Ludwig Ganghofer
Der Dorfapostel
Ludwig Ganghofer

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Zweites Kapitel

Einem ausgetretenen Schneeweg folgend, erreichte Roman den Waldsaum des Berges.

Das ist so Bauernart: bevor sie in den Wald treten, sich umzusehen. Und Roman machte es ebenso – nicht, weil er bald ein Bauer werden sollte, sondern weil es ihm die Augen hinzog, wo seine Julei wohnte. Doch ein hoher Schneedamm verdeckte ihm die Aussicht nach dem Staudamerhof. Dafür sah er das Dach des eigenen Hauses groß und stattlich hervorragen über die anderen weißen Dächer des Dorfes. Mit zufriedenem Lächeln ließ er den Blick vom hohen Giebel des Waldhofes über die hundert anderen Dächer gleiten, als möchte er unter ihnen zum Vergleich das kleinste suchen. Ganz draußen am Ende des Dorfes lag es im Schnee, winzig, wie ein weißer Maulwurfshaufen: das Dach der Häuslschusterin, von der die sanfte Julei so fest und heilig glaubte, daß sie eine Hexe wäre.

Aus dem Schornstein, der sich inmitten des weißen Daches ausnahm wie ein schwarzer Punkt, kräuselte sich ein blauer Rauchfaden in die klare Abendluft. Das sah der junge Waldhofer. Und er lachte. »Der Rauchfang, scheint mir, hat schon wieder sein richtigen Zug.« Eine Furche grub sich in seine Stirn, als wäre in ihm von neuem der Unmut über den grausamen Streich erwacht, den die Burschen in der Lichtmeßnacht dem armen Weibl gespielt hatten. Und dann machten seine Gedanken einen Sprung: »Dös muß ich noch aussireden aus ihrem lieben Köpfl: an söllene Sachen glauben! Und über so was lachen können!« Aufatmend wandte er sich, um in den Wald zu treten. Da hörte er ein Geräusch wie von brechenden Ästen. Ein Stück Wild, das der Hunger schon vor Abend in die Nähe der Häuser trieb? Aber nein. Das war ein Laut, als würden frierende Hände gegeneinander geschlagen. Und bald darauf, etwa hundert Schritte entfernt, trat ein junges Mädel aus dem Wald, bis an die Knie im Schnee, auf dem Kopf ein großes Reisigbündel, das zu schwer für ihre Kräfte schien.

Roman lächelte. »Schau nur! An die Alte denk ich grad, und da kommt die Junge daher!«

Sie wollte den Pfad gewinnen. Doch als sie den Burschen stehen sah, wandte sie sich nach der anderen Seite, als wäre ihr von allen Wegen ein einsamer der liebste.

Es war ein schmächtiges Ding, ärmlich gekleidet. Unter dem Reisigbündel hatte sich ihr Haar gelöst und lag wie eine schwarze Welle auf ihrem schmalen Rücken.

Ein Schneedamm versperrte ihr den Weg. Sie wollte ihn übersteigen und versank bis an die Brust.

»He? Madl? Soll ich dir a bißl helfen?«

Wegen des Reisigbündels konnte sie wohl das Gesicht nicht wenden; sie machte nur mit der Hand eine ablehnende Bewegung. Als hätte das Angebot seiner Hilfe ihre Kräfte verdoppelt, so arbeitete sie sich aus dem Schnee heraus, überstieg den Damm und sprang in einen Hohlweg hinunter, in dem sie völlig verschwand.

»Die? Und a Hex? Wann s' hexen könnt, die tät sich a Klafter Holz hinhexen vor ihr Häusl. Und tät net im Schnee umanandfrieren und Armeleutholz klauben!« Roman trat in den Wald. Eine Weile schritt er unter den stillen, weiß behangenen Bäumen hin. Dabei kreuzte er die ›Hexenspur‹. »A Füßerl hat s' wie a Kindl!« Dann kam auch er zu dem Hohlweg. Bevor er hinuntersprang, blieb er lange stehen und lauschte bergaufwärts. Im höheren Walde war alles still. Nun ließ er sich hinabgleiten in die Gasse, die zwischen mannshohen Schneewällen von den schweren Holzschlitten eisglatt ausgefahren war. Während des Aufstieges lauschte er immer wieder. Er mochte sich denken, daß es eine unbehagliche Begegnung wäre, wenn jetzt von den Hornschlitten einer daherkäme, schwer mit Scheiten beladen, in sausender Fahrt, bei der es kein Parieren gibt. Und links und rechts die vereisten Schneedämme – kaum ein Ausweichen möglich!

Aber es fing schon zu dämmern an; da kam wohl von den Schlitten keiner mehr zu Tal gefahren.

