Ferdinand Freiligrath
Neuere politische und soziale Gedichte
Ferdinand Freiligrath

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Wien.

Wenn wir noch knien könnten, wir lägen auf den Knien;
Wenn wir noch beten könnten, wir beteten für Wien!
Doch lange schon verlernten wir Kniefall und Gebet –
Der Mann ist uns der beste, der grad und aufrecht steht!
Die Hand ist uns die liebste, die Schwert und Lanze schwingt!
Der Mund ist uns der frommste, der Schlachtgesänge singt!
Wozu noch bittend winseln? Ihr Männer, ins Gewehr –
Heut ballt man nur die Hände, man faltet sie nicht mehr!
Es ist das Händefalten ein abgenutzt Geschäft –
Die linke an die Scheide, die rechte Hand ans Heft!
Die linke an die Gurgel dem Sklaven und dem Schuft,
Die Rechte mit der Klinge ausholend in der Luft!
Ein riesig Schilderheben, ein Ringen wild und kühn –
Das ist zur Weltgeschichte das rechte Flehn für Wien!

Ja, Deutschland, ein Erheben! ja, Deutschland, eine Tat!
Nicht, wo im roten Dolman einhersprengt der Kroat,
Nicht, wo vom Huf der Rosse das Donauufer bebt,
Nicht, wo vom Stephansturme der weiße Rauch sich hebt,
Nicht, wo aus Sklavenmörsern die Brandraketen sprühn –
Nicht dorthin, ernster Norden, gewaffnet sollst du ziehn!
Nicht dorthin sollst du pilgern zur Hilfe, zum Entsatz –
Allwärts, um Wien zu retten, stehst du an deinem Platz!
Räum' auf im eignen Hause! Räum' auf und halte Stich –
Den Jellachich zu jagen, wirf deinen Jellachich!
Ein dreister Schlag im Norden ist auch im Süd ein Schlag;
Mach' fallen unser Olmütz, und Olmütz rasselt nach!

Der Herbst ist angebrochen, der kalte Winter naht –
O Deutschland, ein Erheben! o Deutschland, eine Tat!
Die Eisenbahnen Pfeifen, es zuckt der Telegraph –
Du aber bleibst gelassen, du aber bleibst im Schlaf!
Beim Todeskampf der Riesin dastehst du wie von Stein –
Alles, wozu du dich ermannst, ein kläglich Bravoschrein!

Köln. 3. November 1848.


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