Ludwig Ganghofer
Der Dorfapostel
Ludwig Ganghofer

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Fünftes Kapitel

Die Leute, die dem Hanspeter auf der Straße begegneten, sahen ihn verwundert an. Sie fragten nicht, was in der Seele dieses ›doppelten Menschen‹ trauern mochte, sie sahen nur, daß er am hellen Tag mit nassen Augen spazierenging, den Kopf gesenkt, den Hut zwischen den Händen, als ginge er in einem Leichenzug hinter der Bahre her.

Erst vor dem Häuschen der Altenöderin fiel es ihm ein, daß der Hut auf den Kopf gehört. Vor der Haustür atmete er noch schwer; doch als er in die Stube trat, klang sein Gruß so ruhig wie sonst. »Nammittag beinander!«

Die Altenöderin lächelte. »Hab mir eh denkt, daß kommst.« Sie saß mit Lisbeth am Tisch bei der Arbeit. Für die beiden gab's keinen Feiertag. Nannimai klebte ein Schweizerhäuschen zusammen, und Lisbeth leimte die kleinen, glitzernden Fensterchen an das Kirchlein, das Hanspeter am vergangenen Abend gekauft hatte.

Durch die niederen Stubenfenster fiel die Sonne schräg herein, noch zur Hälfte über den Tisch; in ihren Strahlen tanzten die Stäubchen gleich winzigen, silbrig flimmernden Insekten, und überall schimmerten die Glitzerdinge, das Rauschgold und die bunten Glasstücke, die auf dem Tisch und in den Fensternischen lagen. Dieses feine Lichtgefunkel gab der ärmlichen Stube fast etwas Märchenhaftes.

»Bei enk, da gfallt's mir so viel gut!« sagte Hanspeter und setzte sich hinter dem Tisch auf die Wandbank. Doch er legte sich nicht wie sonst mit breiten Ellbogen über die Platte, um aufmerksam jede Bewegung von Lisbeths geschickten Händen anzustaunen. Heut ließ er die Fäuste auf der Bank liegen und sah müde vor sich nieder.

Die Altenöderin, während sie bosselte und klebte, begann vom Tauwetter zu reden; und während sie vom nahen Frühling schwatzte, färbte sich ihr welkes Gesicht ein wenig. Denn der Frühling mußte ihr drei schöne Dinge bringen: er machte den hungrigen Ofen satt, Lisbeth brauchte nicht mehr Tag für Tag um's Klaubholz hinauszulaufen in den Wald, und dann wächst auch im Garten, was die Mahlzeit billiger macht. »Kannst dir denken, Peterl, wie's mich blangt auf's Frühjahr! Is allweil die beste Zeit im Jahr.« Lisbeth, als sie die Mutter vom Frühling sprechen hörte, ließ die Hände ruhen. Sie lehnte sich in den Sessel zurück, strich das krause Schwarzhaar von den Schläfen und blickte träumend in die Sonne. Wie ihr die großen, dunklen Augen glänzten bei diesem stillen Schauen und Sinnen! Die Altenöderin stieß dem Hanspeter mit der Fußspitze an den Schuh und winkte lächelnd zu ihrem Mädel hinüber. Dann fragte sie: »Kindl, was denkst dir denn?«

Wie erwachend blickte Lisbeth auf. »Weißt, Mutter, söllene Wörtln gibt's, da muß man sich allweil ebbes denken dabei. Dös is dir grad wie mit der Uhr: 's Stündl is da, und da muß der Kuckuck schreien. Und so a Wörtl is mir 's Fruhjahr. Wann ich's hör, hab ich's allweil in mir, ich weiß net, wie. Und muß mir denken, ich weiß net, was. Und in alles scheint mir d' Sonn eini wie jetzt auf'n Tisch daher.«

Mutter Nannimai nickte. »So hab ich's auch amal ghabt.« Nach einer Weile sagte sie zum Hanspeter: »Was bist denn so stad heut?«

Er sagte zu Lisbeth: »So viel schön machst mir mein Kirchl!«

Freundlich sah das Mädel zu ihm auf: »Weil's halt dein ghört, weißt!«

Hanspeter wurde rot bis über die Ohren, die wie große, hohle Hände aus seinen struppigen Haaren herausstanden. Er sagte nichts mehr. Aber je länger er saß, desto schwerer blies ihm der Atem durch die Nase.

Mutter Nannimai schien zu merken, daß im Hanspeter etwas kochte und daß er's nicht fertigbrachte, den Deckel zu lüften. Da mußte sie nachhelfen. »Geh, Kindl«, sagte sie zu Lisbeth, »mach a Sprüngl zum Kramer ummi und hol nur an frischen Leim. Der alte pickt nimmer gut.«

Lisbeth nahm ihr Kopftuch und ging. Bei der Türe wandte sie sich, als möchte sie den Hanspeter etwas fragen. Aber sie schwieg und verließ die Stube.

»Also, Peterl?« Die Altenöderin lächelte: »Was willst mir denn?«

Kleinlaut fragte er: »Hast es gmerkt, daß mich ebbes druckt?«

»Dich kenn ich, weißt!«

Seine Stimme schwankte. »Ich muß dir ebbes sagen.«

»Von dir kann ich alles hören.«

»Es is a bißl ebbes Harts.«

»'s Harte tut mir nix. Da weiß ich, wie man's nimmt. Ehnder könnt mich was Guts derschrecken. Da bin ich net gwöhnt dran.«

Hanspeter schluckte. »Schau nur, was d' Leut wieder reden jetzt! Und ich bin schuld dran!«

»Du?« Die Altenöderin lächelte.

»Ja, Mutterl, ich! Und heut in der Nacht, derweil ich die Klafter kleingemacht hab, da hab ich mir denkt, ich tu dir an Gfallen dermit.«

»Ja, Bub! Vergeltsgott drum!«

»Na, Mutterl! 's Allerdümmste hab ich dir angstellt!« Jetzt war ihm die Zunge gelöst, und da stammelte er's mit einem heißen Sturz von Worten heraus, was der Wächter in der Nacht gesehen haben wollte, und was mit Geschrei herumlief im ganzen Dorf.

Die Altenöderin sagte keine Silbe dazu. In ihrem welken Gesicht veränderte sich keine Miene; nur ihre Hände zitterten, als sie für das Dächl des Schweizerhäuschens zwei kleine Sparren ineinanderfügte. Erst nach einer Weile, während ihr Hanspeter mit Sorge auf die Lippen sah, fand sie die Sprache: »So so? Deswegen haben mich d' Leut so angschaut? Und in der Kirch! Die Kirch, ja ja, dös is grad 's richtige Platzl dazu, daß man so was umanandertragt.«

Ein wenig erleichtert atmete Hanspeter auf. »Wann du's net ärger nimmst?«

Sie schüttelte den grauen Kopf. »D' Leut müssen ihr Gaudi haben, weißt! Da muß halt eins drunter leiden, anders geht's net. Als Kinder reißen s' jedem Käferl d' Füß aus, und werden s' gwachsene Leut, so packen s' ein' auf der Straßen und fragen net lang, wer's is, und reißen ihm 's Herz aus'm Leib – weißt, damit s' a bißl was zum Lachen haben.«

»Na na, Mutterl, na!« stotterte Hanspeter erschrocken. »Da tust ihnen unrecht. Die mehresten sind gut. Oder sie könnten's sein, wenn's ihnen einer richtig weisen tät.«

