönig erzählen, alles, was sie selbst den beiden Kindern von dem guten Alfen erzählt hatte. Und das alles erzählte der Jörgenvetter eben dem, von dem er erzählte, dem Edelweißkönig! Auch die Stimme des Alfen vernahm sie in ihrem Traum. Wie der sich wunderte über alles, was er über sich selbst zu hören bekam! »Jetzt versteh ich's erst. Da will ich mei' Freud dran haben! Hab eh so wenig!« hörte Veverl in ihrem Traum den Edelweißkönig sagen.
Wie man nur so ganz unmögliche Dinge träumen kann! Und dazu noch im Traum zu glauben, daß man die Augen offen hat und die brennende Fackel sieht und alles ringsumher! Und daß man im Traum die Augen zudrücken kann und daß dann die Fackel erlischt und alles dunkel wird in der Runde, während doch die beiden Stimmen weiterplaudern, von der Mariann, von den Kindern und vom Finkenhof, bis der Jörgenvetter sagt, daß er gehen müsse. Veverl hörte die leisen Schritte. Und nun träumte sie gar, daß der Jörgenvetter in der roten Ofenglut vor ihrem Bette stand und leis dem Edelweißkönig zuflüsterte: »Schau s' nur an! Wie lieb als s' daliegt! Gfallt s' dir net auch?«
Der Edelweißkönig schwieg eine Weile, bevor er mit einem Seufzer sagte: »Wie schön dös sein müßt: leben können, leben in Glück und Licht, mit eim, dös eim anghört mit Leib und Seel! So was därf ich mir nimmer hoffen. Mein Leben is weit von aller Menschenfreud.«
Wie einem nur im Traum der Ton einer Stimme so ans Herz greifen kann! Veverl fühlte, daß ihr heiße Tränen durch die geschlossenen Lider auf die Wangen schlichen. Dabei träumte sie, daß der Jörgenvetter den Edelweißkönig auf eine kommende Zeit vertröstete, mit herzlichen Worten von ihm Abschied nahm und ihm ein Wiedersehen in einer der nächsten Nächte versprach. Nun war ihr wieder, als hätte sie offene Augen und sähe den Jörgenvetter mit einem Spanlicht im dunklen Trichter des Felsenganges verschwinden, während der Alf eine neue Fackel aufsteckte und vor ihrem Bette unbeweglich stehenblieb, wie gebeugt von einem schweren Kummer. Sie lauschte seinen mühsamen Atemzügen. Langsam und müde kauerte er sich auf den Felsboden hin, legte die Arme über den Bettrand und verbarg in ihnen das Gesicht. So lag er lange, und sein braunes Haar glänzte im Fackelschein. Endlich hob er wieder den Kopf und stützte ihn mit der Hand. Immer betrachtete Veverl sein blasses Gesicht. Seine Augen konnte sie nicht sehen, weil er die Lider geschlossen hielt. Nein, ihrem Vater sah er nicht ähnlich! Dennoch mußte er einem Menschen gleichen, der ihrem Herzen lieb war. Sie meinte, daß er dem Jörgenvetter ähnlich sehe oder noch mehr der seligen Hannibas. Die hatte das gleiche gute Gesicht gehabt; nur viel feiner war es gewesen, frisch und blühend, nicht so bleich wie das Gesicht des Alfen, das von quälendem Kummer zu erzählen schien. Je länger sie dieses Gesicht betrachtete, desto weher wurde ihr ums Herz. Sie konnte die Augen nimmer abwenden von den Furchen auf dieser sorgenvollen Stirn. Ach, lieber Himmel, es ist doch ein armseliges Leben, so ein Geisterleben! »Gwiß net zum Neiden! Immer allein! Und wenn den einschichtigen Schlucker amal der Wehdam anpackt im Gmüt, was hilft ihm nacher sein Gold und Silber und sei' Zaubermacht? Da tauget's ihm lieber, er hätt an Menschen, der ihm gut is!« Veverl wußte nicht, wie es geschah – sie hob die Hand und strich dem traurigen Alfen das dunkle Haar von der furchigen Stirn. Da sah sie ihn auffahren, sah, wie er mit beiden Händen ihre Hand ergriff und das Gesicht auf ihren Arm preßte. Gar nicht erschrocken war sie! Weshalb auch hätte sie erschrecken sollen? Es war nur ein Traum.
