Ludwig Ganghofer
Der Dorfapostel
Ludwig Ganghofer

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Fünfzehntes Kapitel

Das letzte Läuten war vorüber, immer dünner zog sich die Reihe der verspäteten Kirchgänger auseinander, es duftete schon der Weihrauch aus dem offenen Fenster der Sakristei, und noch immer saßen die ›Loder‹ dichtgedrängt auf der Friedhofmauer. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.

»Heut haben s' ebbes, die Buben«, flüsterte ein alter Bauer seiner Bäuerin zu, »dös weiß ich von meiner Zeit her, so haben wir's allweil gmacht.«

Da kam Bewegung in die Reihe der Burschen. Alle sprangen sie dem Staudamer-Mickei entgegen.

»Hast es?« fragte der Schreinergesell.

»Freilich hab ich's.«

Nun wollte ihm jeder unter den Wettermantel gucken.

»Hand von der Butten!« wehrte Mickei. Und fragte: »Sind s' da, die zwei?«

»Noch allweil net!« Ein Dutzend Stimmen quirlte durcheinander. Und einer meinte: »Die haben den Braten gschmeckt, die kommen nimmer.«

»Sie müssen!« erklärte der Staudamer-Knecht mit Seelenruhe. Durch das Sakristeifenster hörte man die Klingeln der Ministranten schrillen. »Angehn tut's!«

Während die Burschen zum Kirchtor eilten, klang ein dumpfes Rollen von den grau verhüllten Bergen. Wollte ein Gewitter kommen, so zeitig im Frühjahr? Oder war eine Steinlawine über die Felsgehänge niedergegangen? Mickei schien das erstere zu glauben. Er blickte lachend zum Himmel auf. »Hörts es, Buben? D' Häuslschusterin tät sich gern a bißl wehren! Und kocht ebbes zamm.«

»Geh, du Narr!« meinte ein Halbvernünftiger. »Steiner sind abigrumpelt über d' Wänd.«

»Und ich sag: sie macht a Wetter!« Wieder lachte Mickei. »Heut hilft's ihr nix. Die muß her!«

Von einer abergläubischen Angst befallen, schienen ein paar von den Burschen zu zögern; schließlich nahmen sie doch den Hut ab und traten hinter den anderen in die Kirche. Ein verspätetes Weibl und einige Kinder kamen noch gezappelt, dann war der Friedhof leer, und aus der Kirche klang die Stimme des Herrn Felician.

Da erschienen noch zwei allerletzte Kirchgängerinnen: die Altenöderin und ihr Mädel.

Lisbeth mahnte: »Mutter, tummel dich a bißl! Es geht schon an.«

»Ja, Kindl!« Nannimai humpelte, so flink es ihr krummer Fuß erlaubte. In einem weißen Schnupftüchl trug sie etwas, viereckig wie ein kleines Vogelhaus, und zwischen den zusammengebundenen Zipfeln des Tuches lugte was spitz Vergoldetes hervor.

Als die beiden unter dem Staunen aller Stuhlnachbarinnen in die Kirche traten und im hintersten Winkel ihre Plätze einnahmen, konnten sie über ihren Köpfen, auf der weit vorgebauten Decke der Emporkirche, noch das Gepolter der Burschen hören, die in ihre Bänke rückten. Dort oben hatte es seit Jahr und Tag kein solches Gedräng gegeben, wie bei dieser Auferstehungsfeier. Nur drei Plätze waren unbesetzt: der Platz des Peter Johannes Zdazilek, der Platz des Waldhofer-Roman und der Platz des Staudamer-Knechtes. Mickei hatte sich im Mittelgang zwischen den Betstühlen ganz vorne an die Brüstung der Emporkirche gestellt, hatte den ›siebenhölzigen Schaml‹ unter dem Mantel hervorgeholt, war andächtig auf die Knie gesunken und hielt die Hände gefaltet – in jener hölzernen Stellung, in der man auf Martertäfelchen die Verunglückten knien sieht. Es fehlte ihm nur das rote Kreuz über dem Kopf.

Die Burschen zu seiner Rechten und Linken hatten sich in gruseliger oder lustig gespannter Erwartung mit den Ellbogen über die Bänke vorgelegt, weil jeder den Mickei sehen wollte. Und dann spähten sie wieder zum Hauptaltar hinunter, vor welchem Herr Felician Horadam im weißen Chorhemd neben dem Heiligen Grab und den flimmernden Ampeln kniete.

Die Kirche trug festliches Gewand. Alle Altäre waren schon in das freudige Rot des Ostertages gekleidet, und hundert Kerzen brannten, deren Flackerlicht die Dämmerung des Abends durchzitterte und die grauen Fenster glänzen machte, als wäre draußen nicht trübes Wetter und nahe Nacht, sondern rosiger Morgen und steigende Sonne.

»Amen!« sagte Herr Felician mit lauter Stimme, als er das Gebet gesprochen hatte. Sich bekreuzend, stand er auf, und die kleine Prozession formierte sich: voran der Priester, noch mit der schwarzen Stola, hinter ihm der Mesner mit dem leeren Kreuz, vier Ministranten mit ihren Klingeln und zwei Kirchenräte mit brennenden Lichtern. Allen Leuten fiel es auf, daß der Waldhofer fehlte, dem als Bürgermeister vor jedem anderen die Ehre zukam, bei der Auferstehungsprozession als erster hinter dem Kreuz zu gehen.

Tiefe Stille herrschte in der Kirche, als die Prozession durch den Mittelgang hinunterschritt. Jetzt senkte sich am Hauptaltar mit leisem Gerassel der schwere Gruftdeckel über das Heilige Grab. Der Vorhang teilte sich, der den leeren Rahmen des Altarbildes verschlossen hatte, und hinter der Prozession, die aus der Kirche ins Freie getreten, fielen mit dröhnendem Schlag die Flügel des Tores zu.

Leis begannen auf dem Chor die singenden Stimmen, immer stärker schwellend. Es war kein Kirchenlied, sondern eine halb weltliche Weise. Das hatte der junge Lehrer so eingeführt, um die Pause zu füllen; er war von den Aufgeklärten einer, welche glauben, daß schöne Kunst auch in die Kirche tauge und die Menschen zur Frömmigkeit erheben könne.

»Ostern, Ostern, Frühlingswehen!
Ostern, Ostern, Auferstehen
Aus der tiefen Grabesnacht!
Blumen sollen schöner blühen,
Herzen sollen heimlich glühen:
Denn der Heiland ist erwacht!«

Auf dem Emporium der Burschen herrschte ein immerwährendes Hälsestrecken. Jetzt – zwischen Grab und Auferstehung – das war der Augenblick, der ›gut ist für so was‹! Dreimal hatte sich der Staudamer-Mickei bekreuzt, und nun begann er die Heiligenlitanei von rückwärts abzubeten: »!uns für bittet, Gottes Auserwählten und Heiligen alle – !uns für bittet, Witwen und Jungfrauen heiligen alle – !uns für bitt, Anastasia Heilige – !uns für bitt, Katharina Heilige –«

»Siehst ebbes?« flüsterten ihm die Burschen aus den nächsten Stühlen zu.

Mickei machte die Augen starr, als hätte ein Grausen seine fromme Seele gepackt. »Der Häuslschusterin ihr Madl!«

Alle spähten in die Kirche hinunter. Doch sie sahen nichts anderes, als die Hauben und Hüte der Weiber, die Struwelköpfe der Buben und die spiegelnden Glatzen der Bauern.

Mickei deutete mit der Hand: »Da kommt's! Und rote Haar hat's um. Und Hörndln hat's über die Augen. Und hat an fuirigen Besen unterm Arm. Und jetzt fallt's nieder, als hätt ihr der Herrgott d' Faust auf'n Buckel gschlagen. Mar' und Joseph! Wie lauter Unziefer fludert's auf!«

Die gruselige Stimmung der Burschen drohte umzuschlagen. Sie sahen nichts. Und der Staudamer-Knecht mit den aufgerissenen Augen war eher komisch als schreckhaft anzuschauen. Schon lachte einer von den Burschen und zischelte: »Schwindeln tut er!« Doch da streckten sich plötzlich alle Köpfe, und der Staudamer-Mickei guckte verdutzt in die Kirche hinunter.

Dort unten humpelte die Altenöderin durch den Mittelgang zum Hauptaltar, vorüber an den verblüfften Leuten. Auf den Händen trug sie ein schimmerndes Kirchlein mit vergoldetem Spitzdach. Und als sie den Altar erreichte, schob sie ihre Votivgabe auf die Stufe hin, bekreuzte das Gesicht und humpelte zurück.

