Ludwig Ganghofer
Der Dorfapostel
Ludwig Ganghofer

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Neuntes Kapitel

Am anderen Morgen, gegen zehn Uhr, kam vor dem Wirtshaus eine feine Kutsche angefahren, aus welcher der Untersuchungsrichter mit seinem Schreiber herauskletterte. Der Herr Gendarm, der die Gerichtsbeamten in militärischer Positur erwartete, hatte zu dem ›Exzeß vom Gestrigen‹ gleich ein neues Delikt zu melden, den ›allgemeinen Fenstereinwurf bei Seiner Hochwürden dem Herrn Seelsorger Felician Horadam‹.

»Nette Gegend, das!« meinte der Untersuchungsrichter. »Da wird es an der Zeit sein, wieder einmal ein Exempel zu statuieren. Holen Sie mir sofort den Bürgermeister!«

Zwei Tage lang, vom Morgen bis zum Abend, wurde verhört und protokolliert. Dabei entwickelte der Gendarm einen Eifer, daß ihm unter dem Schirm der Dienstmütze die Schweißperlen über den Schnurrbart tropften. An die fünfzig Personen brachte er zum Verhör herbei. Aber da wollte keiner etwas gesehen oder gehört haben, keiner wußte eine Aussage von Belang zu machen. »Mein, Dummheiten haben s' halt trieben, die Buben, und is halt a bißl schiech ausgfallen.« So lautete das allgemeine Urteil über die ›Rauferei mit blutigem Ausgang‹.

Während der zweitägigen Untersuchung wurden nur die Taten von Personen protokolliert, deren Namen nicht eruiert werden konnten. Unter den Zeugenaussagen war's eine typisch wiederkehrende Redewendung: »Einer hat's halt tan! Wer, dös weiß ich nimmer.« Nur ein einziger Name wurde genannt, und zwar durch Herrn Felician Horadam: der Name des Staudamer-Knechtes. Aber Mickeis Messer war so frei von verdächtigen Flecken und so schön poliert, als käm' es eben erst aus dem Laden des Messerschmiedes. Und überdies brachte er vier Burschen als Zeugen, die übereinstimmend aussagten, daß der Mickei ›bloß a bißl abgwehrt‹ hätte. Auch an dem groben Unfug, der wider die Fensterscheiben des Pfarrhofes verübt worden war, erwies sich Mickei als völlig unschuldig. Wie die Jungfer Kathrin aussagte, war es um den Glockenschlag Eins gewesen, als die Fenster klapperten. Wie aber die Staudamer-Julei aussagte, wäre der Mickei schon lange vor zwölf Uhr daheim gewesen; ganz genau hätte sie gehört, wie der Knecht die Haustür verriegelt hätte, in seine Kammer gegangen wäre, und dann erst hätte die Kirchenglocke zwölf geschlagen. Und weil die Julei mit ihren frommen, hübschen Augen und mit ihrem rosigen Unschuldsgesichtchen auf den Untersuchungsrichter das machte, was die Juristen einen ›guten Eindruck‹ nennen, so blieb ihre Aussage über jeden Zweifel erhaben und entschied die Sache. Freilich hatte die Kellnerin ausgesagt, daß der Staudamer-Knecht um halb ein Uhr noch im Wirtshaus gewesen und dann fortgegangen wäre, ohne die Zeche zu bezahlen. Aber eine Kellnerin! Die kennt man doch! Die Aussage einer solchen Person kann doch nicht aufkommen gegen die Wahrheitsliebe einer braven und unbeanstandeten Jungfrau wie die Juliana Staudamer. Und daß eine Kellnerin gegen einen Burschen, der die Zeche nicht bezahlte, Partei contra ist, das läßt sich psychologisch leicht erklären. Übrigens wurde die Aussage der Julei noch dadurch bekräftigt, daß die Schwarzwälderuhr in der Wirtsstube, wie die ›In-Augenschein-Nahme‹ dokumentierte, tatsächlich um eine ganze Stunde zu früh ging. Denn der Wirt, ein dörflicher Schlaumeier von reicher Erfahrung, hatte die nützliche Gewohnheit, seine Uhr am Morgen nach jeder Nacht, in der etwas Bedenkliches passiert war, je nach Bedarf um eine Stunde vor oder zurück zu stellen.

Am Abend des zweiten Verhörtages mußte die Untersuchung als resultatlos eingestellt werden, und die Sache war erledigt. Das heißt, nicht ganz. Denn vier Tage später, am Sonnabend, als es mit Hanspeters Besserung schon so weit war, daß er gefahrlos ein paar Worte sprechen und mit leichterem Verbande aufrecht sitzen konnte, erhielt der Bürgermeister eine Zuschrift des Bezirksamtes. In diesem Schreiben standen so viel merkwürdige Wörter, daß der Waldhofer, um beim Lesen mit ihnen fertig zu werden, seine Brille brauchte. In Hemdärmeln saß er am Tisch und buchstabierte. Und obwohl die Zuschrift nur eine einzige Seite füllte, verging doch eine Viertelstunde, bis der Waldhofer mit seiner stolpernden Lektüre zu Ende kam. Erst nickte er nachdenklich vor sich hin, dann schob er die Brille über die Stirn hinaus, und aller Verdruß, den ihm die beiden Verhörtage bereitet hatten, schien wieder in ihm aufzuwachen. »Der Malefiz-Hanspeter mit seim Predigen! Nix wie Zwidrigkeiten hat man davon! Und mit söllene Gschriften muß ich mich auch noch plagen! Soll er sich selber aussikletzeln, was drinsteht, da!«

Als er in die Krankenstube trat, erhob sich Lisbeth, die mit einer Näharbeit beim Fenster saß. »Guten Abend, Waldhofer!« Eine ruhige Stimme, nur ein bißchen müde. Dieser Klang schien den Ärger des Bauern zu mildern. »Guten Abend, Madl«, sagte er freundlich, »gelt, spürst es schon bald a bißl, die ungschlafenen Nächt?«

Lisbeth schüttelte den Kopf. »Solang mich der Hanspeter braucht, solang halt ich's gut noch aus.«

Aus dem dämmrigen Winkel, in dem das Bett stand, tauchten die Hände des Kranken hervor. »So viel plagen tut sich 's Madl meintwegen! So viel Zeit versaumen! Und allweil sag ich –«