Noch eine Stunde mußte Roman steigen, bis er den Holzschlag erreichte, auf dem die Knechte seines Vaters in Arbeit standen. Und da war es schon dunkle, stille Nacht geworden. Kein Laut im Wald und auf der weiten Rodung. Nur manchmal das leise Klatschen eines fallenden Schneeklumpens. Dunkelheit, doch keine Finsternis. Alles übergraut vom Zwielicht des Schnees. Nur der Himmel schwarz, und seine Sterne groß und funkelnd.

Bei langsamem Schreiten auf ebenem Pfade blickte Roman immer hinauf zu diesen flimmernden Lichtern; doch er sah nichts anderes als sein Glück, das runde Unschuldsgesichtchen seiner Julei und ein spitzes, rosig gekräuseltes Mäulchen.

Gedämpfte Stimmen, die zu einem Jodler leidlich zusammenklangen, weckten ihn aus seinen Gedanken. Ein paar hundert Gänge vor ihm lag die große Holzerhütte; sie stand im Zwielicht wie ein mächtiger schwarzer Klotz, umzittert von dem Feuerschein, der aus den Lücken des Schindeldaches und aus der offenen Tür quoll. Auf hundert Schritte spurte Roman den Schmalzgeruch, der von den Kochstätten der Holzknechte kam.

Neben der Tür, auf niederer Holzbank, saß einer, still und ruhig, von der dunklen Balkenmauer mit schwarzem Umriß abgehoben, groß und breit und ungeschlacht, wie Menschen aussehen, die man durch eine Glaskugel betrachtet.

»Guten Abend, Hanspeter!«

»Gottslieben Gruß!«

Dieser Riese von einem Menschen hatte eine Stimme, so klein und weich wie die Stimme eines halbwüchsigen Knaben. Und langsam sprach er und machte es mit den Worten auf seiner Zunge, wie's der Bauer auf dem Zahltisch mit den Goldstücken macht, bevor er sie hinlegt.

»Warum bist net drin in der Holzerstub?« fragte Roman.

»Die reden allweil so. Weißt es ja! Und dös gfallt mir net.«

»Aber was treibst denn da heraußen?«

»A bisserl lesen halt, im Himmelsbuch. Ja. Und da hab ich mir denkt, was d' Stern eigentlich sein kunnten?«

Roman lachte. »Dös mußt doch wissen von der Schul her. Weltkörper sind s' halt, wie unser Erdball.«

Der dunkle Klumpen schüttelte den Kopf. »So sagen d' Leut. Aber ich glaub's net. Laßt der Herrgott 's kleinste Steinl fallen, so tät er so schwere Körpeder auch net droben lassen. Der bleibt sich allweil gleich. D' Stern müssen ebbes anders sein.«

»Und was denn?«

»Schau, Mandi«, Hanspeter hob langsam den Arm mit weisendem Finger, »viel Leut sind gut, aber diemal einer is schlecht. Da muß sich der liebe Herrgott in seiner Güt der sündigen Seel erbarmen und muß ihr in der Nacht, wann 's Gwissen net schlaft, a bisserl zeigen, wie's ausschaut im Himmel. Drum denk ich mir allweil, d' Stern sind kleine Luckerln im Himmelsboden. Und da laßt er den himmlischen Glanz a wengerl aussispitzen! Darfst es bloß anschauen, d' Sterndln, und da mußt ja glauben!«

Roman blickte zu den funkelnden Lichtern auf, und als hätte ihn der Ernst dieser linden Stimme gefangen genommen, sagte er verträumt: »Wenn man s' anschaut, wie lieb als s' glanzen, hast recht, da kunnt man schier so ebbes denken.«

Sie schwiegen, und ihre Blicke hingen dort oben in der grenzenlosen Nacht.

Unter dem Dach der Hütte schwatzten die Knechte lärmend durcheinander; dazu hörte man das Krachen der brennenden Scheite und das Geklapper der eisernen Pfannen.

Roman begann die Kälte der Nacht zu spüren. »Geh, komm in d' Stuben, heut macht's frisch!«

»Mich tut net frieren. Wann ich ebbes denken muß, dös macht mir allweil so viel warm.«

Jetzt lachte Roman. »Dös wär was für die armen Leut. Die müssen gwiß viel sinnieren, wie s' ihr bißl Leben fortbringen. Und tät ihnen 's Denken warm machen, so kunnten sie 's Holz für'n Ofen sparen.« Er trat in die Hütte.