»Hat's ebba net ein' geben, der's ihnen gwiesen hat?« Die Stimme der Altenöderin klang schärfer. »Hat er net Herr Jesus Christus gheißen?«

»No ja, freilich, aber weißt, dös is halt schon a bißl gar lang her! Jetzt, mein' ich, jetzt müßt's ihnen einer sagen!«

»No? Und der Pfarr is keiner? Erst heut wieder hat er predigt.«

»Und so viel schön! Aber ich weiß net, warum – dem glauben s' nix.«

»Und du?«

Hanspeter wurde rot und stammelte: »Aber geh, Mutterl, ich –«

»Sagst es ihnen net allweil? Und lachen s' dich net aus? Schimpfen s' net her hinter deiner, und heißen s' dich net den buckleten Apostel?«

Scheu wehrte Hanspeter mit beiden Händen. »Apostel? Mar' und Josef! Na, Mutterl, Apostel bin ich keiner.« Und zögernd fügte er bei: »Aber daß ich an Buckel mach, dös is wahr, da kann ich d' Leut net Lugen schimpfen.«

»Aber was d' ihnen sagst, dös hat kein Buckel. Jeds Wörtl von dir is grad und gut. Warum lusen s' denn net auf? Laß mich aus mit die Leut! Meintwegen sollen s' reden, was s' mögen! So was tröpfelt bloß und regnet net.« Sie suchte die kleinen Brettchen für das Schindeldach zusammen. »Und was mir gsagt hast, is mir nix Neues. Hex heißen s' mich lang schon. Und Hexen müssen's doch mit'm Teufel haben.«

Trocken lachte die Altenöderin vor sich hin. »Schad, daß alls an Unsinn is!«

»Schad?« Hanspeter schien dieses Wort nicht zu begreifen. »Was is schad?«

»Daß man sich dem Teufel net verschreiben kann. Dös is a Schlauer! Auf söllene Gschäft laßt er sich net ein, weil er d' Leut viel billiger haben kann. Sonst tät ich's amal probieren. Bloß daß ich wüßt, was d' Leut dazu sagen täten, wenn's wahr wär. Da müßt er mir an Haufen Geld bringen. A bißl mehr noch, als wie der Waldhofer hat. Und Hex und Teufel hin und her – da täten s' mich zum Burgermeister wählen. So sind d' Leut.«

»Mutter Nannimai!« Dem Hanspeter wollte die Stimme kaum gehorchen, und seine Augen schwammen schon wieder. »So ebbes därfst mir nimmer sagen. Net amal im Gspaß! Söllene Reden mag ich net.«

Lächelnd humpelte die Altenöderin auf ihn zu und faßte ihn bei den struppigen Haaren. »Peterl, du bist a guter Kerl! Und demtwegen wär's mir lieber, ich hätt dös traurige Gspaßl net gmacht.« Sie kehrte seufzend zu ihrem Platz zurück. »Lassen wir s' reden, d' Leut!« Lauschend hob sie das Gesicht. »Mein Kindl kommt. Sei stad! Die braucht nix z'wissen, solang's net sein muß.«

Hastige Schritte im Flur. Und Lisbeth, das Kopftuch von den Haaren zerrend, trat in die Stube. Ihr Gesicht war entstellt, als hätte sich ein Unglück ereignet.

»Kindl? Was hast denn?« fuhr es der Altenöderin in Schreck heraus.

Lisbeth kam zum Tisch. Das Kopftuch durch die zitternden Hände ziehend, sagte sie: »Mutter, ich bring kein' Leim net. Der Kramer hat gsagt, er verkauft uns nix mehr.«

Hanspeter, der nichts anderes mehr zu sehen schien als das bleiche Gesicht der Lisbeth, erhob sich schwerfällig und stemmte seine klobigen Fäuste auf die Platte, daß sich der Tisch verschob. Seine breiten Lippen wurden schmal und weiß. Die Augen funkelten, als wäre in dieser drei Zentner schweren Menschengüte plötzlich der Zorn erwacht, der in fünfundzwanzig Jahren noch niemals Raum in diesem klobigen Kopf gefunden.

Seufzend nickte ihm die Altenöderin zu. »No also, jetzt brauchen wir keine Heimlichkeiten nimmer.« Sie wandte sich zu ihrem Mädel. »So so? Nix mehr verkaufen tut er uns, der Kramer? Is halt a guter Christ, gelt ja! Der mag den Teufel net zur Kundschaft haben. Aber von die Wildschützen kauft er d' Rehgaisen! No ja, muß ich mir halt mein' Leim aus der Stadt verschreiben.«

Ratlos sah Lisbeth die Mutter an, als verstünde sie diese Ruhe nicht. Ganz erloschen klang ihre Stimme: »Mutter! Weißt denn schon, was d' Leut von uns reden?«

»Der Peterl hat mir's gsagt.« Die Altenöderin blickte zu ihrem Mädel auf. Und als sie diese verstörten Augen sah, warf sie die Hölzchen, die sie in der Hand hielt, auf den Tisch und preßte den Arm über die Stirn. Aber sie sagte nichts.

Dieses Schweigen der Mutter schien Liesbeths Erregung noch zu steigern. Wie von Sinnen klammerte sie die Hände um Hanspeters Arm: »Sag mir's, du! Därf man denn über unschuldige Leut so schieche Sachen reden? Därf unser Herrgott so ebbes zulassen? Dös mußt mir sagen, Hanspeter! Du kennst unsern Herrgott. Allweil sagst mir: du kennst ihn besser als wie die andern alle! Jetzt red! Därf er denn so ebbes zulassen, wann er gut sein und Grechtigkeit haben will? Därf er denn so viel Schlechtigkeit zulassen?«

Hanspeter nickte vor sich hin. »Meinen sollt man freilich, er därfet so viel Schlechtigkeit net zulassen!« Sein Gesicht war entfärbt. »Aber diemal laßt er Sachen zu, daß man sich nimmer auskennt, weißt! Aber laß dir sagen, Ilsabeth –« Vorsichtig, wie eine zerbrechliche Kostbarkeit, nahm er Lisbeths Hand zwischen seine Fäuste. »Bei die Menschen, schau, und wann's die gscheidesten sind, da is der Verstand a bißl knapp. Endsweit möchten s' sehen mit ihre kleinen Augen. Und allweil steht a Mäuerl da. Und keiner sieht, was hinter'm Mäuerl is. Und was unser Herrgott will – schau, Kindl, dös liegt halt allweil hinter'm Mäuerl, und keiner merkt's und keiner versteht's. Und diemal a Mensch, der möcht kamod über Land gehn und möcht schön Wetter haben. Aber was tut unser Herrgott? Er laßt an Regen fallen. Und da schimpft der Mensch. Aber der Herrgott denkt sich: soll er halt schimpfen, wird schon einsehen, daß ich recht hab, mein Regen macht 's Gras wachsen und 's Traid!« Er streichelte Lisbeths Hand, und seine Stimme wurde ruhiger. »Schau, Kindl, z'erst, wie ich dein Gsichtl so sehen hab müssen, is mir der gache Zorn aufgfahren, daß ich dreinschlagen hätt können. Aber jetzt hab ich mich wieder. Jetzt kenn ich mich wieder aus. Ich sag dir's, ich: wann unser Herrgott d' Leut söllene Sachen reden laßt, da weiß er, warum! Da hat er sein' Gottsverstand und sein' gütigen Willen dabei. Da draus, da wachst ebbes Guts. Dös därfst mir glauben. Ich sag dir's, ich!«

»Ja freilich! Du guter Kerl, du!« brummte die Altenöderin. »Täten d' Leut an den Herrgott glauben, der sein Himmel in dir drin hat, da wär freilich a guts Hausen auf der Welt!«

Mit feuchten Augen sah Lisbeth zu ihm auf. Sie sagte wohl: »Vergeltsgott, so viel lieb hast wieder gredt!« Aber seine gläubige Einfalt und sein Gottvertrauen schienen sie doch nicht über die Kränkung dieser Stunde hinwegzutrösten. Müde ging sie zur Ofenbank und drückte sich in den Winkel.