Sie lag und rührte sich nicht. Vom Glutstumpf der Fackel fiel manchmal ein Funke wie ein kleiner Stern auf den Felsboden. Für Veverl war es ein wohliges Empfinden, ihre Hand so fest umschlossen zu fühlen. Von den Händen des Alfen ging eine seltsame Wärme aus, die durch den Arm in ihren Körper überströmte. Sie atmete in tiefen Zügen und dennoch seltsam leicht. Ihr war zumute, als wäre sie viele Stunden frierend durch Nässe und Schnee gewandert und säße nun behaglich am Herd, auf dem ein lustiges Feuer flackerte. Das war die kleine Waldhausküche, durch deren Fenster die Nacht mit ihren Sternen lugte, und der stille, weiß beschneite Forst. Am Herde stand ihr Vater und schürte die Flamme. Seltsam, wie jung ihr Vater geworden war! Und nun glich er aufs Haar dem Edelweißkönig! Helle Schellen klingen, man hört den Dori jauchzen und knallen, der Jörgenvetter erscheint unter der Tür, ihm folgt die Mariann mit den Kindern, und die Waldhausküche sieht aus wie die Wohnstube im Finkenhof. Die Kinder spielen hinter dem Ofen, die Mariann trägt auf, daß der Tisch sich biegen will, an dem sich Veverl mit dem Edelweißkönig sitzen sieht, gegenüber dem Jörgenvetter, der immer lacht und unbegreifliche Dinge redet.
Das war nun wirklich und wahrhaftig ein Traum. Denn der Jörgenvetter saß nicht daheim in seiner Stube. Der schlich im Frühlicht des ergrauenden Tages von der ›hohen Platte‹ durch die dichten Latschenfelder hinunter gegen den Almsteig. Als er den Pfad erreichte, blieb er stehen und horchte.
»Veverl! Veverl!« klang es mit gellendem Ruf durch die graue Morgenluft.
Der Bauer erkannte Doris Stimme. Nach einer Weile wiederholte sich der Ruf, näher und gellender. Jörg hörte über sich das Rasseln rollender Steine und sah den Buben aus dem Wald auf die offene Lichtung springen.
»Dori!«
Der Bub kam über den Hang heruntergerannt. Und schrie und schluchzte: »Finkenbauer! An Unglück muß geschehen sein. 's Veverl geht ab!«
»Was? Wieso geht's Veverl ab?«
»Gestern am Abend hab ich's troffen, Edelweiß hat's brocken wollen für der Bäuerin ihren Namenstag. Und wie ich heut in der Fruh zur Hütten komm, is kein Veverl da! Kein Veverl!« Die Tränen erwürgten dem Buben die Stimme.
»Aber geh! Da brauchst dich net sorgen! 's Veverl war in der Nacht daheim. Wie 's gestern schiergar bei der Hütten war, is ihr eingfallen, daß sie sich für morgen auf a Wallfahrt nach Mariaklausen verlobt hat. Ja, und da hat 's Madl gleich wieder kehrtgmacht und hat gschaut, daß s' heimkommt. Jetzt wird s' schon lang auf der Wallfahrt sein.«
Es dauerte eine Weile, bis Dori stottern konnte: »Gott sei Lob und Dank! Umbracht hätt's mich, wann der Veverl ebbes passiert wär!« Er fuhr mit der Faust unter die schnuffelnde Nase und über die nassen Augen.