Neben der großen Holzerstube lag eine kleine, mit Brettern verschalte Kammer; hier pflegte der Waldhofer, oder sein Sohn, wenn sie Nachschau hielten, zu nächtigen; ein enges Gelaß, wenig über mannshoch, mit einem kleinen Kochherd, einem Pritschenbett, einem Tisch und zwei Stühlen. Roman zündete die Petroleumlampe an und heizte den Ofen, um sein Nachtmahl zu kochen. Da fiel ihm der Auftrag des Pfarrers ein.

»Hanspeter!«

Schwere Schritte, die alles Gerät der Stube zittern machten. Hanspeter trat in die Türe. Dabei mußte er sich bücken, tief. Und auch in der Stube konnte er nicht völlig aufrecht stehen, wenn er mit dem Scheitel nicht an die Decke stoßen wollte. Gut um einen Kopf war er größer als Roman, der doch auch von den hochgewachsenen Burschen einer war. Und diese Brust, wie eine Tonne, diese mächtigen Schultern, diese klobigen Arme, die an den Fäusten zu tragen schienen wie an schweren Gewichten! Alles übermenschlich, doch alles auch unförmig und ungeschlacht, im Übermaß ein bißchen komisch. Und wie die Gestalt, so das Gesicht: breit und hartknochig, völlig bartlos, mit grobgebauter, niedriger Stirne, die Nase aufgestülpt und flachgedrückt, die Ohren abstehend und das struppige Haar von schmalzigem Braun. Dazu noch – obwohl der Hanspeter nur um ein Jahr älter war als der junge Waldhofer – etwas Greisenhaftes in allen Zügen. Den abstoßenden Eindruck dieses Gesichtes konnten die blau versunkenen Augen mit ihrem ruhig strahlenden Feuer und der stille, lind gezeichnete Mund nur wenig abschwächen. Es war von den unglückseligen Mannsgesichtern eines, die geschaffen sind, um die Weiber lachen zu machen. Auch die Häßlichste ist noch zu unbescheiden, um mit solch einem Gesicht vorlieb zu nehmen.

Und sonderlich viel auf seinen äußeren Menschen schien der Hanspeter auch nicht zu halten. Freilich, er war in seinem Arbeitskleid. Aber er hatte doch einen schönen Lohn und hätte sich ein besseres Zeug schaffen können, als diesen verwaschenen Zwilchkittel, der einmal blau gewesen, dieses grobe Rupfenhemd und diese ungeheuerliche, aus einer grauen Pferdedecke geschnittene Hose, die ihm rückwärts hinunterhing wie ein Aschensack. Ihre Schäfte reichten ihm nur bis zu den Knöcheln, und die Füße staken in klotzigen, schwer mit Eisen beschlagenen Holzschuhen – Schuhe, von denen ein Volkswort sagt: sie lassen den Menschen nicht umfallen.

»Was willst denn, Mandi?« fragte er mit seiner linden, langsamen Stimme. Und weil er in der Stube nicht aufrecht stehen konnte, ging er auf einen Sessel zu und ließ sich nieder.

»Den Herrn Pfarr hab ich troffen.« Roman unterbrach sich; jetzt beim Lichtschein sah er, daß dem Hanspeter eine blutige Schramme über die Wange lief. »Was is dir denn gschehen?«

»Mir? Nix.«

»Aber bist doch voller Blut im Gsicht!«

»Mein, dös bisserl!« Hanspeter griff nach seiner Wange. Um die Hand zu bewegen, hob er zuerst den Ellbogen, als hätte er für das Gewicht seiner Faust einen Hebel nötig. »Weißt, a wengerl gstritten haben s' halt wieder, die narrischen Buben. Ich hab ihnen zugredt, ja, sie sollten gut sein mitanander. So viel schön war 's Leben, wann d' Menschen in Fried anand gern haben täten. No ja, und da is mir halt einer a wengerl ins Gsicht einigfahren. Hab's gar net gspürt. Aber hast mir net vom Herrn Pfarr ebbes sagen wollen?«

»Ghört hat er, was am letzten Sonntag im Wirtshaus gschehen is.«

»So so?« Hanspeter lächelte. »Da hat's halt a bißl Zureden braucht, 's hat sein müssen!«

»No, und da laßt dir der Herr Pfarr sagen, übermorgen am Sonntag sollst zu ihm in Pfarrhof kommen!«

»So so? No ja! Zu dem geh ich allweil gern. Von dem hab ich noch allweil ebbes glernt. Und so viel Geduld tut er haben mit mir, im Beichtstuhl. Da brauch ich so viel lang, bis ich mich bsunnen hab auf alls.«

»Geh, du!« Roman lachte. »Deine Sünden, die trag ich am Nasenspitzl davon.«

»Sag so was net!« Hanspeter sah ernst zu Roman auf. »A jeder kunnt besser sein, als er is! Bloß an einziger is ganz gut gwesen: unser lieber Herr Jesus. Dem müssen wir's nachmachen. Liebet einander, hat er gsagt. Und solang d' Lieb net in die Leut drin is, wie 's Blut in der Herzkammer, solang darf keiner von ihm selber sagen: ich bin gut und sündenfrei.«

Roman schwieg; er wußte aus Erfahrung, daß jede Widerrede gefährlich war; da fand der Hanspeter mit seinem Evangelium kein Ende mehr.