Hanspeter war ihr ein paar Schritte nachgegangen. Mitten in der Stube blieb er stehen und bewegte immer die Hände, als möchte er irgend etwas greifen. Nun wandte er sich plötzlich um und nahm seinen Hut. Das war ein Griff – wäre der Hut von Eisen gewesen, er wäre zerbrochen – aber der mürbe Filz gab nach und wurde in Hanspeters Faust zu einem formlosen Klumpen. »Pfüet dich Gott, Mutter! Gottslieben Nammittag, Kindl!«

»Peterl?« fragte die Altenöderin. »Wo willst denn hin?«

»Jetzt, Mutter, jetzt muß ebbes gschehen!« Das klang, als hätte Hanspeter eine andere Stimme bekommen. »Ob's unser Herrgott so meint oder so, jetzt muß ebbes gschehen. Der Herr Pfarr muß helfen. Und hilft der Herr Pfarr net, so weiß ich an andern, der hilft. Und der bin ich! Tu dich trösten, Ilsabeth, unser Herrgott und ich, wir zwei machen alles wieder recht.«

Auf der Schwelle vergaß er, sich zu bücken, und stieß mit der Stirne gegen den Balken der niederen Tür. Das tat einen Plumps, daß die Altenöderin trotz allem Kummer dieser Stunde lachen mußte. »Dös wird alles sein, was er hat davon, der gute Kerl!« Sie seufzte. »Geh, Kindl, sei gscheid und tu dich net kränken! 's Leben geht über d' Straßen, und die is net allweil sauber. Schau, komm her! Bei der Arbeit vergißt man alles.«

Lisbeth wollte zum Tisch. Da stieg ihr mit heißer Röte das Blut in die bleichen Wangen. »Hanspeter?« Nun schien sie erst zu merken, daß er die Stube schon verlassen hatte. »Hanspeter!« Sie lief in den Flur hinaus. »Hanspeter!«

Er war schon im Hof; als er ihre Stimme hörte, kam er mit langen Sprüngen zurück. Sein Körper füllte die Haustür, daß es im Flur ganz finster wurde. »Kindl, was magst?«

»Ich muß dich was fragen.«

»Was denn?«

Lisbeth zögerte. »Dein Roman –«

»Was willst denn vom Roman, sag?«

»Weiß der Waldhofer schon, was d' Leut von uns reden?«

»Freilich, ja, der hat mir's ja gsagt.«

»Und glaubt der Waldhofer söllene Sachen von der Mutter? Und von mir?«

»Aber!« Hanspeter mußte schlucken, bevor er sprechen konnte. »Kindl, was fallt dir denn ein? Der Roman, und so ebbes glauben!« Er fühlte, wie Lisbeth seine Hand umklammerte. »Und schau, der Roman weiß doch, wer's gwesen is in der Nacht, der 's Holz gmacht hat.«

»Bloß deswegen glaubt er's net?«

»Aber Kindl!« Dem Hanspeter schien das Antworten sauer zu werden. Und wär's im Flur nicht so finster gewesen, so hätte Lisbeth sehen müssen, wie er bald dunkelrot und bald wieder bleich wurde. »Der Roman is von die Gscheiden einer. Und von die Guten. Heut, no ja, heut hat er a bißl an Verdruß ghabt. Aber an mein Roman glaub ich, wie ich an mein' lieben Herrgott glaub. Schiergar so fest! Und den Hüterbuben, der dös dumme Leutgred beim Mittagessen daherbracht hat, den hätt er schiergar gschlagen vor lauter Zorn. An Unsinn, hat er gsagt, an Unsinn is alles. Dös hat er gsagt. Auf Ehr und Seligkeit! Na, na, Kindl, der glaubt's net! Müßt er mein Roman net sein!«

Lisbeth atmete auf. »Vergeltsgott!« Und kehrte in die Stube zurück, als wäre aller Groll dieser Stunde in ihr erloschen.

Eine Weile noch blieb Hanspeter unter der Haustür stehen und starrte in das Dunkel des Flurs hinein. Dann versuchte er dem Filzknäuel in seiner Faust mit einiger Mühe wieder die Form eines Hutes zu geben. Als er die Straße erreichte, wurde sein Gang immer schneller. Bei seinem ungefügen Körper auf dem hinkenden Fuße war das anzusehen, als müßte er mit jedem Schritt das Gleichgewicht verlieren. Dabei murmelte er immer halblaute Worte vor sich hin, wie einer, der sich eine Rede einstudiert.

Um den Pfarrhof zu erreichen, mußte er durch den Gottesacker. Während er zwischen den Gräbern hinschritt, blickte er suchend umher; seit seiner Kindheit war ihm das als Gewohnheit geblieben: mit irrendem Blick nach seiner Mutter Grab zu suchen, von dem keiner im Dorfe mehr wußte, wo es lag.

Als er an der Kirche vorüberging, rührte er mit der Hand an die Mauer, als müßte von diesen geweihten Steinen durch die Berührung etwas auf ihn überfließen, etwas Gutes und Heiliges. Bei der offenen Kirchentür bekreuzte er sich und nickte in den kalten, stillen Raum hinein, wie man einen lieben Bekannten grüßt. »Du und ich, wir zwei, wir halten zamm, gelt ja?« So schwatzte er vor sich hin. »Du haltst zu mir, und ich halt zu dir! Müßt ich net wissen, wer bist! Müßt ich mei' Heimat net haben in deim heiligen Haus!«

Das war nicht bildlich gemeint. Es war so in Wirklichkeit: der Hanspeter hatte seine Heimat in der Kirche.

Vor fünfundzwanzig Jahren und ein halbes Jährlein drüber, da war unter den fremden Weibsleuten, wie sie zur Erntezeit im Gebirg umherziehen, um sich an die Bauern zur Arbeit zu verdingen, auch ein junges, kränklich aussehendes Mädel ins Dorf gekommen. Man merkte ihr's an, daß sie keinen weiten Weg mehr bis zu ihrem schweren Stündl hatte. Drum hörte sie grobe Worte, wo sie anpochte. Aber es war Mangel an Arbeitskräften, und so nahm sie schließlich einer. Maruschka Zdazilek war ihr Name. Sie wußte nur ein paar deutsche Worte, und da die Bauern nicht böhmisch verstanden, fragte man nicht viel. Daß sie ihre Arbeit tat, genügte. Ihr Zuname war für die Zunge der Gebirgler eine schwierige Sache; drum wurde er in Scherz und Spott verstümmelt, was viel zu lachen gab. Und gleich nach den ersten Tagen brachte man ihr einen Spitznamen auf: die Tröpfl-Maruschka – denn bei der Arbeit weinte sie immer. Am Abend, wenn die jahrlöhnigen Knechte und Mägde schäkernd heimwanderten ins Dorf, blieb Maruschka auf dem Acker draußen, aß im Graben ihr Brot und schlüpfte zur Herberg in einen der Heuschuppen, die auf den Feldern umherstanden.