»'s Veverl hat haben wollen, ich soll dir Botschaft bringen. Und weil ich vielleicht am End von der Woch kei' Zeit nimmer hab, so kann ich gleich abtragen. Is ebbes beinand auf der Alm?«
»Net viel, Bauer, schier net der Müh wert!« stammelte der Bub mit scheuem Blick. »Und abtragen kunnt ja ich auch. Es wär mir lieb, wann mir der Bauer verstatten tät, daß ich übern Sonntag drunt bleib, weil – weil ich a Bsorgung hätt.«
»A Bsorgung? Was denn?«
»Beichten möcht ich«, kam es leis über Doris blasse Lippen, »beichten und kumlizieren. Für Leben und Sterben. Man kann net wissen, was eim zusteht mit jedem Tag.«
Verwundert sah Jörg den Buben an und schüttelte den Kopf zu diesen übernächtigen Augen, die von blauen Rändern umzogen waren. »Dori? Fehlt dir was? Oder hast ebbes am Gwissen?«
»Ah, Gott bewahr!« erwiderte Dori mit irrem Lächeln. »Dös wird net zum Verwundern sein, wann a Christenmensch an sein' Herrgott denkt.«
Jörg schwieg eine Weile. »Da will ich dich net hindern. Meintwegen trag ab und bleib übern Sonntag. Nacher hab ich auch nix mehr z' schaffen auf der Alm und kann wieder umkehren.«
»Ja!« Dori schnaufte schwer. »Und was ich noch sagen muß: A Lampl haben s' mir wieder gstohlen.« Er machte keinen Versuch, seine Schuldlosigkeit zu beteuern, und war nicht im geringsten verwundert, als der Bauer ihn tröstete, statt zornig zu werden.
Jörg sagte: »Man hätt mir ja gleich a ganze Kuh stehlen können. Da kann ich noch froh sein, daß 's bloß a Lampl war.«
»Jaja! Und was is denn eigentlich a Lampl?« philosophierte Dori. »A Lampl is halt a Lampl. A Mensch is mehrer! Und oft reißt's an Menschen, keiner denkt's und keiner rührt sich drum!« Er nickte einen Gruß und stapfte davon.
Kopfschüttelnd sah der Bauer ihm nach, bis die Bäume ihn aufnahmen in ihren dunklen Schatten. »Ich kenn ihn gar nimmer! Was kann er denn haben?«
Als Jörg drei Stunden später im Finkenhof eintraf, stand die Bäuerin unter der Haustür. Er nahm sie bei der Hand und sagte flüsternd: »Mariann, jetzt rat, wo 's Veverl ist!«
Sie sah ihn verwundert an. »Da brauch ich net raten. 's Madl is auf der Alm.«
»So? Meinst? Da wirst Augen machen! Komm, ich sag dir ebbes!« Die beiden verschwanden im Flur.
Zu Mittag wußten alle Dienstboten des Finkenhofes, wohin das Veverl gegangen wäre – nach Mariaklausen auf die Wallfahrt. Auch Herr Simon Wimmer, als er am Abend beim Finkenbauer ›für e Schwätzle‹ vorsprach, bekam von dieser Wallfahrt zu hören. Er lachte: »Didididi! Was hat denn dem lieben Schneckle auf emal 's Herzle so schwer gmacht? Sie wird sich doch net gar verliebt habe? Weil's heißt, daß die heilig Mutter von Mariaklause gut ischt für so was.«
Jörg schwieg und runzelte die Stim, worauf Herr Simon Wimmer unter nachdenklichem »Tja, tja!« die Daumen drehte. Dann tat er einen Seufzer, so tief wie aus der großen Zehe heraufgeholt, schwitzte fürchterlich und begann übers Wetter zu reden. Vom blauen Himmel kam er auf seine blauen Aussichten zu sprechen, auf seine demnächst zu erwartende Gehaltsaufbesserung, auf seine ›angesehene‹ Stellung und seine ›Büldung‹. Er wurde vertraulich, tätschelte die Hand des Bauern, arbeitete krampfhaft mit dem blauweißen Taschentuch, verschwendete im Übermaß die Didididis, sprach von ›schönem Beisammesitze‹ und von ›ginschtiger Glegeheit‹, und ehe sich's Jörg versah, war der Heiratsantrag fertig. »No also«, schloß Herr Simmerle Wimmerle, »jetzt ischt's herausse, was mir schon älleweil auf'm Züngle glegen ischt. Und wenn der Finkenbauer nix dagege hat, nacher ischt älles richtig, und ich heirat's Vevele.«
»Dös schlagen S' Ihnen aus'm Sinn, Herr Kommandant!« fuhr Jörg fast zornig auf. »Da wird nix draus. Jetzt schon gar nimmer!« Er verstummte, als wäre er selbst vor diesem Wort erschrocken.