»Du sag gar nix!« Der Waldhofer streckte dem Hanspeter das amtliche Schreiben vors Gesicht hin. »Da hast es jetzt mit deim Predigen!«

»Was hab ich?«

»An Adnotti hast kriegt.«

Dieses unverständliche Fremdwort und dazu der große Amtsbogen mit dem blauen Stempelzeichen schien auf Hanspeter eine beklemmende Wirkung auszuüben. Etwas mühsam hob er sich aus den Kissen. Den weißen Stirnbund trug er schon seit ein paar Tagen nimmer; doch sein Gesicht war ganz gesprenkelt mit grünen und bläulichen Flecken. Angstvoll sah er den Waldhofer an. »Was hab ich kriegt?«

»An Adnotti.«

»So so? Aber müßts mir schon sagen, was an Adnotti sein tut?«

»Gleich wirst es erfahren!« Der Waldhofer wandte sich an Lisbeth. »Madl, da mußt aussigehn! Bei die ämtlichen Sachen müssen d' Mannerleut allein sein mitanand.« Während das Mädel die Stube verließ, setzte sich der Waldhofer ins beste Fensterlicht und senkte die Brille auf die Nase. »So! Jetzt paß auf! Vom Bezirksamt is an die Gmein an Adnotti eintroffen.« Seine Stimme veränderte sich, denn jetzt mußte sie ›amtlich‹ klingen. »Und solches lautet!« Er räusperte sich, dann begann er mit Gestolper zu lesen: »Nachdem das Ergebnis der in nachbezeichneter Sache seitens des k. b. Assessors von Stubenrauch des hierortsigen k. b. Bezirksgerichtes geführten Untersuchung über den in dortiger Gemeinde stattgehabten Raufhandel vom 17. hujus anni currentis zur Evidenz dargetan hat, daß ein sicherer Peter Johannes Zdazilek, Holzknecht, wohnhaft und heimatberechtigt daselbst, hinreichend verdächtig erscheint, unter dem korrumpierenden Einfluß mißverstandener und unverdauter sozialer Reformideen die dortsortsige Bevölkerung predigenderweise auf der öffentlichen Landstraße in unzulässigem und eventualiter gegen § 360, Ziffer 11, des Strafgesetzes verstoßendem Maße zu haranguieren, die dem k. b. Bezirksamt bedenklich erscheinende Gepflogenheit zu haben, wodurch die ansonst friedliebende bäuerliche Bevölkerung gradatim zum Widerspruch gereizt und zu bedauerlichen Exzessen wie obenbesagter Raufhandel vom 17. hujus anni currentis aufgestachelt zu werden bedroht zu sein scheint, scheint es angezeigt, genanntem Peter Johannes Zdazilek durch den Gemeindevorstand ämtlich ad notam zu geben, daß selbiger obenbezeichnetes ruhestörerische Predigen und Propagandamachen unter dem Präjudiz, bei durch Genannten neuerdings hervorgerufenem Exzesse nach § 360, Ziffer 11, beziehungsweise den anderen einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen, strafämtlich behandelt zu werden, fürderhin zu unterlassen habe.

In Vertretung des Herrn Amtsvorstandes:
Das k. b. Bezirksamt.
Hufnagl,
k. b. Bezirksamtspraktikant.«

Der Waldhofer schnaufte. »So, da weißt es jetzt!«

Dann blieb's in der Kammer ein Weilchen still, und man hörte nur den mühsamen Atem des Hanspeter. »So so? Also, die Gschrift da, dös is an Adnotti?«

»An Adnotti, ja!«

»So so? Und da tät ich halt bitten, daß mir der Burgermeister sagt, was drinsteht, da!«

Der Waldhofer wurde ärgerlich. »Du Lapp! Ich hab dir's ja fürglesen! Hast denn net aufpaßt?«

»Ah ja, gut hab ich aufglust. Aber wär mir schon lieb, wann mir der Burgermeister die Sach a wengerl ausdeutschen tät!«

»Mein Lieber, dös is leicht gsagt!«

Der Waldhofer vertiefte sich wieder in das Studium des amtlichen Erlasses. Dann drehte er das Blatt, um es auf der leeren Rückseite zu betrachten. »Jetzt weißt, von die Gstudierten bin ich keiner, aber soviel ich mir die Sach verdeutschen kann, sagen s' beim Amt, daß d' a sicherer Peter Johannes Tschidazilek bist.«

»So so? Ja, freilich, der bin ich. Da haben s' recht.«

»Und daß mit deiner Predigerei die friedliebliche Bauernschaftsbevölkerung aufstageln tust. Und so ebbes verbieten halt die Parigraffi.«

»Ah na!« stotterte Hanspeter, dessen Augen immer größer wurden.

»Der Adnotti sagt's, da kannst nix machen! Und was amal gschrieben is, Peterl, is gschrieben. Dös hat sein Evidenz. Und weiter sagt der Adnotti, daß dein' Predigen sein lassen mußt.«

»Ah na!« Auf Hanspeters erblaßtem Gesichte spielten die Denkzeichen der Faustschläge in vertieften Farben. »Ah na!«

»Da steht's! Und wann dein Schnabel net haltst, so schicken s' dir den Präjudizi aussi und machen dir an Exzeß mit'm Parigraffi dreihundertsechzig und sperren dich schön sauber ein.«

Mit zitternden Fäusten auf die Kante der Bettlade gestützt, beugte Hanspeter sich über sein Lager hinaus. Verstört, als stünde ein schreckhaftes Gespenst vor seinen Augen, starrte er den Bürgermeister an. »Waldhofer? Da müßts Enk täuscht haben? Wie kunnt der Parigraffi verbieten, was Christenlieb heißt? Waldhofer, dös glaub ich net! So ebbes kann der Herr Adnotti net sagen.«

»Aber schreiben tut er's.« Die Brille von der Nase ziehend, trat der Waldhofer zum Bett und reichte dem Hanspeter das Blatt hin. »Da! Schau dir's an!«

Langsam faßte Hanspeter den Bogen. Wachsende Angst in seinem Blick, betrachtete er den fettgedruckten Kopf des amtlichen Schreibens, starrte auf die hundert kleinen schwarzen Teufelchen von Buchstaben, die vor seinen Augen durcheinandertanzten, und völlig entfärbte sich sein Gesicht beim Anblick des blauen Amtsstempels, der hinter der letzten Zeile stand wie ein magisches Punktum hinter einem unabänderlichen Schicksalsspruche.