So blieb es ein Weilchen still in der Kammer. Roman setzte Wasser zum Feuer und legte das Rauchfleisch ein, das er sich zum Nachtmahl mitgebracht hatte. Plötzlich fragte er: »Hast von dem Bubenstreich schon ghört, den s' der Häuslschusterin gspielt haben?«

Hanspeter antwortete nicht gleich. »Ja, ja, hab ghört davon. Hab ja dem armen Weibl den Rauchfang wieder in Ordnung bracht. Und schau«, seine Stimme zitterte, »da hast jetzt gleich an Exemplibeispiel, daß ich noch lang von die Guten keiner bin. Wer richtig gut is, soll die gleiche Lieb haben für Feind und Freund.«

»Dös is a bißl viel verlangt.«

»Freilich, ja, ich merk's an mir. Auf die Buben, die dem lieben Weibl so mitgespielt haben, bin ich so viel harb. Die kunnt ich schiergar a bißl verdreschen!« Er streckte die Fäuste vor sich hin.

»Wann ich wüßt, wer's gwesen is, den tat ich mir selber kaufen. So was gfallt mir net.«

»Gelt, ja!« Aus diesen Worten klang ein Eifer, der dem Hanspeter ganz aus der ruhigen Art schlug. »Söllene Boshäftigkeiten sollt man keim Menschen net antun. Und gar der Nannimai!« Er meinte die Häuslschusterin, die Annamaria hieß. »Denn die Nannimai, die kenn ich, weißt! Die mag ich leiden, ja!«

»Dös brauchst mir nimmer sagen, Peterl!« Roman hatte sein Pfeifl angezündet, setzte sich auf das Pritschenbett und ließ die Füße baumeln. »Hockst ja die ganzen Feiertäg drunten bei ihr, tust ihr die grobe Arbeit im Haus, und diemal a Markstückl wird wohl auch in ihr Schubladl schlupfen, gelt?«

»Na, du! Na! Dös is net wahr. Aber gwiß net!« Hanspeter wurde verlegen. Das sah drollig aus: dieser Riese, und schamrot wie ein Kind! »Die Nannimai nehmet kein' Pfennig net an. Dös därfst mir glauben! Aber daß ich dir's ehrlich sag: diemal laß ich ihr a bißl ebbes verdienen, ja! Denn d' Nannimai, sag ich dir, wird wohl 's bravste Weibl sein auf der ganzen Welt. Und ihr Ilsabeth 's liebste Kindl. Ja, du, dös därfst mir glauben!«

»Geh, tu s' nur net gar so loben, die zwei!« Roman paffte eine Wolke vor sich hin. »Dir gelten d' Menschen allweil um d' Halbscheid mehr, als wie s' wert sind.«

»Na, Mandi! Na! Von der Ilsabeth sag ich halt so: die liebst, weil ich kein bessers Wörtl net weiß.« Hanspeter stemmte die Fäuste auf seine Knie, ließ den schweren Kopf ein wenig sinken, und langsam klang seine leise, linde Stimme: »Einer, der d' Ilsabeth kriegt amal, dem hat's der liebe Herrgott gut vermeint.«

Roman stand auf und schob dem Hanspeter mit der Faust den Kopf in die Höhe. »Peterl, Peterl! Gut meinst es ja! Aber Augen hast im Kopf, die richtigen Muckenaugen, die 's Bröserl finden, aber am Zuckerhut nimmer in d' Höh schauen. Mußt dir d' Leut schon a bißl anders betrachten, daß den Unterschied merkst auf der Welt!« Er ging zum Herd. »Am Sonntag schau dir mei' Julerl an! Die is der Zuckerhut. Der wiegt alle Bröserln auf.«

Jetzt schien der Hanspeter zu merken, daß er dem Roman mit dem Lob einer anderen ans Herz und an den Stolz gegriffen hatte. Darüber erschrak er und stotterte: »Die Julei? Ja, ja, hast recht! Tu mir's halt net verübeln, gelt! Die Julei, ja! Gegen die steht gar nix auf. Müßt sonst die deinig net sein. Allweil 's beste, dös muß dir ghören! Und die Julei, Ja! Is so viel lieb! Und so viel gern haben tust es, gelt? Gegen d' Julei kann man gar nix sagen. Aber –« Er fuhr sich mit der schweren Hand über die Stirne. Drüben in der Holzerstube war's ruhiger geworden. Nur ein paar von den Knechten schwatzten noch; die anderen lagen schon im Heu. Hanspeter stand auf. »Muß ich mir halt a bißl ebbes kochen jetzt!«