Da hörte man im Betstuhl der Staudamerin eine wispernde Mädchenstimme: »Mutter, die Hex schau an! Jetzt haben sie's ausprobiert. Kommen hat s' müssen.« Die zweite Hälfte dieser unschuldsvollen Weisheit ging unter im Chor der Stimmen, welche die andere Strophe des Osterliedes begannen:

»Der im Grabe lag gebunden,
Siegreich hat er überwunden,
Und der Kerker bricht.
Frühling grünet auf der Erden,
Frühling soll's im Herzen werden,
Ewig herrschen soll das Licht!«

Mit den Schlußworten des Liedes klang von draußen die rufende Stimme des Priesters zusammen, drei dröhnende Schläge des schweren Kreuzes hallten am geschlossenen Tor, die eichenen Flügel sprangen auf, und während im Rahmen des Hauptaltars der erstandene Heiland mit der Osterfahne aufstieg und der Priester im Rauchmantel einzog in die Kirche, umwogt vom Dufte des Weihrauchs, fingen alle Glocken zu läuten an, und unter Posaunenschall und Paukenschlägen jubelten die Stimmen der Sänger:

»Der Herr ist auferstanden!
          Ja! Ja! Ja!
Er ist wahrhaftig auferstanden!
          Halleluja!
          Halleluja!

Als Herr Felician den Hauptaltar erreichte und auf den Stufen das Kirchlein schimmern sah, ging ein glückliches Lächeln über sein Gesicht. Er bückte sich und stellte das glitzernde Weihgeschenk der Häuslschusterin auf den Altar. Das tat er in auffälliger Weise. Dennoch bemerkten es nur wenige Leute. Fast alle Gesichter waren verwundert zur Emporkirche der Burschen hinaufgedreht. Da droben herrschte ein Spektakel, den auch die Posaunenstöße und Paukenwirbel nicht ganz übertönen konnten.

Im hintersten Winkel der Kirche hatte Nannimai die Hand der Lisbeth gefaßt. Und als Herr Felician mit wehendem Rauchmantel in der Sakristei verschwand, flüsterte die Altenöderin: »Komm, Kindl! Jetzt is mir gut in der Seel. D' Leut kunnten mir's verderben. Schauen wir heim, eh d' Leut aus der Kirch laufen.«

Sie traten aus dem Betstuhl, ohne den Weihbrunnsegen abzuwarten.

Des Rauchmantels entkleidet, kam Herr Felician aus der Sakristei, wanderte durch die ganze Kirche und sprengte das geweihte Wasser nach allen Seiten. Als er zum hintersten Winkel kam und die zwei unbesetzten Plätze sah, lächelte er zufrieden und sprengte reichlich den Weihbrunn nach der leeren Bank.

Noch ehe Herr Felician die Sakristei erreichte, stürmten die Burschen mit Gepolter über die Holztreppe der Emporkirche herunter. Ihre Erregung schien noch zu wachsen, als sie den leeren Betstuhl der Häuslschusterin sahen. In dem schmalen Gange staute sich ein drängender Knäuel. »Weiter! Aussi!« mahnte der Staudamer-Mickei. Und draußen in der grauen Dämmerung hob er die Hände über den Kopf und gab die Losung: »Alle mitanand ins Wirtshaus!«

Andere Leute, die aus der Kirche kamen, liefen dem Trupp der Burschen nach, mit neugierigen Fragen. Überall im Friedhof bildeten sich klatschende Gruppen, und aus einer dieser Gruppen hörte man die Stimme der Staudamer-Julei heraus, schrill wie eine Weidenpfeife.

Herr Felician, als er die Sakristei verließ, hätte nur einen Blick über den Friedhof werfen dürfen, um in Sorge zu geraten. Doch heute schien er keine Augen zu haben, nickte lächelnd vor sich hin und hatte merkwürdige Eile, durch den dämmernden Abend nach Hause zu kommen.

In seiner Stube brannte schon die Lampe, und Jungfer Kathrin war dabei, den Tisch für das Auferstehungsmahl zu decken. Scheu guckte sie ihren geistlichen Herrn an, der seit vierundzwanzig Stunden kein Wort mit ihr gesprochen hatte. Sanft und zutunlich klang ihre Stimme: »Recht schön guten Abend, liebe Hochwürden! So is er halt wieder auferstanden, unser grundgütiger Heiland. Gelt, ja! Und recht viel Glück auf die heiligen Ostertäg!«

Herr Felician Horadam sagte feierlich: »Meine gute Kathrin! Hinter der heiligen Auferstehung soll kein Zorn und Groll verbleiben. Wenn du dir den gestrigen Tag ein bisserl zur Warnung nimmst, soll dir alles vergessen sein. Unser lieber Herrgott hat auch mir mein unpriesterliches Benehmen net übelgenommen und hat mich was Gutes stiften lassen.«

Kathrin haschte die Hand des Pfarrers und wollte sie küssen.

»Laß gut sein!« Herr Felician zog die Hand zurück. »Die Schleckerei mag ich net. Mach einen guten Vorsatz im Herzen, das is mir lieber. So! Und jetzt bring die Metzelsuppen!« Er trat zum Fenster und blickte in den dunkelnden Abend hinaus.

Merkwürdig, daß noch immer Menschen im Friedhof waren! Überall an der Mauer standen sie beisammen, andere huschten wie Schatten davon, um flink nach Hause zu tragen, was sie vernommen hatten.

Besonders eilig schien es die Hausmagd des Bürgermeisters zu haben. Atemlos rannte sie, bekreuzte sich immer wieder, und sooft sie auf der rauhen Straße stolperte, guckte sie in abergläubischer Angst über die Schulter.

Aus der Stube des Waldhofes, deren Fenster noch ohne Licht waren, klang der Magd das Lautgewirr eines heftigen Wortgefechts entgegen.

An dem großen Bauernhof war nur ein einziges Fensterchen erleuchtet, das Fenster an Hanspeters Kammer. Diesem Lichtschein rannte die Hausmagd zu. Als sie durchs Fenster guckte, stand sie sprachlos vor Verblüffung.

Wie verändert war das Stübchen des buckligen Apostels anzusehen! Alles zierliche, glitzernde Spielzeug, die Baumschwämme und Heiligenbildchen, alles war verschwunden. Und Hanspeter – als hätte er für den Weg zum Pfarrhof nicht mehr die Kraft besessen und hätte noch erst ein wenig rasten müssen – Hanspeter saß auf dem Bett und hielt mit beiden Armen auf seinem Schoß den ungeheuerlichen, firnisfunkelnden Bauernstuhl der Jungfer Kathrin umschlungen, diesen Peter Johannes Zdazilek unter den Sesseln.

Es war ein Anblick, der die Magd bei aller Verblüffung zum Lachen zwang. »So, du?« Mit beiden Händen trommelte sie an das Fenster. »Gar net in der Kirch bist gwesen? Heut hast ebbes versäumt.«

Hanspeter hob das entstellte Gesicht, die toten Augen. Und da kam der Magd hinter dem Lachen wieder der abergläubische Schreck. »Jesses Maria! Der schaut ein' an, als ob er dazughören tät zu die andern zwei!« Sich bekreuzend, rannte sie an der Mauer hin und fuhr ins Haus.

Noch immer klangen in der Stube die zwei raufenden Stimmen, jede so heiser wie die Stimme eines Vorbeters nach langer Wallfahrt.

Die Magd schien nicht zu hören, wollte nur ihre Neuigkeit loswerden. »Waldhofer!« schrie sie, und riß die Stubentür auf. »Waldhofer! Was heut in der Kirch –«

Weiter kam sie nicht. Der Bauer, ganz schwarz in der dunklen Stube, fuhr wütend auf das Mädel los: »Machst, daß d' aussi kommst! Dös tät mir taugen, daß d' Ehhalten ihre Nasen einistecken, wann der Vater mit seim Buben ebbes hat! Aussi, oder –«

Die Magd war zurückgefahren, als hätte ihr die Feuerspritze einen Strahl ins Gesicht geworfen. Und mit einem Fußtritt schmetterte der Waldhofer die Stubentür zu.

Nun Stille. Das lange, dicke Seil des Streites war entzweigerissen. Schwarz und wortlos standen sich Vater und Sohn in der finsteren Stube gegenüber, alle beide schnaufend, als hätten sie einen steilen Berg erklommen und wären mit ihrer letzten Kraft zu Ende.

Der Alte rührte sich zuerst. Schreien konnte er nimmer. Er murrte nur, ganz heiser: »Net schlecht! Die heilige Auferstehung versaumt! Und einigstritten bis in d' Nacht!« Er trat zum Tisch und nahm den Zylinder von der Hänglampe. »Jetzt muß Ruh sein. Jetzt kommen d' Leut. Dös kunnt mir taugen, daß man die saubere Gschicht gleich morgen ausratschen tät im ganzen Ort. Sakrament noch amal!« Der energische Fluch galt dem Zündholz, an dem er sich die Finger verbrannt hatte, weil der Docht so schnell nicht Feuer fangen wollte. Nun zuckte das Flämmchen, glomm immer heller auf und streute sein falbes Licht in die Stube.