In einer Nacht aber kam sie ins Dorf, um Einlaß bettelnd. Überall warf man ihr die Tür vor der Nase zu. Keiner wollte die ›böhmische Bescherung‹ unter seinem Dach haben. Nur die Kirchentür stand offen.

Am andern Morgen, gegen vier Uhr, als der Mesner in die dämmerige Kirche kam, um den Mariengruß zu läuten, hörte er beim Liebfrauenaltar das Wimmern eines Kindes. Er glaubte an bösen Spuk und rannte davon, um den Pfarrer zu wecken und tapfere Männer zum Beistand zu holen. Da gab's einen lärmenden Aufruhr. Das halbe Dorf kam gelaufen, denn die Leute waren schon auf dem Weg zu den Feldern. Und Herr Felician Horadam, damals noch ein Mann in den besten Jahren, mußte den abergläubischen Schreiern den Gefallen tun und einen Segen sprechen, bevor man die Kirche betrat. Da fand man auf der Holzstufe vor dem Liebfrauenaltar ein neugeborenes Knäblein, so kräftig entwickelt, daß sich die reichste Bäuerin solch eines gesunden Sprößlings mit Stolz hätte rühmen dürfen. Und neben dem schreienden Buben lag die tote Mutter, schon kalt und starr. Die Maruschka begruben sie irgendwo an der Friedhofmauer. Und den verwaisten Kirchenfindling taufte Herr Felician Horadam auf die Namen zweier Apostel; das geschah wie in unbewußter Vorahnung der frommen Kräfte, die im Petrus Johannes Zdazilek dereinst erwachen sollten.

An Hanspeters Eintritt in das Leben knüpfte sich ein großer Ärger für die Gemeinde. Herr Felician Horadam versuchte wohl die erregten Gemüter seiner ›lieben Kinder in Christo‹ zu beschwichtigen. Aber die Kirche war entweiht, sie mußte von neuem eingesegnet werden; das machte Verdruß, und was noch schlimmer wog, es machte auch ›Unkösten‹. So war vom Bürgermeister, dem gottseligen Großvater der Staudamer-Julei, bis herunter zum kleinsten Steuerzahler jeder Bauer übel auf das ›Kirchenratzl‹ zu sprechen. Herr Felician Horadam, in seinem gutmütigen Erbarmen, hätte den Findling gern in den Pfarrhof genommen; aber Jungfer Kathrin, seine Köchin, hatte einen unbesiegbaren Widerwillen gegen Kindergeschrei und Kinderwäsche; auch meinte sie, ein Kind im Pfarrhof wäre ebensowenig an seinem Platz, wie ein Wochenbett in der Kirche. Herr Felician Horadam mußte sich fügen. Nur eines setzte er durch: daß er für den kleinen Hanspeter anschaffen durfte, was ein Kind für die ersten Jahre braucht, und daß die Gemeinde auf ihre Kosten den Findling zu einer alten Witib in Pflege gab, die man die ›Schützin‹ nannte, weil ihr Seliger im Dorfe der Flurschütz gewesen.

Ein stilles, einsames Kind – in dem häßlichen Gesicht zwei wasserblaue Augen. Weil sich nur selten jemand mit dem Kinde abgab, lernte es das Reden erst nach dem vierten Jahr. Im langen Bergwinter saß es vom Morgen bis zum Abend auf dem Lehmboden der Stube, vom Frühling bis zum Herbste vor der Haustür im Sand. Auch wenn es regnete. Je weniger sich die Schützin mit dem Buben abgab, um so zärtlicher hing er an dem alten Weib; und je mehr sie ihn hungern ließ, um so kräftiger gedieh er, als wär' es die Luft und die Einsamkeit, die ihn speisten. Als er ins achte Jahr ging und reif für die Schule wurde, starb die Schützin; der Doppelverwaiste jammerte nicht; er konnte noch nicht verstehen, was Sterben heißt, nicht begreifen, daß der Tod etwas Härteres wäre als das Leben.

Ein Beschluß des Gemeinderats verwies ihn auf die Wanderschüssel. Sechs Bauern wurden ausgelost, von denen jeder an einem anderen Tag der Woche dem Buben Futter und Herberg zu bieten hatte. Am Sonntag durfte er bei der Jungfer Kathrin im Pfarrhof essen – die ganze Woche hatte er immer Angst vor diesem Ehrentag. Sein Fest- und Feiertag war der Mittwoch im Waldhof und beim Roman. Denn die Waldhoferin hatte eine Hand, die gern und ohne Vorwurf gab, und der kleine Roman konnte so herzlich lachen – eine Kunst, welche die Schützin ihren Pflegling nie gelehrt hatte. Das Lachen zieht die traurigen Menschen an. Und alles, was dem verwaisten Buben fehlte, das hatte der Roman in Fülle. Solch einen Begnadeten des Lebens muß man lieben, wie die frierende Erde die Sonne liebt. Das Herz des armen Buben hungerte nach Liebe, sein Magen war das Darben gewöhnt, aber sein Herz wollte satt werden, und so begann er von Romans Glück und Lachen zu zehren. Und nie hörte er vom Roman ein Schimpfwort wie von den anderen Buben, nie einen Spitznamen. Der Roman sagte zu ihm nur: ›Hanspeter‹ – sogar › lieber Hanspeter‹! Die anderen hatten so viele Namen für ihn, daß er selbst sie alle nicht hätte aufzählen können. ›Hans Zdazilek‹ – das ging ihnen niemals ohne Stolpern über die Zunge – drum nannten sie ihn den ›Züngerl-Wehdam‹ und den ›Maulbeißer‹. Und was sie mit der Maruschka getrieben hatten, trieben sie mit dem Buben weiter: sie verstümmelten seinen Namen. Jeder neue Tag bereicherte diese Sammlung. Spatzenschreck, Katzenfleck, Ratzenspeck – so lauteten unter seinen Spitznamen noch die mildesten. Aber bekanntlich ist der Teufel eine Spottgeburt aus Feuer und noch einem anderen Ding, das an der letzten Silbe in Hanspeters Zunamen einen bedenklichen Reim besitzt. Das kostete den Buben viele, bittere Tränen. Und er weinte so leicht! Dieses flinkfließende Wasser war der einzige Trost des Wehrlosen.