»Gelt?« sagte der Bürgermeister und zog ihm das Blatt aus den Fäusten. Er schien zu bemerken, daß dem buckligen Apostel die Sache sehr naheging. »Jetzt tu dich net kränken, Peterl! Der Parigraffi is der Parigraffi, da kannst nix machen. Drum papp dir halt in Gottsnam a Pflaster auf dein' verliebten Christenschnabel! Dir selber tust den besten Gfallen dermit, und in der Gmein is wieder Fried und Ruh. Sei gscheid, Peterl! So! Und pfüet dich Gott jetzt!« Das Schreiben zusammenfaltend, ging der Waldhofer aus der Stube.

In Hanspeters Brustkasten rasselte der Atem. »So viel schlecht sind s', d' Leut. Und weil ich s' hätt mögen a bißl besser machen, drum erschlagen s' mich halb! Und jetzt bin ich der Lump, und ich bin's, ich, mit dem's der Parigraffi hat.« Er fiel auf die groben Kissen zurück, als hätte ihm ein Prügelschlag den Rücken gebrochen. So fand ihn Lisbeth.

»Peterl? Geh? Was hast denn?«

»Die zwei halt! So viel gspassig sind s'!«

»Wer denn?«

»Der Parigraffi. Und der ander, weißt, der Adnotti. Sind so viel lustige Leut, dö zwei! Da muß man lachen.« Er kicherte vor sich hin.

Lisbeth griff ihm an die Stirn, denn sie glaubte, daß er im Fieber spräche. »Soll ich dir 's kalte Tüchl geben?«

»Ah na!« Er atmete tief. »Ich tu net fiebern. So viel kalt haben s' mir gmacht, dö zwei!«

»Aber geh, Peterl! Is doch bloß der Waldhofer dagwesen! Und ich bin da.«

Der herzliche Klang ihres Zuspruches schien ihn zu beruhigen. Er zog ihre Hand an seine Brust und streichelte sie. »Du bist kein Parigraffi! Und kein Adnotti! Und dein Mutterl is keiner. Und mein Roman net. Und der Herr Pfarr is von die Guten einer! Aber d' Leut.« Seine müde Stimme erregte sich wieder. »Sind lauter Parigraffi gegen d' Lieb! Und Füß und Fäust haben s', und eiserne Schlagring und gschliffene Messer, weißt! Und so müssen s' sein, und die machst auch nimmer anderst. Und wie s' unser Herrgott gmacht hat –« Das Wort erlosch ihm auf der Zunge, als wäre Hanspeter vor seiner eigenen Weisheit erschrocken. Er griff an seinen Hals wie einer, der zu ersticken droht. »Kindl, tu mir 's Fenster auf! Daß ich a Bröserl sehen kann vom lieben Himmel!«

In banger Sorge um den Kranken riß Lisbeth die kleinen, trüben Scheiben auf. Und da sah man im Viereck des Mauerrahmens ein Stück des reinen Himmels, goldig überleuchtet von der scheidenden Sonne. Hanspeter beugte sich vor. Seine schimmernden Blicke klammerten sich dort oben fest, und während ihm über das blau und grün gesprenkelte, zu doppelter Häßlichkeit entstellte Gesicht die Tropfen niederkollerten, Schweiß und Tränen zusammen, begann er mit dürstenden Zügen zu schlürfen, als möchte er diesen lächelnden Glanz da droben, dieses reine Licht und diese Wärme tief hineintrinken in die Wunden seines Leibes und seiner Seele.

Es war ein schöner und linder Abend. Und wer nichts anderes ansah als nur den leuchtenden Himmel, hätte schon an den Frühling glauben können. Sogar eine Amsel schlug. Sie saß in der kahlen Krone des Apfelbaumes, der im Waldhof neben dem Garten stand. Und zwischen Schlag und Gezwitscher flatterte der schwarze Vogel, dessen Gefieder in der Sonne glänzte, von einem Ast zum andern und guckte aufmerksam die Zweigspitzen an, als dächte er sich: »Mir scheint, die blühen schon bald, und dann gibt es fette Hummeln zu speisen!«

Aber die Schönheit, die in den Lüften war, wollte ihre Schimmerfäden nur zögernd an die kalte Erde spinnen. Wohl waren im Tal die Wiesen schon erlöst vom Schnee, doch sie hatten noch ein falbes Ansehen, und das einzige Zeichen ihres Erwachens war, daß der Maulwurf zu schieben begann, dieser hungrige Lebensgräber des Frühlings. In den Hohlwegen und Schluchten lagen noch überall die weißen Reste vom abgezehrten Tisch des Winters umher, und wenn auch auf den sonnseitigen Gehängen schon die Wälder und Almen aus dem Schnee hervorgeapert waren, so trug doch die Schattenseite der Berge noch immer den weißen Mantel der kalten Zeit. Doch die Sonne, die seit einer Woche unverdrossen ihren Frühlingsrobot geleistet hatte, schien auch den letzten Werkeltag noch fleißig nützen zu wollen und raufte sich lachend mit dem Schnee, wo ihre Strahlen den widerspenstigen Gesellen nur erwischen konnten.

Bevor die Erde noch recht den Pulsschlag des erneuten Lebens spürte, empfanden ihn schon die Geschöpfe. Das merkte man an dem rastlosen Flug der Tauben, am erregten Gezwitscher der Meisen, am Gackerlärm der Hennen in allen Höfen und am ungeduldigen Gebrüll der Rinder, denen die Stallzeit zu lange dauerte.

Auch der Hüterbub aus dem Waldhof, der mit bauchigem Steinkrug zum Wirtshaus ging, um den Abendtrunk zu holen, schien mit seiner spitzigen Nase die in den Lüften webende Frühlingsstimmung zu wittern, schlenkerte den Krug und pfiff einen Ländler. Um seinen Spaziergang zu verlängern, machte er den Umweg am Pfarrhof vorüber. Da blieb er eine Weile stehen und sah dem Maurergesellen zu, der den Vorplatz vor der Tür des Pfarrhofes in Form eines Kreuzes mit Kieselsteinen pflasterte.