Diese Helle wirkte ein freundliches Wunder und zerbrach dem Zorn des Waldhofer die gröbsten Knochen. Erschrocken sah er seinen Buben an, der mit geballten Fäusten im Schein der Lampe stand, das Gesicht wie die Mauer so bleich, zähe Entschlossenheit in den blitzenden Augen.

»Laß mir mei' Ruh!« murrte der Alte, als müßte er einem bösen Wort zuvorkommen, das schon auf Romans Zunge lag. »Ich sag dir's zum letztenmal: solang ich der Herr im Haus da bin, kommt mir so eine net zur Tür eini!«

»So eine? Vater, dös sagst nimmer!«

Das wirkte. Nicht, weil es in Zorn geschrien, sondern mit ernster Ruhe gesagt war. »Gegen 's Madl hab ich nix!« korrigierte der Waldhofer und sah seinen Buben immer scheuer an. »Meintwegen soll s' die liebste sein. Ich reiß ihr kein' Zinken aus'm Krönl. Aber den Leuttratsch laß ich net anhängen an mich.« Er arbeitete sich wieder in die alte Wut hinein. »Da tät ich mich schon lieber niederlegen und d' Augen zumachen. So! Jetzt weißt, wie dran bist!«

»Gut, Vater!« Roman legte die Faust auf den Tisch. »Der Herr im Haus bist du. Und die Tür kannst auf- und zumachen, wie's dir einfallt! Wär d' Mutter noch da –«

»Mit der Mutter laß mich aus!« fuhr der Waldhofer zornig auf – ein Zorn, der sich ansah wie gereizte Schwäche. »Der Mutter ihr seligs Gedächtnus laß ich net einimischen in so an Krawall.«

»D' Mutter tät sich sorgen um mich. Aber die schreit nimmer auffi. So muß dir halt ich ebbes sagen, Vater! Allweil hab ich dir d' Ehr lassen als Kind. Vierundzwanzg Jahr bin ich alt. Die haben dein ghört. Die ander Halbscheid vom Leben ghört mein.« Er trat zum Fenster und nahm seinen Hut aus der Nische, während dem Waldhofer die Augen immer größer wurden. »Jetzt geh ich, Vater! Kannst zusperren hinter meiner. Ich schlag dir nimmer an d' Haustür! Was ich von der Mutter hab, kannst mir net fürenthalten. Viel wird's net sein, und a bißl klein muß ich anfangen. Macht nix; wann ich d' Ilsabeth hab, kann ich z'frieden sein. Pfüe Gott! Der Herr Pfarr, mein' ich, der bhalt mich schon über Nacht. Der hat mir's allweil gut vermeint.«

Erschrocken streckte der Waldhofer die Hände, als möchte er diesen ›Vogel Narrenschopf‹ noch bei den Federn haschen. Aber Roman war schon draußen. Und da fuhr sich der Alte ins weiße Haar und fluchte: »Himmel Kreuz Teufel! Der meint ebba gar, daß er's zwingt?« Er wetterte die Faust auf den Tisch. »Was der für an Dickschädel hat! Grad wissen möcht ich, von wem er den haben kann? Is d' Mutter die beste gwesen. Und ich laß allweil noch a Wörtl reden mit mir.«

Das wollte er der Tischplatte mit einem zweiten Faustschlag beweisen. Im gleichen Augenblick schrie draußen im Hof eine atemlose Stimme: »Waldhofer! Den Waldhofer muß ich haben!« Dann die Stimme Romans: »Was is denn, Bub?«

Da stand der Waldhofer schon im Hausflur. »He! Wer schreit denn da umanand? Is denn der Teufel schon wieder los?«

»Burgermeister!« Keuchend kam der Hüterbub über die Schwelle gestolpert, und hinter ihm tauchte Roman im Dunkel auf. »Burgermeister! Die Burschen –« Nach Luft schnappend preßte der Bub die Hände auf seinen Magen. »Die Burschen haben ebbes für! Mit der Häuslschusterin! Pechwuzeln haben s' gmacht, die Burschen. Und d' Häuslschusterin wird ausgräuchert. Spanlichter und Schwefel, alles haben s' schon beinand. Gleich geht's an!«

»Mar' und Joseph! Dös arme Madl!« fuhr der Waldhofer erschrocken auf, obwohl der Hüterbub nur von der Häuslschusterin gesprochen hatte. Dann schoß ihm der Zorn in die Adern. »Die Malefizbuben, die miserabligen! Die sind ja dümmer wie an Ochs in der Mastzeit! Lauf, was d' laufen kannst! Zur Schandarmerie lauf auffi! Gleich sollen s' ausrucken! Und ich und der Roman – Wo is er denn? He! Mandi! Mandi!« Das schrie der Waldhofer in den dunklen Abend hinaus. Er hörte keine Antwort, aber beim Hoftor sah er einen jagenden Schatten verschwinden.

Wie ein Hirsch, hinter dem die Hunde her sind, hetzte Roman über die Straße und quer durch die Wiesen. Er sprang über alle Gräben, schwang sich über die Hecken und hatte noch immer Atem in der Brust, als er das kleine, stille Haus der Altenöderin erreichte. »Ilsabeth!« Er fand die Haustür verriegelt und warf sich mit dem Körper gegen die Türe, daß drinnen die Öse des Riegels klirrend zu Boden sprang.

Nannimai und Lisbeth saßen in der Küche beim Feuer, und in der Pfanne schmorten die ›sauren Fisolen‹. Die Altenöderin hatte sicher gerechnet, daß heute der Hanspeter noch käme, und da sollte er zur Auferstehungsfeier sein Lieblingsgericht auf ihrem Tische finden.

Als die Haustür krachte, stand Lisbeth auf, nicht erschrocken, und stellte sich vor die Mutter hin. Der bleiche Schreck überfiel sie erst, als sie beim Flackerschein des Herdfeuers den jungen Waldhofer in der Küchentür auftauchen sah.

Die Altenöderin war ruhig sitzengeblieben. Doch als sie die beiden so voreinander sah: ihr Mädel bleich und zitternd, Schmerz und Sehnsucht in den Augen, und der Lisbeth gegenüber den keuchenden Einbrecher, der nicht reden konnte und dabei das Mädel mit einem Blick verschlang, in welchem Glück und Sorge durcheinanderschwammen – als die Altenöderin das sah, bekam sie ein Gesicht, als ginge diese Sache über den Verstand ihrer grauen Haare.

»Ilsabeth!« Roman streckte die Arme. »Fort! Gleich auf der Stell müßts fort! Du und d' Mutter! Ich führ enk in Pfarrhof auffi. Der Herr Pfarr meint's gut mit uns.« Er haschte die Hand des Mädels. Und als ihm Lisbeth die Hand mit Gewalt entreißen wollte, begann das Zornfeuer nachzuwirken, das vom stundenlangen Wortgefecht mit dem Vater in ihm zurückgeblieben war. »Was hast denn?« schrie er mit heiserer Stimme. »Wann ich dir sag, daß d' fort mußt, gleich auf der Stell? Was wehrst dich denn allweil?« Er preßte ihre Hand, daß Lisbeth stöhnen mußte. »Jetzt bitt ich mir aus, daß gschieht, was ich sag! Meinst ebba, ich bin umsonst dahergrennt wie a Narr? Mach weiter, sag ich! Und d' Mutter! Auf! Pressieren tut's!«

Er zerrte das Mädel gegen die Tür. Und Lisbeth schien endlich in seinen Augen die Sorge zu erkennen. Sie wollte fragen und brachte nur einen stammelnden Laut über die Zunge. »Was? Was?«

»Was, was? Wann s' ebbes fürhaben, die Buben! Mach weiter, sag ich! Oder meinst, ich laß dich im Haus daherin und lach dazu, wann die Buben aufmarschieren im Trupp und Pech anzünden vor der Haustür, als ob deiner Mutter ihr Häusl a Fuchsbau wär? Abgmacht haben sie's. A Vaterunser lang, und sie können da sein. Mach weiter, sag ich! Und tummelts Enk, Mutter! Pressieren tut's!«

Das war doch eine Nachricht, um darüber zu erschrecken. Aber Lisbeth atmete auf. Ein glückliches Lächeln glitt ihr über die vergrämten Züge. Dabei zerrte sie noch immer mit der Hand, um frei zu werden.

Da tat ihr Roman den Willen und ließ ihre Hand aus der seinen fallen. Ganz bleich war er, mitten in seinem brennenden Zorn. »Ah so? Willst ebba net? Mit mir net? No ja! So bleib ich halt. Muß ich mich halt wehren. Und wann's ihrer Zwanzge sind! Mehr als derschlagen können s' mich net.« Er suchte mit verstörtem Blick und wollte nach dem Beil greifen, das er in einem Winkel der Küche liegen sah.