Einer unter seinen Spitznamen, der ›böhmische Peterl‹, gab dem Buben viel zu denken. Peter, – das hätte er sich gefallen lassen. Aber warum sie ›böhmisch‹ sagten, das verstand er nicht. Denn niemals hatte die Schützin von seiner Mutter gesprochen, nicht aus Zartgefühl, sondern weil sie überhaupt nicht viel mit dem Buben redete. Doch als er von Schüssel zu Schüssel wandern mußte, warfen sie ihm den Merk an die Mutter bei jedem widerwillig gereichten Bissen ins Gesicht. Als er's zum erstenmal hörte, wurde er kreidebleich und zitterte bis in die plumpen Knochen. Ein paar Wochen trug er es still mit sich herum. Eines Abends, als er mit Roman im Wiesgarten des Waldhofes hinter der Hecke saß, blickte er mit seinen irrenden Augen, die wieder einmal naß waren, lange zum dämmrigen Himmel hinauf. Dann fragte er: »Mandi? Weißt mir net ebbes von meiner Mutter?«

Aber Roman wußte nichts. »Wart«, sagte er, »da frag ich den Vatern! Der weiß alls.« Und am anderen Morgen brachte er's dem Hanspeter mit in die Schule: »Der Vater hat mir nix gsagt, aber von der Mutter weiß ich's: Maruschka hat s' gheißen, die deinig, und in der Kirch hat s' dich niedergelegt als Kindl, und in derselbigen Nacht hat s' sterben müssen, sagt d' Mutter.«

»Sterben hat s' müssen? Wie d' Schützin?«

Mandi besann sich ein wenig. »Ja, ja, wird schon so gwesen sein. 's Sterben, mein' ich, is allweil gleich bei die Leut. Sie machen halt d' Augen zu und lachen nimmer.«

Dem Hanspeter wurden die nassen Wangen heiß, und hastig fragte er: »Mei' Mutter hat 's Lachen können? Wie du?«

Da fuhr der Lehrer mit dem Haselnußstecken zwischen die beiden Buben.

Von diesem Tag an fragte Hanspeter jeden Menschen, mit dem er allein war: »Weißt mir net ebbes von meiner Mutter?« Aber da bekam er so sonderbar lustige Dinge zu hören, daß er bald den Mut verlor, zu fragen. Nur eins noch wollte er wissen: wo die Maruschka begraben läge. »Bei der Mauer umanand, da muß s' wo liegen!« Genauer konnte ihm's keiner sagen, denn sie hatte weder Hügel noch Kreuz bekommen.

Als der Hanspeter vierzehn Jahr alt wurde, nahmen sie ihn aus der Schule, weil ihn die Bauern nicht länger füttern wollten, und weil er schon so groß und stark war wie ein Zwanzigjähriger und Fäuste hatte wie ein fertiges Mannsbild. Sie machten ihn zum Geißhirten. Nun aß er sein eigenes Brot, und das Leben wurde ihm leichter. Doch er blieb ein stiller ›Sinnierer‹. Droben auf den Almen, während seine Geißen weideten, saß er tagelang auf einem Fleck, immer mit den Augen im Blau. Und lachend sagten die Leute: wenn ihm der Kopf so unförmig und doppelt auswüchse, so käme das vom vielen Denken, das bekanntlich nicht gesund ist.

Einige Jahre später, im Sommer, starb der Großvater der Staudamer Julei, und Romans Vater wurde Bürgermeister. Gleich am ersten Sonntag nach der Wahl kam Hanspeter von der Alm herunter in den Waldhof. Er war schon so ungetüm, daß er die Haustür füllte, und daß in der Stube die Bodenbretter krachten unter seinem Schritt.

Der Waldhofer und sein Weib waren ausgegangen. Nur Roman war daheim; der rauchte sein Pfeifl und hatte Augen, die wie der Frühling schauten. War's doch der Sonntag, an dem er die Staudamer-Julei zum erstenmal ›so gspassig‹ angesehen hatte!

»Nammittag!« sagte Hanspeter und strich mit der schweren Hand das Haar in die Stirne. »Mandi, heut kunnst mir an Gfallen tun!«

»Alls, Peterl, heut kannst alls von mir haben!«

»Schau, es geht mir allweil nach, daß ich gar nix weiß von meiner Mutter, und wo s' ihr Heimat hat. Kunnten ja von der Mutter noch Gschwisterleut leben. Kunnt ihnen schlecht gehn. Jetzt hab ich mir a bißl ebbes verspart. Magst net dein' Vatern angehn drum, daß er a wengerl nachschaut in die alten Gmeinschriften. Jetzt is er ja Burgermeister. Leicht kunnt er ebbs finden von meiner Mutter. Ob s' verheirat gwesen is, oder –« Dem Hanspeter wurde trotz seiner mächtigen Brust das Atmen so schwer, daß er nicht weitersprechen konnte.

»Peter!« sagte Roman herzlich beim Anblick dieses würgenden Schmerzes, der sich mit keinem Laut verriet. »Da wart ich net, bis der Vater kommt. Die Gmeinschriften sind im Haus. Schauen wir gleich selber nach. Magst?«

Den ganzen Nachmittag saßen sie über den dickleibigen Gemeindematrikeln. Endlich fanden sie im Gedingbuch den Vermerk: »Beim Rochlbauer ist eingestanden Marutzka Tschtatzilek eine Bemmin. Unbekannt von wo. Heimezschein hatz nich. Geht mitn Kind.« Und auf dem Rand des Buches war von anderer Hand und mit anderer Tinte dazugeschrieben: »Das Ludder hat die heilig Kirch verschandt, hat frisch gweicht wern müeßn, hat viel Schreibnis unt Verdruß gmacht.«

Roman war verlegen geworden. Und Hanspeter, ohne ein Wort zu sagen, erhob sich und verließ die Stube.

Zwei Jahre später, im Herbst, wurde Roman ausgelost und ›behalten‹. Den Hanspeter nahmen sie nicht, weil er Plattfüße hatte und weil man bei den Soldaten Mannsleute brauchte, nicht Elefanten.

Der junge Waldhofer, als er singend mit den anderen Sträußlbuben zum Dorf hinauswanderte, wußte nicht, wieviel mit ihm für den Hanspeter davonging.

In diesem Winter gab's mit dem böhmischen Peterl eine merkwürdige Wandlung.

Habt ihr schon einmal gesehen, wie in einem See ein Tropfen Öl aufs Wasser fällt? Der geht mit schillernden Farben auseinander, wächst wie ein Zauberschild in die Runde und dehnt sich immer weiter, mit buntem Schimmerglanz.

So fiel die verwaiste Liebe, die Hanspeter für die Mutter und für den Roman in seinem großen, schwerpumpenden Herzen trug, auf alle Menschen im Dorf. Er, der die Leute bisher gemieden hatte wie ein verprügelter Hund, wurde freundlich und gefällig gegen alle. Was jeder nur wollte, konnte er vom Hanspeter haben. Das nützten sie auch gehörig aus. Der eine ließ ihn für sich arbeiten, der andere ließ ihn um ein Vergeltsgott botenlaufen, ein dritter schwatzte ihm die ersparten Groschen ab. Dann lachten sie über ihn. Das merkte er wohl, doch er trug es ihnen nicht nach. Er war zu bescheiden, um jene schönen Worte des Heilands auf sich anzuwenden: »Sie wissen nicht, was sie tun!« Aber er fühlte ihren Sinn. Und blieb der gleiche, was sie auch trieben mit ihm. Er mußte lieben, weil er nach Liebe hungerte. Und die rechte Liebe muß geben, bevor sie nehmen will.

Im folgenden Sommer, nachdem er zwei Jahre schon als Jungviehhirt gedient hatte, wurde er als Senn genommen. Und da gab's einmal in seiner Hütte einen seltsamen Auftritt. Am Morgen eines blauen Montags kehrte bei ihm ein Dutzend junger Burschen ein, die zum Sonntagabend ihre Auserwählten auf den Almen besucht hatten. Ehe sie den Heimweg antraten, wollten sie noch ihre lustige ›Gaudi‹ haben, und so hatten sie sich in Hanspeters Hütte zusammenbestellt, um nach Verabredung dem guten ›Flohannes Katzenspeck‹ die geduldige Seelenfeder so lange aufzuziehen, bis es einen Knacks gäbe. Dieses drei Zentner schwere Lämmlein einmal in springende Wut zu bringen, einmal zu sehen, wie die Milchsuppe seiner Gutmütigkeit ins Kochen geriete – das müßte was zu lachen geben!