Freund Simon erblaßte, soweit der Kupferanflug seines Hamstergesichtes diesen Farbwechsel gestattete. »Aber Finkebauer! Dös isch doch kei' Art und Weis net, wie man so en ehrevolle Antrag aufnimmt.« Sein betröpfeltes Antlitz begann zu glitzern, als wär' es mit hundert kleinen gläsernen Nadelknöpfchen besteckt. »Vor mich der Finkebauer so kurzweg abweist, hätt er sich doch überzeuge solle, ob 's Vevele net selber auf mich denkt. Und wenn ich dös net bockfescht behaupte will – wisse Se, Finkebauer, in e angsehene Stellung komme, en gebüldete Mensche zum Mann kriege und Frau Kommandantin heiße, dös ischt wägerle auch e bissele was!«
Jörg wurde ruhiger und sprach ausweichend von Veverls Jugend.
»Da braucht sich der Finkebauer nimmer verstrapeziere!« sagte Herr Wimmer beleidigt, während er sich erhob und mit dem Ärmel den Mützendeckel bürstete. »Es ischt mer arg schmerzlich, daß ich sehe muß, wie mir der Finkebauer mei' Freundschaft vergilt. Er dürfte e bissele mehr drauf gebe! Man kann net wisse, wofür's gut ischt, en Freund in meiner Stellung z' habe. Man kriegt mit seine obrigkeitliche Ohre ällerlei z' höre. Und wenn ich net älleweil dem Finkebauer sein Freund gwese wär –« Verstummend blickte er mit geheimnisvoller Miene zur Stubendecke hinauf.
»Was soll dös heißen?« fragte Jörg erregt. »Da muß ich schon bitten, Herr Kommandant! Was kann man hören von mir und über mich?«
Herr Wimmer zuckte die Achseln. »Der Finkebauer kann net verlange, daß ich ihm meine Amtsgeheimnisse anvertraue Unter Freund und Freund, da wär's was anders gwese! Aber so! Mir scheint, daß net älles Gold ischt, was glänzt im Finkehof. Nix für ungut! Dös ischt nur so e Meinung.« Seine Transpiration schien plötzlich zu versiegen, und das Gesicht bekam was Aschiges mit blauroter Mischung. »Wenn mir der Finkebauer Bezug nehmend auf mein' ehrevolle Antrag noch was z'sage hätt, so weiß er ja, wo er mich finde kann.« Der gekränkte Maikäfer stülpte die Mütze schief über das obrigkeitliche Haupt, salutierte steif und würmelte hochmütig zur Stubentür hinaus.
Jörg ballte die Fäuste. »Den Gidi kunnt ich zerreißen! A schöne Suppen hat er mir einbrockt mit seine dalketen Späß!« In wachsender Erregung schritt er durch die Stube, von Fenster zu Fenster. »Jetzt muß er fort! Muß über die Grenz! Jeder Tag is a Gfahr für ihn.« Es trieb ihn aus der Stube, als wäre ihm zu schwül zwischen den vier Wänden. Als er den Hof betrat, hörte er von der Straße einen Gruß. Er blickte auf. »Grüß Gott, Brennerwastl!«
Der Bursch trat an den Zaun, rückte den Hut und drehte den schönen Spielhahnstoß nach vorne, damit ihn Jörg nicht übersehen möchte. »Im Stadtl bin ich gwesen. Da war Verhandlung vom Valtl seiner Klag gegen den Grafenjager, wegen der Gschicht beim Almtanz. A größere Freud hätt ich net haben können. Frei is er worden, der Gidi! Aus meiner Zeugschaft hat 's Gricht die Einsicht gwonnen, daß der Valtl der Ruhestörer war, der 's Messer zogen hat, und daß der Gidi d' Ruh wiederhergstellt hat. Jetzt hat der ander zu die Schläg noch den Schaden und 's Gspött. Die ganzen Kösten muß er zahlen. Springgiftig is er. Und gschworen hat er, daß er dem Gidi was antut. Dös soll er sich einfallen lassen! Ich bin dem Gidi sein Freund. Schau her, den Spielhahnstoß, den hab ich vom Gidi! Hast schon an söllenen Stoß amal gsehen in der Welt? Und wann der Valtl dem Gidi was will, nacher wachst er mit mir z'samm.« Das Hütl drehend, stelzte Wastl davon und stimmte mit seinem Knödeltenor das Lied an:
»Schöne Federn auf dem Hut Stehn mir sakrisch gut!« |
Der folgende Tag war ein Feiertag, Mariä Geburt, der Namenstag der Finkenbäuerin. Am frühen Morgen kamen die Dienstboten, um die Bäuerin ›anzuwünschen‹. Die Kinder sagten das Sprüchl auf, das sie von Veverl gelernt hatten. Und das Liesei klagte: »Daß mir keine Sträußln haben, da is bloß d' Veverl schuld! Muß die auf amal a Wallfahrt machen, statt daß s' die zwei Edelweißbuschen bracht hätt, die s' uns für heut versprochen hat.«
Als die Glocken läuteten, wanderte Jörg mit seinem Weib und seinen Kindern zur Kirche. Nach dem Hochamt hatte die Mariann in der Küche zu tun, die Kinder trugen ihr Feiertagsgewand spazieren, und der Bauer saß bei seiner Wochenrechnung.