Lisbeth haschte seinen Arm. »Jesus Maria!« Wie fest sie jetzt seine Hand umklammerte!

Er sah sie an, als gält' es die Entscheidung seines Lebens. »Tust dich führen lassen von mir? Jetzt gleich auf der Stell?«

»Alls tu ich, was d' willst!«

»No also! Warum sagst es denn net gleich? Daß man sich ängstigen muß und Zeit versaumen! Und weiter, Mutter! A bißl gschwind!«

Die Altenöderin, noch immer jenes Staunen in den Augen, schüttelte den Kopf. »Ich bleib.«

»Mar' und Joseph!« fuhr Roman wütend auf. »'s Madl hab ich. Jetzt fangt mir die Alte an! Du narrets Weibl! Was willst denn? Zwanzg Buben, wann s' rauschig sind, die rumpeln wie a Wagen. Meinst, der geht auf d' Seiten, weil du's bist?«

»Mutter!« fiel Lisbeth mit erloschener Stimme ein. »Der Roman weiß, was er tut. Komm, Mutter! Was der Roman sagt, muß gschehen.«

Die Altenöderin schüttelte abermals den Kopf. »Gehts halt, Kinder! Mich laßts bleiben! Mein Herrgott is mir wieder gut. Ich brauch nix fürchten.« Es schien, als wäre die ›Zuversicht‹, die dem Hanspeter entronnen, auf die Altenöderin übergeflossen.

Da klang Geschrei und Johlen von der Straße her.

»Mutter!« schrie Lisbeth auf.

»Da mußt dich net ängsten!« tröstete Roman. »Die Gschicht haben wir gleich.« Er sprang auf Nannimai zu, packte sie mit den beiden Armen und hob sie auf, als wäre die alte Frau so leicht wie ein Kind. »So, Schatzl, komm! D' Mutter hab ich.«

Im Sturmschritt ging's hinaus zur Türe. Lisbeth hinter den beiden her. Sie riß im dunklen Flur einen Schlüssel von der Wand und sperrte die Haustür ab. Als Roman den Schlüssel klappern hörte, fuhr ihm bei aller Erregung des Augenblicks ein lachender Gedanke durch den Kopf: »Die taugt zur Bäuerin! Die sperrt meine Kästen noch zu, wann 's Haus schon wackelt.«

Um die Scheune ging's herum und über die finstern Wiesen hinaus. Als ein hoher Viehzaun kam, dessen Gatter erst geöffnet werden mußte, stellte Roman die Altenöderin zu Boden. »So, Mutter, die ander Hälft vom Weg kannst laufen.« Mit beiden Händen tappte er in der Finsternis herum. »Schatzl? Bist da?«

»Roman!«

»Gelt, jetzt hab ich dich?« Seine Arme umschlangen das schwarze Ding, das zitternd vor ihm stand.

»Jesus Maria! Roman? Was tust du mir? Und die ander? Die ander? Jesus Maria!«

»Die ander? Die kann sich den Vetter von Enzdorf aufzwicken. Du nimmst mich! Und ich nimm dich! So machen wir's. Gelt?« Er wartete nicht auf die Antwort. Der Hunger seiner Liebe wollte zehren. Er küßte, wohin er im Dunkel traf. Und Lisbeth klammerte sich an seinen Hals.

Überall Stimmen, überall in der Runde; alle fern und unverständlich. Und auf der Straße, immer näher kommend, das Geschrei der Burschen, die auszogen zum Hexenbrennen. Pistolenschüsse und das dumpfe Knallen der Schlüsselbüchsen. Als wär's ein Haberfeldtreiben. Ein lustiges. Das heitere Johlen überwog im Lärm, bei den Burschen geradeso wie bei den Neugierigen, die sich hinter dem spektakulierenden Trupp gesammelt hatten.

Der Schein des brennenden Peches, das sie in eisernen Pfannen trugen, zitterte dem lärmenden Haufen voran. Dicke Bündel von Kienspänen brachten sie mitgeschleppt, Ballen von Wacholderzweigen, und in großen Kübeln hatten sie alles gesammelt, was übel duftet, wenn es brennt.

Mit jeder Minute wuchs der Lärm; aus allen Häusern, denen der Trupp sich näherte, kamen die Leute herausgerannt, Weiber in Unterröcken, Kinder im Hemd, und kläffend umkreisten die Hunde den schreienden Haufen. Ab und zu begann ein Bauer zu schimpfen über die ›narreten‹ Buben und ihren ›Unfürm‹. Doch der scheltende Ärger der wenigen, die ›verstandsam‹ blieben und von dieser bedenklichen › Gaudi‹ nichts wissen wollten, ging unter im Johlen der anderen, von denen es die meisten gar nicht so ›gefährlich‹ zu meinen schienen. Sie hatten sogar für lange Stangen gesorgt, an welche dicke Bündel nasser Lumpen gebunden waren – um löschen zu können, wenn vom ›Hexenfuierl‹ ein Funke irgendwohin flöge, wohin er nicht gehörte. Das Gruseln, das sie in der Kirche empfunden, war ihnen längst aus der Haut geronnen. Dafür wirbelte der Enzian in ihren Köpfen, und jeder wollte mithalten bei der ›lustigen Hetz‹!

In mißtönigem Chorus stimmten sie, als sie den Hofraum der Altenöderin erreichten, das Hexenverslein der Kinder an:

»Zwei mal zwei macht sechs, sechs, sechs,
So viel macht's bei der Hex, Hex, Hex!«

Und während die einen sangen, machten sich die andern, von Mickei geführt, mit schreiendem Eifer an die Arbeit. Im Halbkreis um die verschlossene Haustür und an der Mauer unter den Fenstern wurde das brennende Pech aus den Pfannen gegossen, und über dem rinnenden Feuer leerten sie die gefüllten Kübel aus und warfen alles andere dazu.

Wacholder, Unrat, Kienscheite, Harz und Schwefel, alles qualmte vor Tür und Fenstern durcheinander und machte einen Dampf, daß die Kinder hustend flüchteten und daß die Hunde ihr Bellen ließen und mit eingezogenen Schweifen davonrannten.

Wie der johlende Gesang mit Geschrei und Gelächter zusammentönte, wie der blaue Schein des brennenden Schwefels und der rote Glanz des züngelnden Pechfeuers in phantastischer Verzerrung alles beleuchtete: den wirbelnden Qualm, die durcheinanderspringenden Gestalten und die Gesichter der Fleißigen, die das Feuer schürten – das gab ein Bild, als sollte hier nicht ein Teufel ausgetrieben werden, sondern als hätte der ›Leibhaftige‹ eine Schar seiner schwarz und rot gesprenkelten Kinder ausgeschickt, um eine Probe für die Walpurgisnacht zu halten.

Nach allen Seiten schickte das wachsende Pechfeuer seinen flackernden Schein in die Nacht, und immer lauter kreischte der Chorus, dem sich mit jeder Minute neue Stimmen zugesellten:

»Zwei mal zwei macht sechs, sechs, sechs,
So viel macht's bei der Hex, Hex, Hex!«

Leute, die aus der Nacht herbeirannten, begannen schon mitzusingen, noch ehe sie die Brandstelle erreichten. Den Besorgten, die in Schreck gelaufen kamen, weil sie meinten, es wäre ein Schadenfeuer ausgebrochen, schrie man mit Lachen entgegen: »Nix is! Nix! Bloß d' Häuslschusterin wird ausgschwefelt!«

Den wirren Lärm übertönte plötzlich der Zeterschrei eines Mädels: »Jesus Maria, der Tuifi!«

Aus der rauchtrüben Dunkelheit galoppierte ein seltsam ungeheuerliches Ding heraus, das unter gruselig ausgewachsenem Riesenkopf einen krummen Buckel und rennende Beine zeigte. Keuchend jagte das spukhafte Monstrum der Feuerhelle zu. Und als es in rasendem Lauf den dicht mit Menschen angefüllten Platz vor dem dampfumschlossenen Haus der Altenöderin erreichte, gab's ein lärmendes Gedräng. Die Sänger des Hexenliedes gerieten aus dem lustigen Takt, einer vergriff sich sogar im Text und johlte ganz vernünftig: »Zweimal zwei macht vier, vier, vier!« Und lachend schrien an die zwanzig Stimmen durcheinander: »Mar' und Jankerl! Da schauts, Leut! Was kommt denn da daher?«

Beim ersten Anblick wußte keiner, was es war. Fast sah es aus wie eine Kirchenkanzel, die lebendig geworden. Doch als das Ungeheuer besser in die Flackerhelle des brennenden Peches kam, löste sich das wirre Geschrei in schallendes Gelächter auf. Alle erkannten den buckligen Apostel, der auf seinem ›driedoppelten Köpfl‹ den ungefügen Bauernsessel der Jungfer Kathrin trug, mit der meterhohen, drollig geschnörkelten Lehne nach aufwärts, und über die Brust herunter zwei von den armsdicken Stuhlbeinen, die Hanspeter mit den Fäusten umklammert hielt.