Schwatzend, kichernd und ihre Pfeife schmauchend, saßen sie um das Herdfeuer, während Hanspeter, der sich in seiner Arbeit nicht stören ließ, am Butterkasten die Kurbel drehte. Alle Saiten ihres Spottes zogen sie auf, diese Zwerge, die mit dem Riesen spielten und sich stark fühlten im Dutzend. »Ja, ja, is schon recht, tuts nur lachen, Buben, 's Lachen is ebbes Schöns!« sagte Hanspeter. Gleichmäßig trieb er die Kurbel und ließ sich allen Schabernack gefallen, den sie ihm an den Kopf warfen. Kein Spott über die Stadeltore seiner Luser, über sein böhmisches Löschhütl, über das Trampularium seiner unförmigen Gestalt und über das schlotternde Metzensackl seiner ungeheuerlichen Hose wollte die erhoffte Wirkung üben. Schließlich wurde ihnen das langweilig: zwecklos auf einen Esel loszuschlagen, der sich nicht wehrt und nur immer geduldig trägt. Schon fingen sie an, sich untereinander mit Stichelreden zu traktieren. Einer machte noch den Versuch, dem Hanspeter eine heimliche Liebe anzudichten – drüben auf der Nachbaralm, vor dem Kammerfenster der Nannei, hätte man am Morgen menschliche Trittspuren gefunden, groß wie die Fährte eines doppelten Ochsen! Aber da kam der Spötter übel an, nicht beim Hanspeter, sondern bei einem der Burschen, dessen Schatz die Nannei war. Die beiden, die als gute Kameraden gekommen waren, fuhren sich mit grobem Schimpf in die Haare, mit saftigen Worten schrien die anderen dazwischen, im Nu war das Dutzend Freunde in zwei hadernde Parteien gespalten – und just, als Hanspeter die fertige Butter aus dem Kasten heben wollte, ging mit trommelnden Fäusten ein kreischender Spektakel los, und ein raufender, sich balgender Knäuel erfüllte die Sennhütte.

Erschrocken hatte Hanspeter den Butterballen wieder in den Kasten zurückgeworfen. Und als er sah, daß einer der Burschen nach dem Messer griff, wußte er, um einen blutigen Ausgang der Rauferei zu verhindern, im ersten Entsetzen kein besseres Mittel, als daß er den großen, schweren Kasten packte und seinen ganzen Inhalt, einen halben Eimer Rührmilch mitsamt der frischen Butter über den Knäuel der Raufenden ausgoß. Als dieser weiße, dicke, schmalzige Regen auf die heißen Köpfe niederging, war der Frieden im Nu gestiftet. Und Hanspeter, mit nassen Augen – hatte es ihm die Stunde eingegeben? oder war's eine Frucht der stillen, einsamen Gedanken, die seit Jahr und Tag durch seinen großen, häßlichen Kopf ihren langsamen, schönen Gang genommen? – rief den weißtriefenden Streitern mit seiner dünnen Kinderstimme zu: »Aber Buben? Seids denn Heidenleut oder seids Christen? Därfen denn Christen anand derschlagen und derstechen? Heißt Christ sein ebba net: daß man zammhalten muß in Güt und Frieden? Bsinnt sich denn keiner von enk auf unsern lieben Heiland? So laßts enk sagen, Buben, laßts enk sagen von mir, wie 's beste gheißen hat von seine guten Wörtln! Liebet einander, hat's gheißen! Liebet einand! Denn d' Lieb is Einzig und 's Beste, d' Lieb is d' Sonn auf der Welt, und wo d' Lieb ihr Hausen hat, da is lachete Zeit!«

Erst standen sie verdutzt und sahen, während die weißen Tropfen an ihnen herunterrannen, mit aufgerissenen Mäulern den Hanspeter an. Dann brachen sie in johlendes Gelächter aus. Und während die einen mit Lachen zu schimpfen begannen und die saftigsten Scherze an dieses verblühende Evangelium der Liebe knüpften, liefen die anderen schon hinaus zum Brunnen, um den Butterschmuck und die Rührmilch von ihren Köpfen zu waschen.

Diese Geschichte machte noch am Abend des gleichen Tages die lustige Runde durch das ganze Dorf, und ihre einzige Wirkung war, daß für den Hanspeter zwei neue Spitznamen aufkamen: ›die verliebte Christenheit‹ und ›der Lieb'einand‹. Doch nein – daß der Geist der Liebe über den Hanspeter gekommen war, das hatte noch etwas anderes im Gefolge. Denn unter den lachenden Bauern war ein einziger, der nicht lachte: der Bachbauer, auf dessen Alm der Hanspeter in Diensten stand. Der schimpfte wie ein Rohrspatz im ganzen Dorf herum: was für ein Senn das wäre, der mit Butter und Rührmilch umginge wie die Magd mit dem Spülwasser! Von diesem Vorwurf kam der Bauer auch gleich auf einen anderen: ein Kerl, der seine drei Zentner wiegt, der hat auch einen ›driedoppelten‹ Hunger und muß im Vergleich zu einem wohlproportionierten Christenmenschen auch das doppelte und dreifache Futter laden. Was aber den Hanspeter mästet, das zehrt am Almgewinn und macht den Bauer mager.

Als der Sommer vorüber war, hatte der Bachbauer durch Hanspeters fleißige und redliche Arbeit einen größeren Senngewinn erzielt, als noch jemals in einer Almzeit. Aber der Bauer rechnete: »Wär einer mit kleinerem Magen mein Senn gewesen, so hätt ich bei dem guten Grasjahr noch mehr gewonnen!« Drum schimpfte er weiter. Und als Hanspeter anfragte: »Gelt Bauer, bist zfrieden und bhaltst mich fürs nächste Jahr?« – da bekam er eine Grobheit zu hören, die an das Kapitel von der Liebe und an die verschüttete Buttermilch erinnerte.

Hanspeter mußte Taglöhner werden. Das war ein saures Brot und ein hartes Leben, denn man rief ihn immer nur zu jener Arbeit, die für jeden anderen zu schwer und zu schlecht war. Aber dem Hanspeter wog alles gleich. Wenn er nur schaffen durfte und schwitzen für andere. Arbeit, gegen die man sich sträubt? So was kannte Hanspeter nicht. Wenn er eine Stallgrube zu reinigen hatte, und es rief ihm einer lachend zu: »Schmeckete Arbeit, was?« – dann schüttelte er den Kopf und sagte ernst: »Arbeit is Arbeit. Alls muß sein. Kommt alls vom lieben Herrgott her. Wann er's net haben möcht und wann's kein Nutzen net hätt, so wär's net da. Aus'm Mist macht er Blümln und Traid. Und 's Wasser hat er gschaffen, daß sich der Mensch wieder säubern kann.«