Eine Stimme klang im Flur, und Gidi rasselte über die Stubenschwelle. Er warf den Hut auf die Fensterbank. »Grüß dich Gott, Finkenbauer!« Seine Stimme klang erregt, und seine Augen blitzten. »Kannst dir denken, wer heut noch kommt?«
»Halt der Abend nach'm Tag.«
»Vor's aber Abend wird, da kommt mein junger Herr Graf.«
Jörg erblaßte. »Meinst, du machst mir a Freud mit deiner Botschaft?«
»A Freud? Ah na! Ehnder macht's dir a harte Kümmernis, wann d' hörst, daß an Unglück, dös gschehen is, net gschehen hätt müssen.« Gidi zerrte aus seiner Joppentasche ein eng beschriebenes Blatt hervor. »Den Brief mußt lesen! Den der Eustach, der Kammerdiener, an unser Schloßhauserin gschrieben hat.«
Wehrend streckte der Bauer die Hand. »Laß mich in Ruh! Ich will nix wissen.«
»Willst auch net lesen, wann ich dir sag, daß deim Ferdl selig sein guter Nam da drin steht? Und daß er net schuld is an dem Blut, dös gflossen is?«
Verstört und wortlos sah der Bauer den Jäger an. Und griff nach dem Blatt, begann zu lesen, ließ sich auf die Holzbank hinfallen, fuhr mit der Faust in sein graues Haar und fing aufs neue zu lesen an.
Der Jäger stand vor ihm. Keiner von den beiden hörte den Wagen, der draußen vor dem Tore des Finkenhofes hielt.
»Na! Na!« fuhr der Bauer auf. »Und wann's auch zehnmal gschrieben steht! Es kann nix nutzen, es kann nix nutzen!«
»Nutzen kann's freilich nix. Und 's Unglück schaut sich noch härter an, als wie's schon war. Wem willst es verargen? A jeder hat denken müssen: Der Ferdl war's! Und der einzige, der sagen hätt mögen, wie's gwesen is, hat net reden können. Is daglegen zwischen Leben und Sterben. Jetzt freilich kommt alles Reden z' spat!«
Jörg, in grübelndes Sinnen versunken, schien nicht zu hören, was der Jäger sagte, und murmelte wieder die gleichen Worte vor sich hin: »Es kann nix nutzen, es kann nix nutzen!«
Draußen auf der Straße rollte ein Wagen davon.
»Wann der Ferdl nur blieben wär!« klagte Gidi. »Aber ich kann mir denken, wie ihm gwesen is! Dös Unglück von der Hanni muß ihn ganz ausanandbracht haben. Leicht hat er sich denkt: ›Der Graf is schuld dran und hat mei' Schwester am Gwissen!‹ Und da rennt er hin und weiß nimmer, was er tut im Zorn! Und mein junger Graf, wie er 's erste Wörtl vom Unglück mit der Hanni hört – ich weiß doch, was ihm d' Hanni golten hat –, und da tut er im Schreck den unseligen Fall, mit der Stirn grad auf'n Türhaken. Und wie ihn der Ferdl so liegen sieht im Blut – ich kann's begreifen, dös hat ihn aussitrieben zum Haus, und fort, grad allweil heimzu, ohne Denken und ohne Verstand. Leicht hat ihm d' Aufregung eingredt, als hätt er was Unrechts verübt. Du, Jörg, mußt wissen, was er dir fürgredt hat in derselbigen Nacht! Da kannst doch uns den Verdacht net verübeln! Bsinn dich auf den Abend, wo bei mir im Schloß droben gwesen bist! Da hast doch selber nix anders denkt, als daß der Ferdl im Zorn –«
»Nix hab ich denkt! Nix! Gar nix!« brauste der Bauer auf, mit verzerrtem Gesicht. »Was ich gredt hab, waren lauter Wenn und Aber! Für gwiß hab ich bloß dös einzige gsagt: daß ihm recht gschehen is, dem andern! So oder so! Und dös sag ich heut noch, wo meiner Hanni ihr Grab schon grün verwachsen is –« Jörg verstummte, weil die beiden Kinder in die Stube stürmten.