In einem der Fenster, die alle schon wieder ihre blanken Scheiben hatten und dazu noch nagelneue grüngestrichene Läden, lag Herr Felician Horadam mit schiefgerücktem Hauskäppchen und breiten Ellbogen auf das Gesimse gelehnt und ließ die lange Studentenpfeife ins Freie hängen. Während er ein blaues Wölklein ums andere vor sich hinpaffte, sah er schmunzelnd dem Gesellen zu, als hätte er an dem Werk des Maurers eine ganz besondere Freude.

Ein paar Steine lagen noch da, aber das Kreuz war fertig, so lang wie breit.

»Jetzt, mein' ich, könnt' s gut sein, Herr Pfarr?« fragte der Maurerbursch.

»Nix da! Mach halt 's Kreuz a bißl länger! Die Steiner müssen alle verpflastert werden bis auf'n letzten!« Dieser letzte, das war ein Kiesel von der Größe eines Brotlaibes. Als ihn der Gesell in die Hand nahm, ging ein merkwürdiges Zwinkern über sein Gesicht. »Du?« fragte Herr Felician lächelnd. »Kennst du den Stein vielleicht?«

»Ich?« Der Bursch sah ruhig auf. »Steiner gibt's viel, schaut einer wie der ander aus.«

»So so? No ja, klopf ihn nur recht fest eini, den!« Da gewahrte Herr Felician den Hüterbuben auf der Straße. »He, Büberl! Wie geht's dem Hanspeter?«

»Gut. Der beißt in acht Tag schon wieder Knödel.«

»Gott sei Lob und Dank! Gelt, tu mir den Hanspeter schön grüßen!«

»Vergeltsgott, ja!«

Den Krug schlenkernd, trabte der Bub davon. Im Wirtshaus schien sich auch die Kellnerin für das Befinden des ›buckleten Apostels‹ zu interessieren, denn es dauerte eine geraume Weile, bis der Bub mit dem gefüllten Krug wieder auf die Straße trat. Und da begegnete ihm der junge Waldhofer. Verwundert guckte der Bub ihn an und vergaß zu grüßen.

Wie ein Holzknecht sah Roman aus, wie einer, der wenig zu beißen und viel zu schaffen hat. Seine Kleider waren von der harten Wochenarbeit übel zugerichtet, seine Hände starr und schwer, von blutigen Rissen durchzogen. Er ging ein wenig gebeugt. Das Gesicht, obwohl erhitzt und erregt, zeigte Spuren von Erschöpfung und einen seltsamen Ausdruck von Verdrossenheit. Hatte er dort oben nach hartem Tagewerk ein Lager gehabt, auf dem man übel schlief? Seine Augen waren von dunklen Ringen umzogen und brannten heiß und unruhig. Fast war's wie ein Blick der Angst. Er sah sich auch erst nach allen Seiten um, bevor er den Buben fragte: »Wie schaut's denn aus, daheim? Macht er sich bald wieder aussi, der Hanspeter?«

»Aaah, dem geht's gut! Der is in der besten Pflegschaft, die man haben kann.«

»So so?« Roman sah in dunkler Sorge gegen den Waldhof hinunter.

»Ja, du, den hat der Häuslschusterin ihr Madl sauber aussipflegt. Aber mit'm Hexen, da glaub ich schon bald nimmer –« Erschrocken wich der Bub zurück, denn er hatte die zuckende Bewegung gesehen, die dem jungen Waldhofer in die Hand fuhr. »Laß ein' doch ausreden!« maulte er aus vorsichtiger Entfernung. »Wenn ich grad sagen will: sie is keine! Sonst hätt s' schon lang amal ihren Kribeskrabes übern Hanspeter gmacht, damit s' doch auch wieder in der Nacht a bißl schlafen kunnt. Fallen ihr eh schon die Guckerln halbert aussi.«

Der Hüterbub war über Romans unruhige Hand viel weniger erschrocken, als Roman über dieses Wort des Buben erschrak. »Was? Noch allweil is dös Madl im Haus? Und ebba wieder die ganze Nacht? Dös is ja nimmer zum Aushalten!«

»Ja, sagt's der Bauer oft, und der Hanspeter selber: sie sollt sich a bißl Ruh vergunnen! Aber die laßt net aus. Bloß am Abend allweil, wann's dunkel wird, da schaut s' auf a Stündl heim zum Essen.«

»Wann's dunkel wird? So?« Roman guckte zum leuchtenden Abendhimmel hinauf. »No ja, trinken wir halt a Maßl derweil!« Er ging auf das Wirtshaus zu.

»Du«, rief der Bub ihm nach, »da wirst aber 's Essen versaumen.«

»Hungern tut mich net. Bloß dürsten.«

»Wann ich aber 's Bier grad heimtrag!«

Ohne auf diesen triftigen Grund zu hören, der ihn zur Heimkehr hätte bewegen müssen, war Roman schon in der Tür verschwunden. Weil es um die Stunde war, zu der die Bauern daheim um den Abendtisch sitzen, fand er eine leere Wirtsstube. Als ihm die Kellnerin das Bier brachte, tat er einen tiefen Zug. Einem so seltenen Gast, wie der Waldhofer-Roman, muß man im Wirtshaus Ehre erweisen. Drum wischte sich die Kellnerin mit der Schürze die nackten Arme ab, setzte sich ihm gegenüber und begann zu plauschen. Es war eine junge Person, auch hübsch, doch mit einer Falte quer über die Stirn, und um die Mundwinkel jenen scharfen Zug, den allzu frühe Lebenserfahrung in junge Gesichter schneidet. Sie schwatzte vom Hanspeter, von der Häuslschusterin und dem ›dummen Tratsch‹ im Dorf, von der Rauferei am letzten Sonntag, vom ›Herrn Schandarm‹ und vom Untersuchungsrichter. Über den letzteren schien sie sich, wenn auch mit aller Vorsicht, ein bißchen lustig zu machen. »Wie er kommen is, hätt man meinen können, der kitzelt die Grillen unter die Steiner aussi. Nach zwei Tag is er heimgfahren und hat sich 's Nasenspitzl eingwickelt.«

Roman schien nur halb zu hören. »So so?« Mehr sprach er nicht. Und immer sah er durchs Fenster hinaus und musterte den Himmel, dessen leuchtende Farben zu verblassen begannen.