Daß Hanspeter nicht mehr Senn war, das brachte ihm, neben der schönen Erkenntnis von der Notwendigkeit aller Dinge, noch ein anderes Glück. Jetzt blieb er den ganzen Sommer im Dorf und konnte jeden Sonn- und Feiertag die Kirche besuchen. In der Kirche war ihm wohl, da fühlte er sich daheim. Und wenn er mit stillem Lächeln betete, Stunde um Stunde, hingen seine blauen Kinderaugen immer an der Holzstufe des Liebfrauenaltars: an seiner Wiege, an dem Sterbebett seiner Mutter. Und die guten Gedanken, die für den Hanspeter aus den alten Brettern heraufstiegen, trug er aus der Kirche hinaus in den Hader des Dorfes, und was ihn selber schön erfüllte, das wollte er auch den anderen auf die Seele legen, als Honig auf das rauhe Kleienbrot des Lebens. Das bildete sich immer mehr bei ihm aus: daß er nicht mehr wie die anderen von gleichgültigen Dingen schwatzen konnte. Immer mußte er etwas sagen, immer war's eine freundliche Lehre, immer ein Weiser nach Gottes Gerechtigkeit und Güte, immer wieder das Wortlein: »Liebet einander, und alls is gut!« Und weil er bei solchen Reden immer den breiten Rücken krümmte, als müßte er sich in Demut beugen, drum begannen sie ihn den ›buckleten Apostel‹ zu nennen. Daß sie immer lachten, sooft ihm das Wörtlein ›Liebe‹ über die Zunge kam, das kränkte ihn nicht. »Aufs erstemal hören s' halt net. Aber sagst es ihnen allweil und allweil wieder, so bleibt schon a bißl was hängen. Ah ja!«

Zwei Jahre vergingen.

Im Frühling, eines Abends, als er von der Arbeit heimwanderte, sah er schwatzende Leute vor einer kleinen Hütte stehen, die der Gemeinde gehörte und seit Jahren keinen Inwohner mehr gehabt hatte. Im Hof, in dem das Unkraut wucherte, stand ein Leiterwagen, mit ärmlichem Hausgerät beladen. Eine alte Frau und ein junges Mädel – die Altenöderin mit ihrer Lisbeth – plagten sich gerade, um einen schweren Kasten vom Wagen zu heben.

Da lehnte Hanspeter seinen Spaten und die Spitzhacke an den Zaun, hob den Kasten mit leichtem Ruck auf seinen breiten Buckel und fragte: »Wo muß er denn hin, Weiberl?«

Die Altenöderin war im ersten Augenblick ganz erschrocken, als sie diesen doppelten Menschen in seiner Häßlichkeit und Unform sah. Dann stotterte sie: »Tauset Vergeltsgott! Bist soviel gut, du!« Auch Lisbeth sah ihn verwundert an, sagte einen leisen Dank und ging dem Hanspeter voraus in die Hütte.

Nicht nur den Kasten, auch alles andere Gerät noch trug er ihnen vom Wagen ins Haus. Bis spät in die Nacht hinein half er den beiden räumen und in der Hütte sauber machen. Dann lief er zum Wirtshaus, holte einen Krug Bier und Brot und Rauchfleisch, nahm kein Geld dafür an, wie hartnäckig es ihm die Altenöderin auch aufdrängen wollte – und sagte: das wäre zum Einstand in der neuen Heimat, zum Willkomm im Namen von allen lieben Nachbarn. »Denn bei uns im Ort, da gibt's fein gute Leut! Dös därfst mir glauben, Weiberl!«

Während die beiden aßen, saß er bei ihnen am Tisch, den er auf seinem Buckel in die Stube getragen, hörte zu, wie ihm die Altenöderin erzählte, wer sie wäre und woher sie käme, und sah mit staunenden Augen das schmale, feine Gesicht der Lisbeth an.

Als er spät in der lauen Frühlingsnacht und unter funkelnden Sternen die Straße zu seiner Herberg hinunterging, Spaten und Spitzhacke auf der Schulter, sang er mit lauter Stimme vor sich hin. Schön klang das nicht. Es war zum erstenmal in seinem Leben, daß der Hanspeter das Singen probierte. Der Nachtwächter, der ihm begegnete, rief ihn lachend an: »He, du? Kannst es net besser, so laß's lieber bleiben!« Und Hanspeter erwiderte: »Wann's so leicht wär, weißt, so wär's kei' Kunst net! Alls muß glernt sein.«

Am andern Morgen sagte er dem Bauern, der ihn auf Taglohn bestellt hatte, die Arbeit ab, ging zur Altenöderin und fragte: »Hast mir kein Gschäftl net? Heut hab ich grad zufällig nix zum schaffen, und 's Feiern is soviel langweilig.«

Ein paar Wochen später war er bei der Altenöderin und ihrem Mädel schon wie der Sohn und Bruder im Haus. Wenn er für sie schaffen oder bei ihnen sitzen durfte, während sie diese ›gottslieben‹ Häuschen, Kirchlein und Kapellen unter ihren geschickten Händen hervorzauberten, dann war ihm zumut wie dem Kind im Märchen, so wohl, wie nirgends in der Welt, so wohl, wie's dem Hanspeter im Leben noch nie gewesen. Er hatte zwei Menschen gefunden, die freundlich mit ihm redeten, und die ihm erkenntlich waren für jede kleinste Gefälligkeit. Und da legte er seine drei Zentner Gemüt in jeden Gruß, in jeden Handschlag, in jede Arbeit, die er für die beiden tat. Und als ihm die Altenöderin ›Verlaubnis‹ gab, daß er ›Mutterl‹ zu ihr sagen durfte, nahm er dieses Wörtl immer auf seine schwere Zunge wie eine Süßigkeit, die man erst ein Weilchen kostet, bevor man sie genießt.

Aber nicht nur für sein verwaistes Herz, auch für seinen Glauben hatte Hanspeter einen guten Fund getan – zwei Menschen, von denen er sagen konnte: »Dös sind die richtigen. Die haben d' Lieb. Die bringen a guts Beispiel ins Ort. Jetzt müssend die andern nachmachen.«

Wenn er sah, wie fest die Altenöderin und ihr Mädel in ihrem armen Leben zusammenhielten, war er ganz stolz darauf, daß er ihnen sagen konnte: »Ich bin net einschichtig. Ah na! Ich hab schon auch ein', zu dem ich halt, und der zu mir halt. Mein Roman, ja! Im Herbst, da kommt er wieder heim. Paßts auf, der muß enk gfallen! Wie mein Roman, so gibt's kein' zweiten nimmer.« Durch Stunden und Stunden wurde Hanspeter nicht müde, vom Roman zu erzählen, so daß der junge Waldhofer wie ein Vierter im Bund mit diesen dreien zu leben begann, aber nicht wie ein Ebenbürtiger, sondern wie eine Art Respektsperson, wie ein höheres, von allem Glück begnadetes Wesen. Hanspeters Liebe umstrahlte den Abwesenden mit einem so leuchtenden Glorienschein, daß Lisbeths sinnende Augen oft zu fragen schienen: »Kann's denn so ein' geben? Der so ganz gut is? Und der alles hat?« Auch die Altenöderin, obwohl sie manchmal zu Hanspeters überschwenglichem Lob ein wenig lächelte, begann so große Stücke vom jungen Waldhofer zu halten, daß sie häufig sagte: »Dein Roman, den möcht ich schon bald amal sehen!«