»Vater, Vater, draußen is einer, der fragt nach dir!« berichtete Pepperl. Und das Liesei wisperte: »Ja, Vater, ganz a nobliger Herr!«
»Jesus!« fuhr Gidi auf. »Es wird doch net –«
Das Wort erlosch ihm vor Schreck und Freude auf den Lippen. Wie versteinert blickte er auf die schlanke, dunkel gekleidete Gestalt des jungen Mannes, der, den Hut in der Hand, die Schwelle betreten hatte – sah in das schmale, blasse Gesicht, das von schwerer Krankheit und tiefem Leid erzählte, und wollte die Augen von der Narbe nicht losbringen, die sich mit rotem Strich von der Stirne abhob und unter dem Haar verschwand. Jetzt sprang der Jäger wie ein Verrückter seinem jungen Herrn entgegen. »Herr Graf! Grüß Ihnen Gott, Herr Luitpold! Grüß Ihnen Gott bei uns daheim, mein lieber Herr Graf!«
Luitpold reichte ihm die Hand und richtete die ernsten Augen auf den Bauern, der unbeweglich stand und die beiden Kinder an sich preßte, als müßte er sie vor dem in Schutz nehmen, der da gekommen war.
Scheu blickte Gidi bald auf seinen Herrn und bald auf Jörg. Nach einer stummen Weile verließ er die Stube.
Es schien, als wollte Luitpold sprechen. Die Worte versagten ihm. Doch seine Augen sprachen deutlich, als er dem Bauern mit stummer Bitte die Hand hinstreckte.
Jörg übersah diese Hand und fragte heiser: »Was will der Herr von mir?«
»Sehen Sie es nicht? Meine Hand will ich Ihnen bieten, und die Ihrige, Jörg, möchte ich drücken.«
»Daß ich net lach! Und wegen so was hat der Herr den weiten Weg gemacht? Von der Münchnerstadt bis aussi zu uns? Schad um so viel Plag! Oder – ah, jetzt merk ich's erst! So a feiner Herr! Und hat a Hütl und kein Blüml drauf? Der Herr will leicht eins haben aus'm Finkenhof? Da droben im Herrgottswinkel steckt a Rosen! Erst heut in der Fruh hab ich s' heimbracht von meiner Hanni ihrem Grab.«
Luitpold betrachtete das von Gram und Zorn entstellte Gesicht des Bauern. »Sie sind bitter, Jörg! Aber ich höre nicht Ihre Worte, nur Ihren Schmerz. Der, Jörg, redet eine Sprache zu meinem Herzen, die ich besser begreife. Wie sollten Schmerz und Schmerz einander nicht verstehen? Sie gleichen alles aus –«
»Ah ja! Das is alles auf gleich!« fuhr Jörg mit rauhem Lachen auf. »An schönern Ausgleich kann's net geben! A versauts Leben auf meiner Seit, Herzleid und Schand, a Häuferl Asche im Friedhof und mein Ferdl dazu! Und auf der andern Seit a Ritzerl in der noblen Haut!« Jörg schlug sich mit der Faust vor die Stirne. »Dumms Bauernluder! Verstehst denn net? Dös is gleich auf gleich!«
»Vater!« schrie das Liesei und streckte die Ärmchen zu Jörg hinauf. Der schlang den Arm um das schluchzende Kind und zog den Buben an sich. »Stad sein, Kindl! Net weinen! A blinder Bruder bin ich gwesen. Aber ich will a Vater sein mit offenen Augen!« Er wandte sich zu Luitpold. »Ah ja! Eins hab ich vergessen. Ich will net ungrecht sein. Der gnädig Herr Graf hat sich so viel Müh gmacht, meim Ferdl sein' guten Nam wiederz'geben. Grad hab ich's erfahren. Recht a liebe, gnädige Lug! Freilich, man kann net wissen, weswegen der Herr Graf so gnädig war! D' Leut halt! Net? Wann d' Leut sich denken müßten: Dös hat der Ferdl tan, der Bruder von der Hanni, die man aus'm Wasser zogen hat? Da kunnt sich einer denken: Es is ebbes gschehen, was dem Bruder a Recht geben hat, daß er d' Hand aufhebt gegen den –« Die Stimme brach ihm. »So ebbes wär an arge Kümmernis für so an nobligen Herrn! Wann d' Leut so ebbes denken müßten von ihm. Aber die Lug is da, und ich muß dem gnädigen Herrn Grafen ›Vergelt's Gott‹ sagen. Wer weiß, wozu man's brauchen kann! Und schriftlich hab ich's für alle Fäll!« Er schwieg und fiel auf die Holzbank hin.