»Noch gar net gessen hast?«

»Mein, die andern, die brauchen so viel Platz am Herd. Wann die andern ihr Sach haben, is allweil noch Zeit für mich.« Er war schon bei der Türe. Nun kam er zurück und sah dem Roman in die Augen. »Gelt, Mandi? Net daß dir denkst, ich hätt gegen d' Julei ebbes sagen mögen?«

»Na na! Und gut Nacht, Peterl!«

»Gottsliebe Nacht!«

Alles Gerät in der Stube zitterte wieder, als Hanspeter zur Tür hinausging.

Roman ließ sich sein Nachtmahl schmecken. Dann blieb er mit der Pfeife noch ein halbes Stündl neben dem schwelenden Ofen sitzen. Wovon er träumte, das verriet der Glanz seiner Augen. Ein Liedchen summend, löschte er die Lampe und streckte sich zum Schlaf des Glücklichen nieder, der noch fester und süßer ist als der Schlaf des Gerechten.

Am Morgen fing der Spektakel in der Herdstube wieder an. Erst wurde der Magen gepflastert, und dann ging's hinaus zur Arbeit. Die Beilschläge widerhallten im Wald, die Sägen knirschten, und das Krachen der stürzenden Bäume dröhnte über den verschneiten Berghang.

Roman ging mit dem Notizbuch und mit dem Stempelhammer von Block zu Block, von einer Klafter zur anderen. In dem Wust von Ästen, der die Rodung bedeckte, hätte er üblen Weg gehabt. Aber Hanspeter, der mit der Meterlatte die Arbeit als ›Meßmann‹ tat, ging vor ihm her, und wo er hintrat, brachen die Äste glatt in den Schnee. So hatte Roman hinter ihm den besten Pfad.

Weil es Samstag war, bekamen die Holzknechte schon um drei Uhr Feierabend. Da gab's nach der Arbeit eine lustige Talfahrt. Immer zwei von den Knechten luden eine Klafter Scheitholz auf ihren Hornschlitten. Der eine nahm als Schlittenlenker seinen Platz zwischen den aufgebogenen Kufen, der andere setzte sich als Passagier auf die Ladung. Und so jagte ein Schlitten um den anderen durch die ausgefahrene Schneegasse ins Tal hinunter. Jede solche Fahrt, wenn auch ein paar schwere Scheite als Bremshölzer hinter den Schlitten gehängt wurden, war ein übermütiges Spiel mit dem Leben der beiden Menschen, die auf dem Schlitten saßen. Ein Glück, daß Unkraut nicht leicht verdirbt, wie das Sprichwort sagt. Sonst müßte an solchem Schlittenweg ein Martertäfelchen neben dem andern stehen.

Nachdem der letzte Schlitten der Knechte davongefahren, hatten Roman und Hanspeter noch eine Stunde zu schaffen, bis sie mit dem Aufschreiben und Messen der Wochenarbeit fertig wurden. Dann beluden, als es schon leicht zu dämmern anfing, auch die beiden ihren Schlitten. Roman richtete sich mit dem Wettermantel einen bequemen Sitz auf den Scheiten, und Hanspeter übernahm die Führung des Schlittens. Damit die Fahrt, wie Roman wollte, ›ein bißl Schneid‹ bekäme, banden sie kein Bremsholz an den Schlitten. Hanspeter schüttelte wohl den Kopf dazu; aber wenn Roman etwas wollte, hatte der Hanspeter keine Widerrede.

Erst war es auf sacht geneigtem Weg nur ein langsames Gleiten, bei dem sie gemütlich miteinander plaudern konnten. Doch als das steilere Gefäll begann, geriet der Schlitten in so rasende Fahrt, daß es mit dem Schwatzen ein Ende hatte. Bei dem sausenden Luftzug, der ihnen fast die Hüte von den Köpfen riß, hätte keiner mehr das Plauderwort des andern verstanden. Dazu schrillten auf dem vereisten Schnee die Kufen des Schlittens. Und ging es um eine Wendung der Gasse herum, dann spritzten die Schneeklumpen und Eissplitter auf, daß es wie Hagelwetter über den Schlitten wehte. Bei solcher Wendung mußte Hanspeter alle Kraft zusammennehmen, um durch festes Einstemmen der Ferse die Lenkung des Schlittens zu erzwingen; ein Anfahren an den Eiswall der Gasse hätte sie beide mitsamt der Ladung des Schlittens über den Damm hinausgeschleudert in den steilen Wald.