Im Dorf – als sie bemerkten, daß es für den Hanspeter am Feierabend keinen anderen Weg mehr gab, als zur Hütte der Altenöderin – fingen sie bald zu schwatzen an. Das taten die einen mit Lachen, und mit Ärger taten es die anderen, für die der Hanspeter jetzt nicht mehr zu haben war, wenn sie ihn um ein halbes Vergeltsgott grade zur Arbeit gebraucht hätten. Erst fragten sie: »Was hat denn der für an Narren gfressen an dene zwei Weibsbilder?« Dann hieß es: »Der is ja rein wie verhext! Leicht haben s' ihm was eingeben, die zwei?« Und die Schlußfolgerung war: »Kunnt schon sein, daß die Alte mehr versteht, als wie Suppen kochen. So fremde Leut! Da weiß man nie, wie man dran is. Wo sind s' denn her? Was tun s' denn bei uns da? Leicht hat man s' wo anderst ausgstaubt?« So fingen die üblen Reden an, die über Mutter Annamaria in Umlauf gerieten. Und als im Sommer das Hagelwetter kam, das die Hälfte der Haferernte vernichtete, da wurde das Gezischel über die Altenöderin und ihr Mädel zum Geschrei. Den Hafer läßt doch unser Herrgott wachsen! Da wird doch der Herrgott seinen eigenen Hafer nicht wieder in Grund und Boden schlagen? Solch einen ›toreten‹ Gedanken läßt doch kein gescheiter Bauer in seinen Kopf hinein. Drum muß der Höllische das Wetter machen – oder eine, die ihm hilft dabei: der guten, unschuldigen Menschheit zu schaden! Die alte Moosrainerin – der ††† soll sie selig haben – das ist auch eine ›solchene‹ gewesen. Und seit den fünf Jahren, seit sie tot ist, hat es im Tal keinen so bösen Hagelschauer mehr gegeben. Wird halt wieder eine da sein! »Fremde Leut, die haben noch nie nix Guts net bracht.«

Als Hanspeter von diesen Redereien hörte, fühlte er im Mark seines Lebens ein Zittern, wie es der starke Baum empfindet, wenn der Sturm beginnt. Jetzt zum erstenmal, seit das Evangelium der Liebe seine drei Zentner durchtränkt hatte wie das Licht den grauen Morgen, wurde er irr an seinem guten Menschenglauben. Das tat ihm weh, als wäre ihm einer mit genagelten Schuhen aufs Herz getreten. Aber Hanspeter übertauchte es wieder. Und konnte denken: »Mein, d' Leut sind halt diemal wie Kinder! Die glauben 's Dümmste. Sagen muß man's ihnen halt!« Und Hanspeter predigte auf der Gasse die Botschaft seiner Liebe, daß ihm oft die Zunge müd davon wurde. Das einzige, was er erreichte, war, daß die Leute, die sonst nur über ihn gelacht hatten, grob gegen ihn wurden, die Geduld verloren, Ruhe vor ihm haben wollten und ihn immer seltener auf Taglohn nahmen. In den verdienstlosen Tagen, an denen er für die Altenöderin arbeitete, weil er ›grad zufällig nix zum schaffen‹ hatte, zehrte er seinen kleinen Sparpfennig auf. Und wäre nicht der Herbst ins Tal und der junge Waldhofer aus der Kaserne heimgekommen, so hätte Hanspeter sich in einen bösen Winter hineingepredigt.

Bei der ersten Begegnung – drei Tage nach der Heimkehr war's, und Roman freute sich ehrlich, den ›guten Kerl‹ und sein ›dickes Köpfl‹ wiederzusehen – bei dieser ersten Begegnung mußte der junge Waldhofer lachen, wie er lange nicht gelacht hatte. Hanspeter, im jähen Überfall seiner schweren Gefühle, stand vor ihm wie ein arbeitendes Roß, das den überladenen Wagen nicht vorwärtsbringt. Und quetschte ihm die Hände, daß Roman vor Schmerz geschrien hätte, wenn er nicht so lachen hätte müssen. Und Hanspeter sah ihn immer an mit tröpfelnden Augen und brachte kein Wort heraus! – Den Roman, den hatte er! An den durfte er glauben! Der war der seinige! Einer, in dem die Liebe ist! – Das war's, was der Hanspeter fühlte.

Und als er endlich reden konnte, hätte er den jungen Waldhofer am liebsten gleich hinübergeführt zur Mutter Nannimai. Aber Roman, seine junge Liebe im Herzen und die Heirat nach Ostern im Kopf, hatte an andere Dinge zu denken, als an eine Antrittsvisite bei der Häuslschusterin, von der er heute zum erstenmal hörte.

Doch Hanspeter ließ nicht aus – wenigstens sagen mußte er dem Roman alles. Wie einst als Buben in ihrer Schulzeit, saßen sie wieder im Schatten einer Hecke.

Am Abend sagte Roman zu seinem Vater: »Geh, tu mir den Gfallen und nimm den Hanspeter als Holzknecht auf! Kannst ihn ja brauchen im Schlag droben. Und a guter Schaffer is er doch gwiß. Mich derbarmt er.«

Der alte Waldhofer schnitt ein Gesicht, als hätte er in einen sauren Apfel zu beißen. »Den buckleten Apostel ins Haus eini? Daß mich d' Leut auslachen?«

»Geh, Vater!«

»No ja, meintwegen!«

So war Hanspeter Holzknecht im Waldhof geworden. Eine Freude für ihn und ein Kummer zugleich. Denn schon am anderen Tag – der alte Waldhofer als Bürgermeister war ein feiner Politiker und wollte den Hanspeter für eine Zeitlang den Leuten aus den Augen räumen – schon am anderen Tag ging's auf die Berge, zum Holzschlag und in die Holzerhütte. Da kam der Hanspeter wochenlang nicht ins Dorf herunter. Auch im strengen Winter nicht. Nur an hohen Feiertagen. Und um der Altenöderin und der Lisbeth willen verging kein solcher Feiertag, ohne daß Hanspeter den Leuten ein Wort ins Gewissen zu reden hatte, ohne daß er auf seinem Herzen die genagelten Schuhe spürte.

Nun hatten sie in der heiligen Lichtmeßnacht – eine Nacht, die ›für so was gut‹ ist – der Nannimai den Streich mit dem Schornstein gespielt.

Und am letzten Sonntag hatte Hanspeter die ›narreten‹ Buben im Wirtshaus aufgesucht, um ihnen den Unverstand ›a bißl‹ auszureden, und um ihnen ein ›Wörtl in aller Güt‹ zu sagen. Und da hatten sie ihn johlend im Dutzend durchgewalkt, ohne daß er sich wehrte – denn »einer, der schlagt, kann d' Lieb net haben, und einer, der d' Lieb hat, därf net schlagen!« Der bucklige Apostel begann ein Märtyrer seiner Liebe zu werden.

Und da kam jetzt die ›schieche‹ Geschichte vom Teufel, mit dem es die Nannimai und die Ilsabeth ›haben‹ sollten. Und er war doch selbst der Teufel gewesen, der die christliche Klafter des Roman kleingemacht! »So treiben sie's, d' Leut! So reden s'! So drehen sie 's Gute ins Schlechte um!«

Und jetzt war auch noch der Roman einer von denen geworden, welche ›die rechte Lieb‹ nicht haben!

Oft, wenn der Hanspeter droben im Bergwald einen Baum gefällt, hatte er sich aus Erbarmen um den schönen Stamm gefragt: »Er muß doch sein Leben haben? Sonst tät er net wachsen. Und muß den guten Regen merken und d' warme Sonn? Und den Wehdam grad so? Was muß er denn spüren, der Baum, wenn ihm d' Axt so einifahrt?«

Jetzt wußte er's. Jetzt spürte er das an sich selber.

Das Gesicht von Schweiß überronnen, mit keuchender Brust, erreichte Hanspeter den Pfarrhof und riß an der Glocke.


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