»Mich hat er auch vernommen, wegen die Fensterscheiben, die s' im Pfarrhof eingworfen haben.«

»Fensterscheiben?« Als Roman die klirrende Geschichte der Sonntagsnacht vernahm, schob er in Zorn den Krug von sich. »Pfui Teufel! Denen wär's gsund, wann s' a paar Wochen ins Loch spazieren müßten!«

»Ja, schimpfen alle drüber. Die dabeigwesen sind, am ärgsten.« Die Kellnerin schmunzelte. »Und hätt man auf mich aufpaßt, wer weiß, wie's gangen wär.« Nun machte sie die Augen klein und lächelte spöttisch. »Aber dei' Julerl! Du! Auf die kannst stolz sein.«

Dem jungen Waldhofer schien der Zusammenhang seiner Julei mit den Fensterscheiben des Herrn Felician etwas dunkel zu sein. Die Brauen runzelnd, sagte er gereizt: »Ich weiß schon selber, was ich hab. Und da bin ich auch stolz drauf. Und ich bin's amal.« Das bekräftigte er mit einem Faustschlag auf den Tisch, als hätte er Sorge, daß sein Stolz einem Zweifel begegnen könnte. »So eine, wie mei' Julerl, gibt's nimmer!«

»Ja, Mensch, da hast recht! Du! Da kriegst amal a schlauchs Weiberl ins Haus. So viel fromm und zuckerlieb hat s' ihn eingseift, den Herrn Untersuchungsrichter. Und ihren Knecht hat s' so schön sauber aussiglogen, völlig dagstanden is er wie mit der Milli gwaschen. Wenn man s' anschaut mit ihrem heiligen Gsichtl, möcht man gar net glauben, wie dick sie's hinter die lieben Ohrwascherln hat.« Das war in allem Ernst als Kompliment gemeint. Ein schlaues Weib ins Haus zu bekommen, ist für den Bauer von allem Segen der beste.

Aber Roman, mit brennrotem Gesicht, fuhr auf: »Über d' Julei sagst mir nix, du! Dös is 's erste- und 's letztemal gwesen!« Er warf der erschrockenen Kellnerin das Geld auf den Tisch. Als er hinaustrat in die blaue Dämmerung, ließ er unter galligem Lachen den heißen Blick über die Berge hinaufgleiten. »Da droben hab ich doch wenigstens mei' Ruh ghabt! Jetzt fangt der Teufel wieder an!« Mit einem Schritt, als müßte er jetzt seinen Weg durch dick und dünn nehmen, begann er loszumarschieren. Immer dunkler wurde der Himmel. So konnte Roman, als er daheim in die Stube trat, mit leidlicher Ruhe grüßen: »Guten Abend, Vater!«

Der Tisch war nach dem Abendessen schon wieder geräumt; nur Romans Teller stand noch da und wartete; und unter der Lampe saß der Waldhofer, in das Studium seiner Zeitung vertieft. Bei Romans Eintritt nahm er die Brille ab. »Guten Abend, Bub! Wie steht's denn im Holzschlag droben?«

»Net schlecht. Vierzig Klafter haben wir gmacht.«

Der Vater sah an ihm hinauf. »A bißl strapeziert schaust aus. Dös müßt net sein! Die vierzehn Täg, bis der Hanspeter wieder beinand is, kunnten d' Holzknecht ohne Aufsicht schaffen.«

Roman schüttelte den Kopf. »Es wird schon sein müssen, daß ich wieder auffischau, die nächste Woch.« Er strich das Haar in die Stirn und setzte sich an den Tisch.

»No ja, wie d' meinst! Gfallt mir selber, daß d' so auf unser Sach schaust.« Der Alte lächelte. »Aber weil wir halt nimmer weit auf Ostern haben, drum hätt ich mir denkt, du tätst dir liebere Gschäftln wissen als Holzschneiden.«

Dem Jungen, der nach dem Brotlaib gegriffen hatte, zitterten die Hände. »D' Arbeit geht für.«

Die Magd brachte ihm das Essen. Und der Waldhofer sagte zu ihr: »Geh, hol meim Buben a Flaschl Wein aus'm Keller auffi! Heut kann er's brauchen.«

»Is schon wahr! Schlafen muß mau doch auch wieder amal.«

Verwundert sah der Alte seinen Buben an. »Schlafen? Hast denn net schlafen können, droben? D' Arbeit muß dich doch müd gmacht haben!«

»Und ghörig auch noch!« murrte Roman zwischen Kauen und Würgen. »Aber wie schaut's denn daheim allweil aus?«

»Gott sei Dank, jetzt is wieder Fried.« Lachend erhob sich der Alte. »Der Hanspeter macht sich wieder. Und Ruh geben wird er auch. Jetzt hat ihm 's Bezirksamt an Riegel vor'n Schnabel glegt.«

»Dös därf aber a fester sein, sonst hebt er net!« Roman füllte sein Glas aus der Flasche, die ihm die Magd gebracht hatte, und stürzte den Wein hinunter. »Is's wahr, Vater?«

»Was?«

»Daß der Staudamer-Mickei bei dieselbigen dabeigwesen is, die im Pfarrhof d' Fenster eingschlagen haben?«

»D' Leut sagen's. Aber dei' Julerl hat Zeugschaft abgeben, daß er unschuldig is.«

»Hat s' ebba d' Wahrheit gsagt, oder hat s' –« Roman konnte nicht weitersprechen. Er füllte das Glas, bis es überlief. Doch er trank nicht. Eine Weile war's still im Zimmer, und man hörte nur das Ticken der Schwarzwälderuhr.

Nun puffte der Waldhofer seinen Buben mir der Faust in den Rücken. »Geh, du Narr! Wie kannst denn vom Julerl so ebbes denken! Die darf man bloß anschauen.«

»Und da weiß man –« Den Nachsatz verschluckte Roman.

»Druck net so umanander!« brummte der Alte. »Ich weiß eh schon, was los is.«

Erschrocken sah Roman auf.