Immer abschüssiger wurde der Weg, immer jagender die Fahrt. Roman, der die Gefahr wie eine Freude empfand, die ihm das Blut in Feuer brachte, fing zu jauchzen an. Doch plötzlich erstickte ihm die Stimme – obwohl er sich rechtzeitig geduckt hatte, war er mit dem Nacken gegen einen großen, den Weg überspannenden Ast gestoßen, und der dicke Schnee, der auf ihn niederklatschte, hatte ihn fast begraben. Aber das erhöhte für ihn nur die Freude dieser Fahrt; lachend schüttelte er die Schneeklumpen von sich ab. Auch Hanspeter lachte mit; doch im nächsten Augenblick, als er glücklich den Schlitten in sausendem Schuß um eine Biegung der Gasse gesteuert hatte, schrie er auf, mit einer von Angst erwürgten Stimme: »Jesus Maria!«

Ein paar hundert Schritte tiefer, mitten im steilsten Gefäll des Hohlweges, stand ein ärmlich gekleidetes Mädel, auf dem Kopf ein schweres Reisigbündel.

»Ilsabeth! Ilsabeth!« schrie Hanspeter wie von Sinnen und machte einen verzweifelten Versuch, mit den vorgestemmten Beinen den Schlitten zu bremsen. Kaum merklich verminderte sich die jagende Fahrt. Und ein Wunder war's, daß dem Hanspeter die Knochen nicht wie Glas zersplitterten.

Im ersten Schreck stand das Mädel wie gelähmt. Dann tat sie, was Roman ihr mit gellender Stimme zuschrie: sie warf das Reisigbündel in den Weg des Schlittens und versuchte über den Wall der Hohlgasse hinaufzuklettern. Da kam ihr der Schlitten schon entgegengejagt – die Scheite, die fast den Schneewall streiften, mußten sie erfassen. »Lieber Herrgott!« keuchte Hanspeter und versuchte mit aller Kraft den Schlitten beiseitezudrücken. Aber die Kufen liefen in ausgefahrenen Geleisen, der Schlitten gehorchte nicht. Schon machte Hanspeter eine Bewegung, als möchte er seine drei Zentner als Wegsperre vor die Kufen werfen. Da spürte er hinter seinem Rücken die Knie des Roman und hörte ihn schreien: »Fest, Peter! Stemm dich an gegen meiner, was kannst!«

Das tat der Hanspeter, ohne lang zu denken. Was der Roman sagt, das tut man. Und so staken zwischen den Scheiten und Hanspeters Rücken die Knie des Roman eingezwängt wie in einem Schraubstock. Und als der Schlitten den Sprung über das krachende Reisigbündel machte, warf Roman sich mit gestreckten Armen vor und haschte die an den Eiswall Geklammerte, bevor noch die Scheite sie berührten. Um den Augenblick nicht zu versäumen, mußte er derb mit den Fäusten zugreifen – sie stöhnte unter diesem Griff – aber da hatte er sie schon auf den Schlitten gerissen, und von ihren zitternden Armen umklammert, hielt er sie an die Brust gedrückt.

Der Schlitten schwankte nach dem Sprung, den er gemacht, und hinter den Kufen spritzten die geknickten Reisigstücke empor.

Jetzt konnte Roman wieder lachen. »Gut is's gangen! Laß laufen, Peterl!«

»Gotts Lob und Dank!« stotterte Hanspeter. Er ließ den Schlitten jagen und begann mit halblautem Gestammel ein Vaterunser zu beten.

Lachend hob Roman sich höher auf die Scheite hinauf. Und weil man zu zweit nebeneinander nicht sitzen konnte, mußte er das Mädel auf dem Schoß behalten – eine Last, die gar schwer nicht wog. Es mußte ein feines, schmächtiges Körperchen sein, das in diesen ärmlichen Kleidern stak wie ein Nußkern in der grauen Schale.

Sie hielt noch immer seinen Hals umklammert, regungslos, mit geschlossenen Augen, als wären ihr vom Schreck die Sinne erloschen. Das wollene Kopftuch war auf die Schulter geglitten, und ein dichtes Geringel schwarzer Haare umwehte das schmale, blasse Gesicht. Je länger Roman dieses Gesicht betrachtete, das die sinkende Dämmerung mit seinem Schleier umwob, desto größer staunten seine Augen. Denn daß die Häuslschusterin ein so bildhübsches Mädel hatte, das war ihm etwas völlig Neues. Erstens waren die beiden noch gar lange nicht im Dorf. Und zweitens: die Tochter der Häuslschusterin auf ihr Aussehen anzuschauen, das wäre für den Sohn des Waldhofers das allerletzte gewesen, was ihm hätte einfallen können. Auch hatte er das Mädel, seit er im Herbst aus der Kaserne heimgekommen war, nicht oft gesehen, ein paarmal auf dem Kirchgang, und gestern, als sie mit dem Klaubholz aus dem Wald gekommen.