»Der Züngerl-Wehdam hat sich a Paradachl mitbracht«, klang aus dem Gelächter eine Stimme her aus, »daß ihm kein Fünkerl aufs Hirnkastl fallt!«

»Freilich, ja«, ergänzte ein zweiter, »die verliebte Christenheit hat Stroh im Schober! Dös fangt leicht!«

Ein spottendes Wort gebar das andre, und so ging ein Platzregen von Hänseleien über den Hanspeter nieder, der wie versteinert stand. Nur seine Augen schienen Leben zu haben. Aus dem Schatten, den das Sitzbrett des Stuhles über sein Gesicht warf, brannte ein Blick heraus, entsetzt, verstört, wie der Blick eines Tieres, dem die Feuerhelle den zahmen Sinn verwirrte.

Einer, der diesen Blick sah, rief mit Lachen: »Paßts auf, gleich fangt er zum predigen an, er macht schon die heiligen Äugerln her!«

Dem Hanspeter schienen, wie alle Glieder, auch die Lippen versteinert. Er starrte nur immer die Leute an, starrte in die züngelnden Pechflammen, die halb schon erlöschen wollten, und starrte in den rot erleuchteten Dampf, der immer dünner qualmte und an der kleinen Hütte schon den First und das Gesims der Haustür sehen ließ.

»Buben! Wacholder her! Und Daxen!« hörte man den Staudamer-Mickei schreien. »Der Rauch laßt aus.«

Ein paar von den Burschen rannten zur nächsten Fichtenhecke und rissen die Zweige nieder.

»Die halten aber ebbes aus, die zwei im Haus da drin!« klang es lachend aus dem Gedräng. »Oder sie haben verstöpselte Nasen.«

»Aussi müssen s'!« kreischte der Staudamer-Knecht. »Wart, ich mach a Luckerl in d' Haustür, daß der Rauch besser eini kann.«

Ein Haufen Fichtenzweige wurde über die versinkenden Pechflammen geworfen, und während der johlende Chorus aufs neue begann,

»Zwei mal zwei macht sechs, sechs, sechs,
So viel macht's bei der Hex, Hex, Hex!«

und während aus dem neu entstehenden Rauch die glühenden Fichtennadeln mit Geknister aufspritzten und davonflogen, begann der Staudamer-Mickei mit einer langen Stange gegen die Haustür loszurennen, bis die Bretter krachten.

Da wurde der steinerne Peter Johannes Zdazilek lebendig. Wie Stiergebrüll, so brach ihm die Stimme aus der Kehle. »Dir lies ich ebbes für! Wart, du! Dir lies ich ebbes für!« Er sprang dem Feuer zu und schwang den schweren Bauernstuhl der Jungfer Kathrin. »Lus auf, du! Sellig sünt thie Ahrmen üm Kaißte.« Der Sessel zuckte durch die Luft. »Then irren üst thas Hümbelraich.« Mit zerschmettertem Schädel, lautlos, stürzte der Staudamer-Knecht über die glühenden Fichtenzweige.

Die zunächst gestanden, waren starr und sprachlos. Nur ein einziger Schrei der Angst. Ihn erstickte das Gelächter der anderen, die entfernter standen und nicht wußten, was geschehen war. Sie sahen nichts in dem Gewirbel von Rauch, hörten nur die keuchende Stimme: »Sellig sünt die Sampftmittigen.« Und da kreischte mit Lachen ein Mädel: »Lusts auf! Der Ratzenspeckl predigt. Heiliger Liebeinand, erlöse uns!«

Der Sessel fiel, und ein Bursch, der Fichtenzweige ins Feuer geworfen, kollerte über die Erde hin – ein Erlöster.

Ersticktes Geschrei, ein wirres Flüchten, und noch immer hörte man Gelächter.

Hanspeter schwang den Stuhl und predigte mit seiner verwandelten Stimme: »Sellig sünt thie Trauernten.«

Ein paar Mutige sprangen auf ihn zu und klammerten sich an seinen Leib, an seine Arme. Wie ein Bär die Hunde, schüttelte er sie ab und keuchte: »Sellig, thie nach Gerächtiggaid hungern unt thirsten.« Der Sessel fiel. »Sü sohlen gesättigt wärden!«

Mit entzweigeschlagener Schulter taumelte ein Bursch zu Boden und schrie in seinem Schmerz.

Da war das letzte Lachen erloschen. Wirres Angstgezeter, sinnloses Davonrennen. Einer warf den anderen über den Haufen, alle Hecken durchbrachen sie und drückten die Bretterplanken nieder. Dazu ein Geschrei, als hätte hinter den Flüchtenden die Erde sich aufgetan und einen Teufel ausgespien, einen wirklichen.

Beim Schein des Feuers, das sich seltsam zu erhellen begann, stand Hanspeter einsam inmitten des Hofes und schwang den Sessel.

»Sellig thie Barmhärtzigen.«

Er schlug in die Luft, als hätte die Raserei, die ihn befallen, den sehenden Blick seiner Augen erstickt.

Das Geschrei der Fliehenden schien plötzlich stillzustehen, wurde anders und näherte sich wieder. In kreischendem Haufen kam's die Straße einher, gaukelnde Prügel sah man, und sah in der wachsenden Helle ein Gefunkel wie von messingbeschlagenen Helmen und blanken Säbeln.

Hanspeter, der bei dem Streich ins Leere halb zu Boden getaumelt war, hatte sich aufgerichtet und schwang den Sessel wieder. Seine brennenden Augen suchten. Da sah er noch einen stehen, groß und schwarz. »Sellig, thie rainen Härtzens sünt.« Er schlug. Der Schwarze stand noch immer aufrecht. Doch am Sessel war die Lehne in Stücke geborsten. »Sellig thie Frittfertigen.« Er schlug. Und das plumpe Sitzbrett ging in Scherben, die armsdicken Sesselbeine zersplitterten in seinen Fäusten. »Nieder mußt!« keuchte Hanspeter, dem der Schaum vor den Lippen stand, und griff mit den Fäusten zu. Was sie würgten, war kein lebender Hals, sondern hartes und totes Holz: die plumpe Säule des niedergedrückten Bretterzaunes.

Da schien er aus seinem rasenden Irrsinn zu erwachen und ließ die Arme fallen. Er starrte die Menschen an, die schreiend und doch mit Vorsicht gegen ihn anrückten, und stierte dem Waldhofer ins Gesicht, der entsetzt die Hände ineinanderschlug: »Peterl! Mensch! Was bist denn du für einer!«

Hanspeter schien nicht zu begreifen, was die beiden Gendarmen von ihm wollten, die ihn bei den Armen faßten und etwas Kaltes um seine Handgelenke wickelten. Er starrte umher und sah drei Stumme liegen und einen Stöhnenden, den jammernde Leute von der Erde hoben. Und hinter dem versinkenden Qualm, den die grünen Fichtenzweige machten, sah er am Häuschen der Altenöderin die Haustür in roter Glut und das Schindeldach in Flammen. »Ilsabeth!« schrie er auf, wie ein Erwachender. Eine zuckende Bewegung seiner Arme, und die eiserne Kette an seinen Handgelenken sprang mit zerrissenen Gliedern auseinander.

Wüstes Geschrei erhob sich. Einer der beiden Gendarmen war auf die Seite getaumelt, der andere schlug mit dem blanken Säbel zu; doch der bretterdicke Loden von Hanspeters Joppe hielt aus wie ein stahlgeflochtener Panzer. Und zu einem zweiten Säbelstreich blieb keine Zeit mehr. Hanspeter war schon gegen das brennende Haus gesprungen. Unter dem Schlag seiner Fäuste krachte die glostende Haustür entzwei. Im Gewirbel des Rauches verschwand er. »Ilsabeth! Nannimai!« hörte man ihn schreien. Zerschlagene Scheinen klirrten, und an einem Fenster flogen die Läden auf. »Ilsabeth! Nannimai!« klang es dumpfer, als wär's in einer anderen Stube. Wieder hörte man das Klirren zerschmetterten Glases. »Ilsabeth! Nannimai!« Dann war's unter dem brennenden Dach eine Weile still. Im raucherfüllten Hausflur sahen sie den Hanspeter wieder auftauchen. Hustend trat er über die Schwelle heraus, ganz langsam, den Rücken gekrümmt, mit baumelnden Fäusten.

Das wirre Geschrei, das ihm entgegenscholl, machte ihn aufblicken. Ruhig sah er die kreischenden Menschen an, nickte zufrieden vor sich hin und lachte, so daß die Leute meinten, er hätte sein letztes Fünklein Verstand verloren. Brave Menschen erschlagen und lachen dazu, das kann doch keiner, der bei Vernunft ist.