»Gstritten hast dich halt mit ihr. Und unrecht mußt auch haben. Sonst wär net 's Madl seit vier Täg an jedem Abend hergrennt in Waldhof.«

»So?«

»Ja, so! Nachgeben tut allweil, wer im Recht is. Wer unrecht hat, is bockbeinig. Drum mach keine Gschichten und schau, daß wieder alles auf gleich kommt. 's Grobsein kannst dir aufsparen, bis gheirat is. Gib ihr halt a Bußl, und alls is wieder gut.«

Roman lachte heiser und leerte das Glas. »Gut kennt sich der Vater aus.«

»Bei deiner Mutter selig hat a Bußl allweil gholfen!« Der Alte fuhr seinem Buben mit der Hand ins Haar. »Sei gscheid! D' Julerl is a liebs Madl. Und haben tut's auch noch was.«

»Freilich, ja!« Roman fuhr sich mit dem Arm über die Stirne. »Besser, wie's ich troffen hab, hätt's keim net graten können!«

»Gelt, siehst es ein! Und jetzt mach a Sprüngerl zum Hanspeter hinter!«

Roman ging zur Tür. »Allein wird er wohl sein, jetzt? Oder net?«

Da lachte der Waldhofer. »Glaubst ebba auch schon an die dalketen Hexengschichten? D' Hausmagd traut sich gleich gar nimmer hinter. Und jede Nacht verriegelt s' alle Türen, und flaschlweis sprenkelt sie 's Weihwasser umanand. No ja, Weibsbilder halt! Aber daß du dich fürchten kunntst –«

»Für so dumm wird mich der Vater doch net halten!« Roman zog mit energischem Ruck hinter sich die Tür zu. Als er durch den Hausflur gegen Hanspeters Kammer ging, quoll ihm aus der Küche ein scharfer Qualm entgegen. »Zum Teufel! Was is denn?« Er trat in die Küche. Beim offenen Herdfeuer stand die Hausmagd, und während ihr von dem beißenden Rauch die Augen tröpfelten, drehte sie über der züngelnden Flamme unter halblautem Gemurmel eine kleine, rötliche Staude hin und her, aus deren glimmenden Zweigen dieser ätzende Qualm entströmte. »Was treibst denn da? Bist narrisch?«

»Na na! Ich weiß schon, was ich tu.« Mit der einen Hand das rauchende Stäudl drehend, wischte sich die Magd mit der anderen das Wasser aus den Augen. »In der Nacht will ich mich sicher haben. Für so ebbes is er gut, der Wacholder.«

Da riß ihr Roman den glimmenden Zweig aus der Hand. »Du Gans, du grupfte! Net amal Federn hast!« Der maulenden Magd den Rücken drehend, verließ er die Küche. Als er den langen, finsteren Gang durchschritt, der zu Hanspeters Kammer führte, blieb er plötzlich stehen, als wäre er im Dunkel gegen einen Balken gestoßen, der ihm den Weg versperrte. Die Tür der Krankenstube war nur angelehnt, matter Lichtschein quoll durch den Spalt heraus, und Roman konnte eine müde, leise Mädchenstimme hören, die aus der Bibel zu lesen schien.

»Mein Gott, ich rufe zu dir am Tage«, klang es aus der Kammer, »du aber antwortest nicht. Und ich rufe zu dir auch in der Nacht.«

Schwül atmend nickte Roman vor sich hin.

»Unsere Väter hofften auf dich, und du halfest ihnen. Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute.« Lisbeth verstummte.

Da hörte man das heisere Lachen des Kranken: »Lies weiter, Kindl! Da hast an Psalmer troffen, der paßt auf mich. A Leutspott bin ich. Und was denn noch alles?«

»Geh, Hanspeter, ich lies dir an andern. Schau, da hab ich an bessern: Gebet um Rettung der Unschuld, ein Psalm Davids, vorzusingen, auf acht Saiten.«

»Nix da! Nix da! D' Musi ghört ins Wirtshaus. Den andern mußt mir lesen!«

Man hörte einen Seufzer und dann die lesende Stimme wieder: »Ein Spott der Leute und ein Verachteter beim Volke. Alle, die mich sehen, spotten mein und sperren das Maul auf.«

»Und schlagen zu und wetzen 's Messer! Heißt's net ebba so?« Hanspeter lachte. »Der heilig David, der hat sich auskennt mit die Leut. Müssen schon selbigsmal in der alten Judenzeit so gwesen sein. Die macht keiner nimmer anderst. Is der Elias dagwesen und der heilig Johannes mit seim guten Sprüchl. Und da möcht's der Flohannes Ratzenspeck derpacken? Ah na! Hat schon recht, der Parigraffi. Lies weiter, Kindl! Der heilig David versteht sich auf d' Leut.«

Das Mädchen las: »O Herr, du warst meine Zuversicht, du bist mein Gott von Mutter Schoß an.«

»Freilich, ja, is wahr!« Die Stimme des Kranken zitterte. »Von meiner lieben Mutter an!«

»Sei jetzt nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe, und hier auf Erden ist kein Retter mehr. Große Stiere haben mich umgeben, gewaltige Ochsen haben mich umringet.«

Die Stimme der Lesenden schmolz zusammen mit Hanspeters trockenem Lachen. Das verstummte plötzlich, und man hörte die Bettlade krachen, als hätte der Kranke sich aufgerichtet.

»Ilsabeth? Löscht ebba d' Lampen aus, weil so a Rauch so a schlechter in der Kammer is?«

»D' Lampen brennt gut. Der Rauch kommt aus der Kuchl her, Abend für Abend. Leicht, daß die Kammertür a wengl offen is?« Lisbeth erhob sich, um nach der Tür zu sehen.

Da trat der junge Waldhofer in die Stube. »Guten Abend beinander!« Dann blieb er stehen und sah die Lisbeth an, die erschrocken vor ihm zurückgetreten war.

»Guten Abend!« sagte sie leis. Und als hätte sie sich plötzlich zu Hanspeters Meinung bekehrt, daß an der Lampe irgend etwas nicht in Ordnung wäre, so wandte sie sich gegen die Fensternische, schraubte den Lampendocht ein wenig höher und wischte mit der Schürze über den Zylinder.