Lächelnd blickte Roman, während der Schlitten jagte, auf das blasse Gesichtl nieder und schien es selber kaum zu wissen, daß er die Arme ein bißchen enger schloß. »Die liebste?« Da hatte der Hanspeter doch wohl übertrieben. Aber hätte er nur gesagt: ein liebes Dingerl – so hätte ihm Roman nicht widersprechen können. Ein Näsl hatte sie im Gesicht, ganz weiß und fein, wie aus Bein gedrechselt. Die Wangen schmal und dennoch lind gerundet. Durch die dünnen, schwarz befransten Lider drang es wie dunkler Schatten heraus. Dazu ein kleiner roter Mund, der jetzt dem Mund eines Kindes glich, das geweint hat.

Das lachende Gesicht des jungen Waldhofers wurde seltsam ernst. Es schlich ihm etwas ins Herz, wie tiefes Erbarmen mit der Armut, die um den kleinen roten Mund diesen leisen Zug von Trotz und Bitterkeit gezeichnet hatte. Und es kam so über ihn, daß er sie noch fester an sich drücken mußte. Und da spürte er ihre junge Brust an der seinen und fühlte, wie ihr Herz ihm entgegenpochte mit heftigen Schlägen. Dem Roman wurde schwül, er wußte nicht wie. Und sonderbar, daß ihm plötzlich seine Julei einfiel. »So, schön«, dachte er, »wenn mich die so sehen tät!«

Der Schlitten hatte schon fast das Tal erreicht und minderte auf sanfterem Gefäll seine Fahrt. Da konnte sich auch Hanspeter nach dem Mädel umsehen. »Ilsabeth? Gelt, der Roman! Der hat gholfen!«

Das Mädel regte sich nicht.

Ein wenig unwillig versuchte Roman sie aufzurichten und rüttelte sie an den Armen. »He, Lisbeth!«

Unter stockendem Atemzug schlug sie die Augen auf – große, tiefe Augen, wie Sommerkirschen so schwarz und glänzend. Und diese Augen starrten in Schreck und Angst, als sähe sie noch immer den Schlitten kommen, der hinwegjagen sollte über ihr junges Leben. Und dennoch lächelte sie ein wenig.

Roman rüttelte sie wieder. Sein Unwille schien verflogen, als er sagte: »Lisbeth! So schau doch, es is dir ja gar nix gschehen!«

Da hielt der Schlitten auf offenem Schneefeld, nahe dem Dorf, von dessen Häusern her schon die ersten Lichter durch die Dämmerung flimmerten.

Hanspeter, ein wenig hinkend, trat aus der Hörnergabel des Schlittens und hob das Mädel in den Schnee herunter. Er faßte sie an, wie man ein kostbares Ding berührt. Kein Wort sagte er, sondern strich ihr nur mit seiner schweren Hand über das schwarze Haargeringel.

Roman lachte, während er vom Schlitten sprang. »Is ja alles gut gangen!«

Eine Weile stand Lisbeth unbeweglich. Dann trat sie auf Roman zu. »Vergeltsgott!« sagte sie mit unsicherer Stimme und gab ihm die Hand – eine kleine Hand, rauh wie die Hand einer Magd. Und sie zitterte.

Er wurde verlegen und sah ihr schweigend ins Gesicht, das in der Dämmerung so weiß erschien wie der Schnee, in dem sie standen. Nur ihre dunklen Augen glänzten.

Die Hand befreiend, wandte sie sich ab. »Gut Nacht, Hanspeter!«

»Gottsliebe Nacht, Kindl! Tu mir d' Mutter grüßen, gelt!«

Sie hob das Kopftuch übers Haar und ging mit langsamen Schritten den Weg hinunter.