Die blanken Säbel zum Stich erhoben, traten die beiden Gendarmen auf ihn zu. Der Führer sagte mit etwas unsicherer Stimme: »Peter Johannes Z –« das brachte er nicht gleich heraus, »Zidazilek – im Namen des Gesetzes, ergeben Sie sich der Staatsgewalt!«

Gutwillig bot ihnen Hanspeter die Hände hin. »Ah ja! Der Parigraffi. Ja ja, versteh schon. Hat er halt wieder a bißl Plag mit mir, der Herr Adnotti! Gelt?«

Sie merkten gleich: das ist ein Mensch, der sich nimmer wehrt. Da brauchten sie auch keine eiserne Kette mehr. Am Joppenärmel ließ er sich davonführen.

Jetzt wollte der lärmende Schwarm mit Geschrei über ihn herfallen wie Dohlen über ein halb verendetes Wild, das sich nimmer rühren kann. Die Gendarmen hatten Arbeit, um ihren Häftling gegen die ›kochende Volkswut‹ zu schützen. Einer von den Burschen, ein halbmannshoher Knirps, der dem Gendarm unterm Ellbogen durchschlüpfte, kreischte mit schrillem Tenor: »Du Mörder, du!« Dabei hob er sich auf die Fußspitzen und schlug den Peter Johannes Zdazilek auf die Wange.

Hanspeter empfing den Schlag und lächelte. Aber ein anderer geriet in schäumende Wut. Der Waldhofer. Der faßte den Burschen am Kragen, schleuderte ihn zurück und schrie: »Malefizbuben, gottverdammte! Schlagts enk selber ins Gsicht, und 's richtige Fleckl kunnt troffen sein!«

Man führte den buckligen Apostel davon, der von einem Hustenkrampf befallen wurde, als hätte er noch immer den Rauch in der Kehle. Ein paar Blutstropfen, mit Schaum gemischt, rannen ihm übers Kinn hinunter.

Der schreiende Haufe drängte sich hinter den Gendarmen her. Und keiner kümmerte sich um das Feuer, das wie ein bedächtiger Esser das alte, halbverfaulte Dach der kleinen Hütte langsam verzehrte.

Plötzlich übertönte eine gellende Weiberstimme den wirren Spektakel: »Jesus Maria! Unser Hausdach brennt!«

Ein Funke des unbehüteten ›Hexenfuierls‹ hatte gezündet, wo er Respekt hätte haben sollen vor dem Eigentum eines guten Christen.

Nun rannten sie in bleichem Schreck und suchten mit den Stangen, an deren Enden die nassen Lumpen hingen, das Feuer auf dem Schindeldach des Nachbarhauses zu ersticken.

Sie wurden der wachsenden Flamme nicht mehr Herr.

*           *
*

Am Pfarrhof war die Haustür gesperrt, an allen Fenstern waren die neuen Läden geschlossen. Jungfer Kathrin war durch Erfahrung klug geworden. Als Roman seine Lisbeth und die Altenöderin zu Herrn Felician gebracht und als draußen das Spektakulieren begonnen hatte, war Kathrin nicht mehr auf den Einfall gekommen, ihrem hochwürdigen Herrn Überlegung und Vorsicht zu predigen; zitternd vor Angst um das Wohl ihres Pfarrhofes hatte sie sich aus der Stube gedrückt und hatte an der Haustür den Schlüssel umgedreht, war durch alle Räume gelaufen und hatte die neuen, festen Fensterläden zugezogen, wie man 's im Hochsommer zu machen pflegt, wenn eine gelbliche Hagelwolke am Himmel hängt.

So stand der Pfarrhof sicher in allen Lärm und Greuel dieser Nacht. Kaum, daß man ab und zu ein paar verschwommene Laute des fernen Spektakels hörte. Und wenn die Altenöderin aus ihrem glücklichen Staunen erwachte und Zeit zu einem sorgenden Gedanken fand, streichelte Herr Felician ihr beruhigend die Hand: »Tuts Euch net aufregen, Mutterl! Morgen is alles vorbei.«

Ein andermal sagte er: »Sollen die Buben heut nacht ihr dalkete Gaudi treiben! Morgen in der Osterpredigt nimm ich die Lackln ghörig bei die Ohrwascheln.« Dann tat er einen langen Zug aus seiner Studentenpfeife und betrachtete mit zufriedenem Schmunzeln das junge Paar, das im Schein der Lampe auf dem Sofa saß: Roman ruhig und seines Glückes sicher, Lisbeth ganz verträumt, immer ein bißchen zitternd, als hätte sie den gläubigen Mut des Glückes noch nicht gefunden. Wenn sie plötzlich die Hand des Geliebten krampfhaft umklammerte, so geschah das nicht aus Sorge oder Sehnsucht, nur dem Gleichgewicht zuliebe, das sie nicht verlieren wollte. Sie saß auf der Kante, hinter der das Sofa seine tiefe Grube hatte. Und Jungfer Kathrin schien an das Kissen nicht denken zu wollen, mit dem sie für ihren geistlichen Herrn die Sofagrube fürsorglich zu füllen pflegte.

In dem Schweigen, das eingetreten war, blies Herr Felician bläuliche Ringelchen in die Luft, so kunstvoll, daß immer das jüngste Ringlein mitten durch das ältere wirbelte. Und als er den eingesogenen Rauch verblasen hatte, strich er mit der Pfeifenspitze über die Lippen, als hätte er einen Schnurrbart beiseitezustreichen, den er nicht besaß. »Mich freut euer Glück. Das kannst du mir glauben, Roman! Aaaber? Was wird der Waldhofer sagen?«

Roman versuchte zu lächeln. Er sah seiner Lisbeth in die Augen und drückte ihr die Hand. »Wann der Vater d' Ilsabeth kennt amal, wird alles gut. Da hab ich mei' Zuversicht drauf.«

Ein Wort des buckligen Apostels! Jetzt, in dieser Stunde! Jedes in der Stube schien sich was dabei zu denken. Ein Weilchen war Stille, jenes Schweigen, von dem das Sprichwort zu sagen pflegt: jetzt geht ein Engel durch die Wände.

Roman tat einen tiefen Atemzug. »Über alls bin ich mit'm Vater noch net auf gleich. Aber ich mein' halt –«

»Roman«, fiel die Altenöderin ein, »mein Blut tät ich hergeben, kunnt ich meim Madl sein Glück dermit ins Wachsen bringen. Aber dein Vater muß einverstanden sein. Unfried stiften zwischen dir und deim Vatern –«

»Sei stad, Mutterl!« Herr Felician hielt der Altenöderin das Pfeifenrohr quer vor den Mund. »Und laß den Roman reden! Der muß heiraten, net der Waldhofer. Was hast gmeint?«

»Ich mein', daß man's dem Vater net verübeln kann, wann er sich a bißl spreizt. Verliebt is er net. Da hat er kein' Zwangsgrund. Und wie halt d' Leut amal drin sind in der Narretei, hat er Angst vor die großen Mäuler. Aber mit der Zeit kommt alls auf gleich.« Romans Augen hingen hilfesuchend an Herrn Felician. »Sie, Herr Pfarr, kunnten viel ausrichten. Beim Vater und bei die Leut. Und allweil mein' ich, es wär am besten, wann uns der Herr Pfarr gleich morgen schon 's erstmal verkünden tät. Da weiß der Vater, wie er dran is. Und d' Leut? Wann s' erfahren, daß sich der Waldhofer-Roman nix Bessers weiß, wie d' Ilsabeth? Da schlagt eh schon d' Halbscheid um und redt wieder anders. A bißl ebbes hat man schon davon, daß man der Sohn vom Burgermeister is.«

Herr Felician lachte, als begänne ihm Romans Beweisführung einzuleuchten. »Soooo? Und da müßt ich ja gleich heut in der Nacht noch 's Brautexamen halten?«

»Ja, Herr Pfarr!« Wie flink diese Antwort kam! »Und mich brauchen S' nimmer fragen, ich kann mein' Katechism, dös wissen S'!«

»Aaah, freilich! Und ob ich's weiß! In Gottes Namen, auf den Pontius Pilatus kommt's mir net an. Aber du, Lisbetherl?« Mit beiden Armen legte sich Herr Felician über den Tisch und sah dem Mädel in die Augen. »Wie schaut's denn mit deinem Katechismus aus? Hast ihn gern, den Roman?«

Kein Wort. Hätte Lisbeth ein ganzes Buch geredet, sie hätte nicht mehr sagen können, als mit diesem stillen Aufatmen ihres Herzens.

»Brav!« nickte Herr Felician. »Gut kannst du deinen Katechismus. Einen besseren kannst du mir nimmer aufsagen. Und so muß ich halt –«

Da ließ sich aus dem Ofenwinkel ein erregtes Räuspern hören. Jungfer Kathrin hatte sich erhoben und verließ die Stube. Es war wie eine Flucht.