In wortloser Freude hatte Hanspeter seinem Roman die Hände entgegengestreckt. Der faßte sie und bekam zum Willkomm einen so ausgiebigen Druck dieser schweren Fäuste zu fühlen, daß er lächelnd sagte: »Arg schwach mußt nimmer sein?«

»Mandi!« Dem Hanspeter schwammen die Augen. »So viel müd schaust aus! Und so viel plagen hast dich müssen und d' Arbeit tun für mich! So viel Unglegenheit muß ich dir machen!«

»Geh, was redst denn!« Roman sah zu Lisbeth hinüber, um deren Wangen das Lampenlicht eine rote Schimmerlinie zeichnete. »D' Hauptsach is, daß 's bei dir wieder besser ausschaut. No ja, weil halt so gut in der Pflegschaft bist.« Er schien nach Worten zu suchen. »Was grecht is, muß man sagen. Lisbeth, ich sag dir a Vergeltsgott. Für'n Hanspeter.«

Lisbeth schüttelte den Kopf.

»Wahr is's, Mandi, was d' Ilsabeth alles –«

»Ich weiß schon, ja!« schnitt Roman hastig das Lob ab, das Hanspeter beginnen wollte. Und schnuppernd hob er die Nase. »Jetzt schau, jetzt kommt der dalkete Rauch bis in d' Stuben da eini! Unser Hausmagd hat an Endl Selchfleisch in Rauchfang auffighängt, und da hat s' Wacholderdaxen einigfeuert, die narrete Urschl, weil s' meint, die machen an bessern Rauch!« Er versuchte über die Narretei der Hausmagd zu lachen. »'s ganze Haus is eindampft. Sonst hat's kein' andern Wert. Na na! Gwiß net!«

Langsam hatte Lisbeth den Kopf gedreht. Und nun lächelte sie. Und wollte sprechen. Aber Hanspeter kam ihr zuvor: »Gelt, Ilsabeth! Da hörst es jetzt!« Er tappte nach Romans Hand. »Weißt, Mandi –«

»Hanspeter!« stammelte Lisbeth.

»Weißt, Mandi, auf'n Abend allweil, wann so a Rauch gwesen is, hat sich 's Madl einbildt, daß –« Noch ehe Hanspeter sagen konnte, was Lisbeth sich eingebildet hatte, fing Roman schon zu lachen an. Übermäßig heiter klang das nicht. Und Hanspeter machte verwunderte Augen. »Ich hab ja noch gar nix gsagt.«

»Is schon gut, ja!« stotterte Roman. »Aber weißt, Ilsabeth, a bißl nötig wär's schon bald, daß man dich aussiräuchern tät, damit doch auch wieder a Stündl heimkommst und dei' Ruh hast. Schlafen müssen wir auch wieder amal!« Seine Stimme wurde ruhig und warm. »Brauchen tust es! Man sieht's dir am müden Gsichtl an. Und schau, jetzt bin ja ich da –«

»Na na, ich bleib schon!« fiel Lisbeth ein. »Du hast die ganze Woch hart schaffen müssen und därfst den Schlaf net graten. Mir macht's nix.«

»Jetzt folgst, Ilsabeth, und gehst heim!« erklärte Roman energisch. »Mußt dich net ganz runieren auch noch! Soviel Einsehen wird der Hanspeter selber haben.«

»Aber gwiß!« stammelte Hanspeter, obwohl seine Augen an Lisbeth hingen, wie die Augen des Hungernden am Brot. »Hab ihr's ja selber schon allweil gsagt.«

Schweigend, als gäbe es gegen die Stimme des jungen Waldhofers keine Einwendung, band Lisbeth ihr Kopftuch um und kramte ihr Nähzeug zusammen. Dann sagte sie Roman alles, was er wissen mußte, um den Hanspeter richtig pflegen zu können: »Da steht 's Flaschl mit der Medizin, da kriegt er jedes zweite Stündl an guten Löffel voll. Um Siebne hat er 's letztmal krieg. Wann's Neune schlägt, kriegt er wieder. Und da steht's Trinkwasser mit'm Zitronensaft. Da kriegt er, wann er dürsten tut. Nach Bedarf, hat der Herr Dokter gsagt. Aber wann er einschlaft, muß man ihn schlafen lassen, hat der Herr Dokter gsagt, weil der Schlaf die beste Medizin is.«

»Ja ja, dös glaub ich!« seufzte Roman. »A gsunder Schlaf! Da vergißt er alls, der Mensch.«

Das Päcklein mit dem Nähzeug unter dem Arm, trat Lisbeth zu Hanspeter und strich ihm mit der Hand über die Wange. »Pfüe Gott, Peterl! Und laß dir besser gehn! Und tu net viel reden, gelt! Und schau, daß d' schlafen kannst, recht gut und fest!« Sie beugte sich nieder und dämpfte ihre Stimme. »Und tu dir kein' Kummer net machen! Die Herrn beim Gricht, die wissen halt net, wer bist. Sonst täten s' dich belobigen, statt daß man dir an Adnotti schickt.«

Mit nassen Augen sah Hanspeter zu Lisbeth auf. »Ja ja, lassen wir's gut sein! Tauset Geltsgott, Kindl! Und tu mir d' Mutter grüßen!«

Als Lisbeth ging, fuhr Roman wie ein Erwachender auf. Und streckte die Hand. »Gut Nacht, Ilsabeth!«

Sie hob die Augen zu ihm und legte zögernd ihre Hand in die seine. »Vergeltsgott!« sagte sie leis.

Er schien dieses Wort nicht zu begreifen. »Warum sagst denn allweil Vergeltsgott? Zu mir?«

Ohne zu antworten, löste sie ihre Hand und verließ die Stube.