Luitpold stand unbeweglich, mit blassem Gesicht. »Ich verstehe nur halb. Und das ist eine Sprache, die ich nicht länger hören darf. Mein unerwarteter Anblick mag Sie über alles Maß erregt haben. Sie sind ungerecht. Und ich sehe, daß in dieser Stunde eine Verständigung unmöglich ist. Sie würden mir nicht glauben, wenn ich Ihnen sagen wollte, daß ich erst vor wenigen Tagen von dem entsetzlichen Ende hörte, das der Bruder meiner Johanna fand. Ich kam, weil mein Herz mich zu Ihnen trieb, um zu trösten und Trost zu empfangen. Was geschehen ist, Jörg, ist unabänderlich. Wen es härter getroffen hat, Sie oder mich, das kann nur Einer entscheiden, der in unsere Herzen sieht. Die Stunde wird nicht ausbleiben, die Ihnen sagen muß, daß ich mehr Ihr Mitgefühl verdiene als Ihren Groll.« Luitpold sah die beiden Kinder an. »Sie, Jörg, haben nur einen Teil von dem verloren, was Ihr Herz besaß. Mir ist mit Johanna alles gestorben.« Er wandte sich ab und ging. Die Tür schloß hinter ihm, ehe Jörg ein Wort herausbrachte.
Gidi erwartete seinen Herrn im Hof. Wortlos schritt er mit ihm die Straße hinunter. Dann fing der Jäger ein bißchen wirr zu reden an, von den Auerhähnen, die heuer ein so ›gsundes Fruhjahr‹ ghabt hätten, von einem ›Kapitalhirsch‹, der nah bei der Jagdhütte seinen Stand hielte, und von drei ›Fetzengamsböck‹, die droben auf der Höllenleite ›gfangig‹ stünden, ›grad zum Abstechen‹. So schwatzte er immer und schien kein Auge dafür zu haben, daß sein Herr nicht hörte.
Sie hatten die Straßenkreuzung vor der Kirche erreicht. »Geh nur, Gidi!« sagte Luitpold. »Daheim treffen wir uns wieder!«
Gidi ging nicht. Wie angewurzelt stand er und sah seinen jungen Herrn in den Friedhof treten, sah ihn die Reihen der Kreuze suchend abwandern und vor einem Grabe stehenbleiben.
Es dauerte lang, bis Luitpold die Straße wieder betrat. Der Jäger stammelte: »Müssen S' net harb sein, Herr Graf, daß ich noch allweil da bin! Ich hab mir denkt –« Er schien nimmer zu wissen, was er sich gedacht hatte.
Luitpold reichte ihm die Hand. »Wir wollen zu Berg steigen. Ich muß hinauf. Die Luft hier unten erdrückt mich.«
Gidi hätte am liebsten einen Juhschrei getan. »Da haben S' recht, Herr Graf! Am Berg droben schaut sich alles anders an. Da liegt der Hamur hinter jedem Stein. Grad bucken braucht man sich drum.«
Zwei Stunden später brachen sie auf. Als sie über den Wiesenhang dem Bergwald zu stiegen, sah Gidi auf der Straße, die zur Bahnstation führte, eine offene Kutsche davonrasen, daß der Staub in dicken Wolken aufwirbelte.
Wo mag er denn hinfahren? fragte sich der Jäger, als er in der Kutsche den Finkenbauern zu erkennen meinte.