Ein Weilchen sah Herr Felician die Tür an, welche die Köchin mit auffälliger Energie hinter sich geschlossen hatte. Dann erhob er sich und stellte die Pfeife in den Sofawinkel. »Tuts a bißl warten, ich komm gleich wieder.« Er trat in den Flur hinaus. »Kathrin? Was treibst du denn schon wieder?«

»Hab ich denn ebbes gsagt?« erwiderte die Köchin gereizt. »Aber weil S' schon selber davon anfangen, ich bin aus der Stuben aussi, weil ich's nimmer mit ansehen hab können, wie der hochwürdige Herr Pfarr unsern Katechism verunglimpfte.«

»Waaas?«

»Als ob S' net wüßten, was für strenge Fürschriften 's Ordinariat erlassen hat, und wie gnau man's beim Brautexami mit'm Katechismus nehmen muß.«

»Soooo? Jetzt auf amal is dir der Katechismus heilig? Geh, Kathrin, sei z'frieden! Jetzt kriegst ja deine Hochzeit im Waldhof.«

»Für die wird der Waldhofer viel spendieren!«

Herr Felician schien zu wachsen. »Ein schöner Frieden, den wir heut zur Feier der heiligen Auferstehung geschlossen haben!« Er sprach das reinste Hochdeutsch. »Aber jetzt will ich dir etwas sagen, Katharina! Ich stelle mich dahin, wo ich das Gute und Rechte sehe. Stell du dich meinetwegen mit deinem Magen auf die andere Seite! Und damit du gleich alles weißt: bis der Roman heiratet, bleiben die Altenöderin und ihr braves Mädel bei mir im Pfarrhof. Paßt dir das nicht, meine gute Katharina, dann muß ich mich eben auf meine alten Tage nach einer neuen Wirtschafterin umsehen, die meine Gäste besser respektiert als du!«

Während Kathrin sprachlos stand mit kreidebleich gespitzter Nase, wurde an der Haustür die Glocke gezogen.

»Wer ist draußen?« fragte der Pfarrer.

»Ich bin's. Machen S' auf!« Ganz gemütlich klang das, als nähme der späte Gast da draußen eine Prise, während er sprach. »Machen S' a bißl auf, ich muß Ihnen was sagen.«

Herr Felician hatte die Stimme des Gemeindedieners erkannt, wollte die Haustür öffnen und fand sie versperrt. Er drehte den Schlüssel um. Als er ins Freie trat, hörte er das ferne Geschrei und sah die Feuerröte. »Brave Buben! Liebe Leut! Nett treiben sie's in der heiligen Osternacht!« Seine Stimme zitterte, und er schloß hinter sich die Haustür, als hätte er Sorge, daß von dem Geschrei ein Laut in die Stube dringen könnte.

»Guten Abend, Herr Pfarr!« sagte der Gemeindediener in aller Ruhe. »Zum Hanspeter sollen S' kommen, mit der letzten Mahlzeit!«

»Jesus Maria! Zu wem?«

»Zum Ratzenspeckerl.«

»Is denn der Hanspeter wieder krank?«

»Jetzt ich sag, es tut ihm nix. So a bißl Nasenbluten. Und so a Lackl Mensch. Der derwartet's schon, bis er auszahlt wird für die heutige Nacht. Aber der Schandarm! Natürlich, so einer will allweil der Gscheider sein. Der Schandarm hat gmeint, der Ratzenspeckerl macht's nimmer lang. Und hat mich zu Ihnen gschickt. Ah freilich, so einer braucht noch an christlichen Trost! Hat allweil d' Lieb predigt. Und heut in der Nacht, ich dank schön! Kommen S' halt, Herr Pfarr! Der Schandarm hat gmeint, es tät a bißl pressieren.«

Erschrocken starrte Herr Felician dem ruhigen Philosophen in das dunkle Gesicht. »Schandarm? Schandarm?« Er schien den Zusammenhang dieses Wortes mit dem kranken Hanspeter nicht zu begreifen.

»No ja, bracht haben s' ihn halt. Und bei mir drüben liegt er im Grillenhäusl. Weil's der Schandarm schon haben will, kommen S' halt, Herr Pfarr! Den Mesmer hab ich schon verständigt. Der is schon in der Kirch.«

»Ach du lieber Herrgott!« stammelte Herr Felician. »Was muß denn da geschehen sein?« Ohne auf Antwort zu warten, in den Hausschuhen und barhäuptig, eilte er zur Kirche hinüber.

In der Sakristei war Licht. Und der Mesner hatte schon alles hergerichtet. »Gelten S', Hochwürden? A liebs Nachterl!« Er schürzte das weiße Chorhemd, um Herrn Felician für den christlichen Trostgang zu bekleiden.

Im gleichen Augenblick begann eine tiefe Glocke zu dröhnen. Dreizehn hastige Schläge. Das Feuerzeichen.

»Mesmer? Brennt's denn?«

»Ebbes Saubers haben s' angstift, die Buben, ja! Zwei Häuser haben gfangt.«

Von der Straße hörte man das Gerassel einer vorüberjagenden Feuerspritze. Und in das tiefe Dröhnen der Brandglocke mischte sich ein dünnes, hastiges Gebimmel. Die Stimme des Zügenglöckleins.

Herr Felician konnte nicht mehr fragen.

Der Mesner, während sein Weib und seine Tochter die beiden Glocken zogen, sagte ihm alles: was in der Kirche bei der Auferstehungsfeier geschehen war, wie es die ›Loder‹ getrieben, und daß der Hanspeter in seinem Zorn drei von ihnen kaltgemacht und einen zum Krüppel geschlagen hatte.

Als wären ihm vor Grauen alle Sinne erloschen, so stumm blieb Herr Felician. Und mechanisch, mit zitternden Händen, nahm er den Mahlkelch der Sterbenden aus dem Tabernakel.

Schweigend eilten die beiden durch die rote Nacht. Immer wieder begegneten ihnen Leute; doch keiner hörte auf das Klingelzeichen des Mesners, keiner bekreuzte sich und kniete nieder, alle rannten schreiend zur Brandstätte, jeder hatte Angst vor den fliegenden Funken und bangte um sein eigenes Dach.

Vor dem Kotter – im Gemeindehaus ein Mauerloch zu ebener Erde – saß ein Gendarm auf der Schwelle. Und die Tür stand offen. Man hatte sie nicht versperren können, denn der letzte Gast des Kotters, ein fremder Vagabund, hatte das Türschloß abgeschraubt und als Andenken mitgenommen. Die Tür zu schließen, wäre auch überflüssige Vorsicht gewesen; heute barg der Kotter einen, der nicht mehr ans Davonlaufen dachte.

»Lang macht er's nimmer«, sagte der Gendarm, »der Messerstich, den er selbigsmal ins Lüngerl kriegt hat, muß wieder aufbrochen sein. Allweil kommt ihm 's Blut.«

Ob der Doktor bei ihm wäre?

Nein. Den zu holen, daran hatte niemand gedacht. Der hätte wohl auch keine Zeit jetzt für den Ratzenspeckl, meinte der Gendarm, sein Versäumnis entschuldigend. Der mußte jetzt dem Sohn des reichen Bachbauern die zerschmetterte Schulter flicken, so gut es noch ging.

Dem Pfarrer schienen die Knie schwach zu werden, als er in den Kotter trat.

Auf dem Boden stand eine Laterne. Ihr Lichtschein machte die feuchten Wände glitzern und warf von Hanspeters Kopf einen großen, finsteren Schatten auf die Mauer, gleich dem ungeheuerlichen Haupt eines Riesen, der das Gesicht zu drolligen Grimassen verzog. Diese Beweglichkeit des Schattens kam nur vom Geflacker der Kerzenflamme. Hanspeter, mit dem Arm ein wenig aufgestützt, lag ruhig auf der Stangenpritsche. An seinem Kinn, an seinem Hals und auf der Brust war etwas Schwarzes; als der Gendarm mit der Laterne näher leuchtete, war es rot.

»Peter Johannes –« stammelte Herr Felician. Der dritte Name schien ihm nicht über die Lippen zu wollen.

Kaum merklich bewegte sich Hanspeter. Das Gesicht war schon zerfallen und kalkig, in den Augen schon das Erlöschen. Langsam ließ er den brechenden Blick an Herrn Felician hinaufgleiten. Ein wenig lächelte er: »So so? Der gute Herr Pfarr! Ah ja, versteh schon.«

Mit murmelnder Stimme begann der Mesner zu beten, während Herr Felician das Mäntelchen vom Kelche nahm.

So erschüttert war der alte Herr, daß er kaum zu sprechen vermochte. »Peter Johannes!« Er beugte sich über den Sterbenden. »Was du tatest in deinem Zorn, das war die einzige Sünde deines Lebens. Sag mir, daß du sie bereust!«

Hanspeter schüttelte ruhig das ›driedoppelte Köpfl‹.