Roman sah verdrossen die Tür an. Dann wandte er langsam das Gesicht. »Hanspeter? Wär am End doch gscheider gwesen, 's Madl war dablieben?« Bevor er noch eine Antwort hatte, fuhr ihm ein neuer Gedanke durch den Kopf. »Oder meinst net, daß ich 's Madl heimführen soll? Wegen die Buben im Ort?«

Hanspeter schüttelte den Kopf. »D' Ilsabeth braucht kein' Wegmacher. Wann unser Herrgott auch für mich kei' Zeit hat, mit der Ilsabeth geht er.«

»Freilich, ja! Und besser als unser Herrgott kunnt ich's auch net machen.« Roman trat ans Fenster, wischte den grauen Beschlag von den Scheiben und guckte in den dunklen Abend hinaus. »Ja ja! So geht's halt!« Seufzend ließ er sich auf einen Sessel fallen, als begänne er plötzlich alle Ermüdung zu spüren, die das grobe Tagwerk der Woche in seinen Gliedern angesammelt hatte. Nach einer Weile fragte er: »Was hat dir denn d' Ilsabeth zugwispert, von die Grichtsherrn, und daß dich net kümmern sollst? Es hat mir auch der Vater schon ebbes gsagt.«

»Verbieten tun s' mir's halt, daß ich a Wörtl zum Guten red. No ja, wird halt net anderst sein dürfen. Wie s' ihn gmacht haben, den Parigraffi, so is er halt. Es wird halt auch so sein wie mit die Leut: so sind s' amal, und so muß man s' haben. Hat schon recht, der Herr Pfarr! Lassen wir die nacketen Spatzerln im warmen Nest! Is gscheider. Bei die Schlechten wird keins net flieget, und die Guten, die brauchen's net.« Hanspeter tastete nach Romans Hand. »Heut bin ich eh z'frieden, weil ich dich wiederhab. Jetzt, Mandi, jetzt bist es wieder! Und soviel gut hast gredt mit der Ilsabeth.«

Roman hatte die Lider geschlossen, als wäre brennender Schmerz in seinen Augen. Aber der Klang dieses Namens machte ihn munter. »Ich? Geh, was dir einfallt! Ich hab halt gredt, wie man redt unter Leut, kein bißl anders.«

»Na na! Soviel gut bist gwesen mit ihr. Und da sag ich dir Vergeltsgott. Mandi, jetzt hast es wieder, d' Lieb.«

Es war ein unglückseliges Wörtl, das Hanspeter da gefunden hatte. Roman fuhr gallig auf. »Laß mich nur grad mit der Lieb in Ruh!« Er betrachtete seufzend eines von den kleinen Schweizerhäuschen an der Wand, dessen Fenster in der matten Lampenhelle heimlich funkelten.

Es dauerte lang, bis Hanspeter in seinem Schreck und Kummer den Mut zu einer Frage fand. »Mandi? Sag mir doch um Christi Lieb –«

»Stad sollst sein! Net reden darfst, hat d' Ilsabeth gsagt.«

Hanspeter drückte die Hand auf seinen Mund.

Noch eine Weile stand Roman in der Kammer, wie einer, der nicht weiß, wozu er auf der Welt ist. Dann setzte er sich auf das Fußende des Bettes und lehnte sich in bleierner Müdigkeit gegen das Brett. Eine schweigsame Viertelstunde verging. Als es neun Uhr schlug, erhob sich Roman und füllte aus der Medizinflasche den Löffel, bis er überlief. »Peterl, jetzt kriegst! Mach auf!«

Hanspeter öffnete den Mund und schluckte.

Nun wieder Stille in der Kammer, in der man noch immer den scharfen Harzduft der verbrannten Wacholderzweige spürte. Dieser Rauch und dieses Schweigen schienen auf Roman, der seinen Platz am Fußende des Bettes wieder eingenommen hatte, eine betäubende Wirkung zu üben. Er drehte den Schnurrbart, klopfte mit den Fäusten auf die Knie, rieb sich die Nase – alles tat er, um sich wach zu erhalten. Aber die Müdigkeit in ihm war stärker als das Pflichtgefühl der ›Pflegschaft‹, die er übernommen hatte. Immer schwerer sank ihm der Kopf auf die Schulter, und langsam glitt er nach der Seite hin, so daß er auf Hanspeters Knie zu liegen kam. Eine Stunde um die andere verging. Roman schlief. Und Hanspeter – obwohl er unter der Last, die seine Knie zu tragen hatten, das ›Sandlaufen‹ in den Beinen bekam – rührte sich nicht, um den Schlummernden nicht zu wecken. Es war schon Mitternacht vorüber, als Roman im Schlaf erregt zu murmeln begann. Und plötzlich fuhr er auf. »Was is denn? Ilsabeth? Wo bin ich denn da?«

»Bei mir bist, Mandi!« sagte Hanspeter und reckte die Beine. »Und schau, sei gscheid, geh lieber auffi in dein Kammerl!«

»Na na, ich bleib schon und tu dich pflegen.«

»Wann ich aber nix mehr brauch! Soviel Schlaf hab ich, schau! Und wann ich allein bin, kann ich besser schlafen. Tust mir an Gfallen, wann d' auffigehst.«

»No ja, meintwegen, dir z'lieb halt!«

»Und morgen in der Fruh sagst deim Vatern, daß er vor der Kirch a Sprüngl einikommt zu mir. Ich hätt ebbes z'reden mit ihm.«

»Ja ja, ich sag's ihm schon! Gut Nacht, Ilsabeth, und laß dir's besser gehn!«

Hanspeter lachte ein wenig. »Gottsliebe Nacht, Mandi!« Und als die Tür sich geschlossen hatte, atmete er auf. »Heut braucht er sein' Schlaf. Lauft ihm schon alles durchanander. Sagt er gar Ilsabeth zu mir!« Er drehte sich auf die Seite. Doch lange lag er nicht ruhig. Die Lampe begann zu rauchen, immer trüber wurde ihr verschmachtendes Flämmlein, immer übler der Geruch, mit dem ihr Qualm die Stube erfüllte. Und immer mühsamer atmete Hanspeter. Aber das machte nicht der Rauch der Lampe, sondern der Sorgenqualm, der ihm den Kopf und das Herz erfüllte. »Grad ihr Häusl! Wann s' ihr nur grad ihr Häusl lassen täten! Was soll's denn anfangen, wann's kein Dach nimmer hat?« Die Hände ineinanderkrampfend, sah er hinauf zu der vom Lampenrauch umnebelten Stubendecke. »Du mein guter Herrgott! Dein Gsell in der Lieb bin ich gwesen von meiner Mutter an. Bist mei' Zuversicht und bist mir alles. Jetzt lus a bißl auf! Jetzt muß ich dir ebbes sagen –«

In der Lampe war nur noch ein kleines, bläuliches Flämmchen. Nun fing es zu zucken an, und das gab ein Geräusch, als fielen schwere Tropfen rasch nacheinander auf linden Boden.

Immer leiser klang dieser seltsame Schwanengesang des sterbenden Lichtes.

Und jetzt erlosch es.


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