Roman sah ihr nach. Nun sagte er: »Komm, Peterl, schauen wir, daß wir heimkutschieren.«

Hanspeter tappte durch den Schnee auf Roman zu und quetschte ihm die Hand. »Vergeltsgott, Mandi! Heut hast gholfen wie der richtige Christenmensch.«

»Aber geh!« Roman wurde ärgerlich. »Wärst du in der Höh gsessen, so hättst du zugriffen!«

»Mach's net kleiner, Mandi! Und ich sag dir Vergeltsgott drum. Wann dem guten Kindl ebbes passiert wär, hätt mich 's Leben nimmer gfreut. Denn d' Ilsabeth, weißt –«

»Ilsabeth? Warum sagst denn allweil Ilsabeth? Sie heißt doch Lisbeth.«

»Ihr Mutter sagt Ilsabeth zu ihr. Und die Namen, die aus der Lieb kommen, sind allweil die besten.« Hanspeter nahm den Hut ab und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Aber da hat man's wieder gsehen! Menschenkraft? Is alls nix wert! Der Schlitten lauft halt. Die Denkerei is d'Hauptsach. Und da fehlt's a bißl bei mir.« Er seufzte. »Drum hat an andrer der Ilsabeth helfen dürfen.« Hinkend trat er zwischen die Hörnergabel des Schlittens und begann zu ziehen.

Sie kamen zum Waldhof. Ein zweistöckiges, langgestrecktes Bauernhaus. Die ebenerdigen Fenster waren erleuchtet. Aus den Ställen und Scheunen hörte man Stimmen und den Lärm der Arbeit.

Der Schlitten war schon in den Hof gezogen, als Roman plötzlich sagte: »Du, da fallt mir ebbes ein! Dös arme Hascherl hat ja meintwegen ihr Klaubholz verlieren müssen. Geh, schieb ihrer Mutter die Klafter nunter, die auf'm Schlitten liegt.« Und rasch, als möchte er jede Widerrede abschneiden, ging er ins Haus.

Unter der Türe trat ihm der Waldhofer entgegen, hemdärmelig trotz des kalten Winterabends; ein Graukopf, schon ein wenig gebeugt; aber man sah es den beiden auf den ersten Blick an, daß sie Vater und Sohn waren; so, wie der Alte jetzt, wird Roman in dreißig Jahren aussehen.

»Guten Abend, Bub!«

»Guten Abend, Vater! Und daß ich's gleich sag, a Klafterl Holz hab ich verschenkt.«

»Sooo?«

»An arme Leut, die 's brauchen.«

»No ja, meintwegen! Ebbes Unnötigs tust ja net.«

Sie traten ins Haus.

Drüben beim Schlitten stand noch immer der Hanspeter, das Wasser in den Augen. Dazu brauchte es nicht viel bei ihm; er hatte ›Tränenhäferln‹, die leicht überlaufen. Als er den Roman im Hausflur verschwinden sah, nickte er glücklich vor sich hin: »Dös is a Christenmensch! Wann alle so wären wie der! Da kunnt ich Feierabend machen mit'm Predigen.«

Er wollte mit dem Schlitten gleich wieder umkehren. Aber der erste Schritt erinnerte ihn an seinen hinkenden Fuß.

Durch eine der Scheunen ging er in seine Kammer und zündete ein Talglicht an. Ein winziger Raum, der völlig ausgefüllt war, als Hanspeter drinnen stand. Zwischen Kasten und Bettstatt konnte er sich kaum umdrehen. Und von den Wänden war wenig zu sehen; überall hingen kolorierte Heiligenbilder und große Baumschwämme, auf denen allerlei Spielzeug stand: winzige Figürchen, Menschen und Tiere, hölzerne Hennen mit eingesteckten Federn, kleine Kirchen und Kapellen, Sennhütten und zierliche Schweizerhäuschen mit glitzernden Glassplittern als Fenster. Und als der Hanspeter den Kasten öffnete, sah man auch hier ein ganzes Fach in peinlicher Ordnung mit solchen Spielwaren angeräumt.

Eine Weile stand er, den Tand mit scheuen Fingern berührend, fast wie in Andacht. Dann nahm er Leinwandzeug und eine kleine Flasche aus dem Kasten und machte sich an die Behandlung seines hinkenden Fußes. Als er den schweren Schuh herunterstreifte, gab's einen tüchtigen Plumps auf den Dielen. Und jetzt wurde der heiß verschwollene Knöchel mit dem Universalmittel eingerieben – mit ›Mankerlschmalz‹. Das ist Nierenfett vom Murmeltier. Das lindert jeden Schmerz und heilt alle Wunden, sagt der Bauer. Aber jedes andere Fett tut's geradeso, sagt der Doktor.

Als Hanspeter sich aufrichtete und den hinkenden Fuß probierte, meinte er überzeugt: »No also, es geht ja schon wieder! Den ersten Wehdam muß man halt überwinden, und alls is gut.« Wie an Gottes Liebe, so unerschütterlich glaubte er an das ›Mankerlschmalz‹. Und solcher Glaube wirkt Wunder.


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