Herr Felician, dem das Wasser in den Augen flimmerte, hatte wohl nicht recht gesehen und mochte glauben, daß Hanspeter genickt hätte. Hastig sprach er die Worte der Absolution und wollte dem Sterbenden die heilige Zehrung reichen.

Da klangen angstvolle Stimmen vor dem Kotter draußen, jagende Schritte kamen näher. Und als der Gendarm mit erhobener Laterne zur Türe ging, fiel der helle Kerzenschein auf Roman und Lisbeth.

»Hanspeter!« stammelte das Mädchen und streckte die Arme. Der Anblick seines Blutes machte sie schauern. Zitternd vergrub sie das Gesicht an Romans Brust, der sie tröstete: »Geh, Schatzl mein liebs, sei stark! Geh, schau, a bißl stark mußt sein!«

Langsam richtete Hanspeter sich von der Pritsche auf. Als stünde ein Wunder vor ihm, so staunte sein Blick. Wie neu erwachendes Leben glomm es in seinen Augen. Tief grub sich ein Zug des Schmerzes in seine kalkigen Züge und löste sich wieder und wurde ein Lächeln. »Ah ja, versteh schon. Und dir, Mandi, ghört allweil 's Best. Und d' Lieb is da – d' Lieb is aussikommen – und ich hab's gstrichen.« Seine Stimme wurde Blut. Er fiel zurück, und schwer glitt seine Faust am Pfarrer hinunter bis auf den Boden. Das klang auf den Fliesen wie ein dumpfer Hammerschlag.

»Hanspeter!« Herr Felician schrie es dem Sterbenden ins Ohr: »In dir ist heilige Reu. Gott wird sich versöhnen mit dir, dein Gott, der die Liebe ist.« Er gab ihm die heilige Zehrung zwischen die Lippen.

Hanspeter schluckte – den letzten Trost zusammen mit seinem Blut. Noch einmal schlug er die Augen auf. Dann streckten sich die drei Zentner in die Länge. Und sein Tod war ein Lächeln.

Die Altenöderin kam, verstört, völlig erschöpft, und hinter ihr der Gemeindediener, der eine Prise nahm und noch immer gemütlich erzählte, ganz Philosoph.

Lisbeth war neben dem lächelnden Peter Johannes auf die Knie gefallen. Und Roman hob die erkaltende Faust des Hanspeter von den Steinen auf. »Vergeltsgott, Peterl! Für alls!«

Mutter Nannimai blieb stumm. Sie strich nur mit der Hand dem Toten über die Stirn – wie einem Kinde, das schlafen soll.

Als der Mesner klingelte und der Hochwürdige den Kotter verließ, begannen die anderen zu beten. Draußen der dröhnende Hall der Feuerglocke, und zwischen den dreizehn Schlägen immer das dünne Gebimmel.

Herr Felician trug den Mahlkelch der Sterbenden in die Kirche zurück.

Dann kam er wieder.

Der Gendarm war fortgegangen. Und während die drei betenden Stimmen aus dem Kotter klangen, rauchte der Gemeindediener unter dem roten Nachthimmel sein Pfeife. Er hätte gern mit dem Hochwürdigen einen gemütlichen Plausch begonnen. Doch Herr Felician hörte nicht. Auf der Schwelle hatte er sich an den Pfosten der Tür gelehnt und betrachtete den vom Lichtschein der Laterne umzitterten Schläfer, der still und lächelnd auf den Stangen lag: ein Mensch wie ein Berg, ein ungeheuerlicher Einfall der Natur, zu dem das Leben den Kopf geschüttelt hatte.

Herr Felician dachte zurück an jenen Morgen, an dem er das nackte, wimmernde Kind neben der toten Mutter auf den Stufen des Liebfrauenaltars gefunden hatte. Roheit und Aberglaube der Menschen waren die Lebenswecker dieses Kindes, Aberglaube und Roheit seine Totengräber. Ein hilfloses Kind der Liebe hatte sich ausgewachsen zu einem Berserker des Zornes. Sonst hatte sich nichts geändert in dieser ganzen, langen Zeit.

Mit diesem Gedanken zog Herr Felician die Rechnung seiner Lebensarbeit. Er sah den Toten an und sah hinaus in den wachsenden Feuerschein, er hörte den Schmerz der betenden Stimmen und hörte das Dröhnen der Feuerglocke. Ein schwerer Seufzer quälte seine Brust.

Dann legte er dem jungen Waldhofer die Hand auf die Schulter und sagte müd: »Dreißig Jahr lang, Roman! Dreißig Jahr lang hab ich predigt, einen Feiertag um den andern. Dreißig Jahr lang hab ich mich plagt mit die Leut. Und jetzt schau her! Soviel hab ich ausgerichtet.«

»Hochwürden! Lieber Herr Pfarr!« stammelte Roman erschrocken. Weiter wußte er nichts zu sagen. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. »Herr Pfarr! Amal, da hat mir der Hanspeter gsagt: › Schau, Mandi‹, hat er gsagt, ›a Bauer, der baut sein' Acker, und da kommt a Wolkenbruch und schlagt ihm alles zamm, und reißt den besten Boden davon und d' Saat und alles! Muß er halt wieder bauen, a bißl ebbes wachst noch allweil, ja!‹ So hat er gsagt, der Hanspeter.«

Herr Felician hob das Gesicht und sah in das rötliche Zwielicht des Kotters.

Der Philosoph mit dem qualmenden Pfeifl kam näher und lachte gemütlich. »Tun S' Ihnen 's Leberl net beschweren, Herr Pfarr! Lassen S' Fünfe grad sein! Da kommt einer am besten durch. D' Welt, sag ich halt, is wie mein Pfeifl. Alls wird nachanander hergraucht, die guten Blattln wie die schlechten. Gibt alls den gleichen Rauch. Bloß schmeckt er a bißl anders.«

Herr Felician nickte. Aber das war nicht die Antwort auf die Philosophie der Tabakspfeife. Der Pfarrer hatte diese Weisheit gar nicht gehört, hatte nur immer auf den stillen Schläfer hingesehen. Jetzt nahm er den jungen Waldhofer bei der Hand. »Schau den Hanspeter an, Roman! Still liegt er da, und kalt. Und noch allweil tut er predigen.«

Da kam die Jungfer Kathrin gelaufen, atemlos, mit einem großen Pack auf den Armen. Aus Sorge, daß sich der Hochwürdige verkühlen könnte in dieser bösen Nacht, hatte sie alles für ihn herbeigeschleppt: seine schweren Stiefel, seinen Hut, einen wollenen Schlips und einen Mantel.

»Nur die Stiefel brauch ich«, sagte Herr Felician, »das ander kannst wieder heimtragen!« Er schleuderte den Hausschuh vom rechten Fuß und fuhr in die schwarze Röhre. »Komm, Roman! Es brennt. Arme Leut in Not, tät der Hanspeter sagen. Da müssen wir löschen helfen.« Hastig schlüpfte er in den zweiten Stiefel. Und als er auf den festen Sohlen stand, schien er auch das Gleichgewicht seiner Seele wieder gefunden zu haben. »Komm, Bub! Und die andern! Alle müßts mit! Und beim Wassertragen fallt mir schon 's richtige Wörtl ein für meine Osterpredigt morgen.« Er fing zu laufen an.

Roman und Lisbeth hinter ihm her. Hand in Hand. Dann die Jungfer Kathrin, mit dem Pack der überflüssigen Kleidungsstücke, immer wimmernd: »Herr Pfarr, Sie verkühlen Ihnen! Jesus Maria, den Mantel nehmen S' um! Herr Pfarr, Sie kriegen den Rheumatisi!« Und weil Herr Felician nicht hören wollte, schalt die Köchin in Zorn und Tränen: »Da gib ich's auf! Der wird seiner Lebtag nimmer gscheid.«

Die Altenöderin war bei dem lächelnden Peter Johannes zurückgeblieben.

Ihm zu Füßen saß sie auf der Stangenpritsche. Ihre Hände hielt sie im Schoß gefaltet; sie betete nicht, sah nur immer sein ruhiges Lächeln an, als möchte sie das lernen von ihm – für den einsamen Rest ihres Lebens.

In der Laterne war die Kerze niedergebrannt, und zuckend erlosch das bläuliche Flämmchen. Nun warf die rote Nacht ihren Schein in die Finsternis des Kotters. Und manchmal flogen ein paar kleine Funken an der Tür vorüber. Die kamen nicht von der fernen Brandstätte. Es waren Funken aus der Pfeifenglut des schmauchenden Philosophen, der die anderen löschen ließ und unter der eigenen Nase das wärmende ›Fuierl‹ schön gemütlich in Brand erhielt.


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