Egid Filek
Wie Dieter die Heimat fand
Egid Filek

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XIII.

Im trüben winterlichen Licht lag die Burg von Znaim auf ihrem hochragenden Felsen, der steil zur braunen Thaya abstürzt. Es war am Morgen des zehnten Dezembers. Eisschollen bedeckten den Fluß, in der nebligen Luft trieben Schneeflocken; der heisere Schrei der Krähen schnitt durch die Stille, vom Pöltenberg herüber kam der wimmernde 189 Ton des Klosterglöckleins wie schmerzlicher Klagelaut; alles kündete Erstarrung und Tod.

Ja, der Tod war eingezogen auf der königlichen Burg. Sigismund, der letzte Luxemburger, lag kalt und starr droben im schwarz ausgeschlagenen Prunksaal.

Gestern noch hatte er die böhmischen und ungarischen Herren an sein Lager gerufen und ihnen mit bewegten Worten »seinen lieben Sohn Albrecht und dessen Gemahlin« als Herrscher in seinen Landen vorgestellt; kein Auge war trocken geblieben, als die arme Elisabeth sich tief erschüttert über die welke Hand ihres Vaters beugte und die beiden kleinen Prinzessinnen leise vor sich hinweinten, ängstlich aneinander gedrückt wie zwei furchtsame Täubchen.

Am Kopfende des Bettes stand Kaspar Schlick, der Kanzler, mit gesenktem Haupte und gefurchter Stirn. Er dachte jenes Tages, da ihn der Kaiser auf der Tiberbrücke in Rom vor dem versammelten Volke zum Ritter geschlagen und in den erblichen Freiherrenstand erhoben . . . . Die Maisonne lachte ob der ewigen Stadt, hell leuchtete der vergoldete Engel auf dem Mausoleum des Kaisers Hadrian, die Volskerberge blauten in der Ferne, hundert Glocken läuteten zu Sigismunds Kaiserkrönung!

Und er dachte an die Krönung zum Könige von Böhmen in Iglau, an den feierlichen Einzug in Prag, die Begrüßung durch Rokyzana, die fliegenden Fahnen vor der Teynkirche, den Festzug auf dem Prager Ring . . . . wie ein Wandelbild zog das alles vor seinen Augen vorüber, dieses unglückliche Königsdasein, dem trotz allen äußeren Glanzes der innere Halt fehlte; als kranken Mann hatten sie ihn im November aus Prag im Armstuhl hinausgetragen, geleitet 190 von Gauklern und schönen Frauen; die Schmerzen in seinem arg entzündeten Fuß erpreßten ihm manchen heimlichen Klagelaut, aber er beherrschte sich und lächelte noch dem Volke zum Abschied zu. Es war ein Abschied für immer; als sich das Tor der düsteren Znaimer Burg hinter ihm schloß, da sagte ihm trübe Ahnung, daß er sie nicht mehr lebend verlassen werde.

Aber als Kaiser wollte er sterben, das war sein letzter Wunsch. Die zitternden Hände treuer Diener bekleideten ihn mit dem großen Ornat und trugen ihn die Stufen des Thrones empor. Aber der erwartete Tod kam nicht; und als es gar so lange dauerte, begehrte er in Mönchgewand gehüllt zu werden wie seine Ahnen. Und nun lag er da, bleich und stumm, kaum noch atmend, und harrte der Majestät des allermächtigsten Herrn dieser Erde, der unsichtbar schon vor der Türe stand und die gebietende Hand erhob.

Und der Kanzler dachte weiter und weiter in die Zukunft hinein, an alle die vielen guten und bösen Kräfte, die nun mit dem Tode des leichtsinnigen und eigenwilligen Herrn frei wurden und zu wirken begehrten – ob zum Fluche oder zum Segen des Reiches? Wer konnte es wissen?

Wachsam mußte man sein, wachsam und mißtrauisch wie es der tote Kaiser gewesen war sein ganzes Leben hindurch.

Die Kaiserin Barbara kniete zur Seite des Lagers und blickte düster zu Boden. Aber es war nicht Schmerz, was auf ihrem bleichen Gesichte stand, sondern ein dumpfes Brüten. Kaspar Schlick merkte es wohl. Was ging vor hinter dieser niedrigen weißen Stirn? 191

Als der Morgen graute, war alles vorüber.

In der Burgkapelle wurde der Leichnam des Kaisers für kurze Zeit aufgebahrt. Es war ein kreisrunder Raum mit einer Nische für den einfachen Altar, kaum zwölf Schritte im Durchmesser; durch kleine Fenster fiel der trübe Schein des Vormittags auf die steifen, gotischen Wandmalereien. Der Heiland über dem Altare hatte die Finger der Rechten mahnend erhoben; daneben war die Verkündigung dargestellt, die Hirten mit Horn und Tasche lagerten auf dem Felde und starrten zu dem Engel empor, die heiligen drei Könige brachten ihre Gaben zur Krippe; weiter oben sah man Premysl mit dem Pfluge und in seinem Gefolge die lange Reihe der böhmischen Herrscher mit Schilden und Fahnen, überragt von einem Engel mit gekreuzten Flügeln.

Das Gesinde der Burg drängte sich durch die niedrige Türe der Kapelle und nahm in tiefem Schweigen Abschied von seinem Herrn. Es war ein Lächeln um den schmalen Mund und doch ein Ausdruck wissender Überlegenheit, heimlichen Spottes über das Treiben der Lebenden.

Unter feierlichem Glockengeläute trug man den Leichnam des Kaisers in die Stadtkirche. Zwanzig Ritter mit brennenden Fackeln in den Händen geleiteten zur Rechten und Linken den silbernen Sarg, der drei Tage lang auf einem prächtigen Katafalk ausgestellt werden sollte; dann wollten sie ihn nach Großwardein führen zur ewigen Ruhe in der Gruft der Könige von Ungarn. Kaspar Schlick hatte die Barone und Edlen des Reiches in die Kirche berufen; feierlich wurden unter den vom Zeremoniell vorgeschriebenen Verwünschungen die kaiserlichen und königlichen 192 Siegel zerschlagen, damit niemand sich derselben bedienen könne.

In der folgenden Nacht hielt Dieter von Wolfstein mit fünf anderen Rittern am Sarge die Totenwacht.

Regungslos, wie aus Erz gegossen, standen die dunklen Gestalten; das Flackerlicht der großen, weißen Kerzen warf schimmernde Reflexe über Helme und Rüstungen; und unruhige Gedanken flackerten auch im Kopfe des jungen Ritters und ließen ihn selbst an diesem ernsten Orte zu keiner inneren Sammlung kommen.

Nach einem Vierteljahr glücklichen Zusammenlebens mit seiner lieben, treuen Margaret hatte ihn der Dienst wieder an die Seite des Herzogs gerufen; indes war die Trennung nicht allzu schwer zu ertragen, wußte er doch, daß er bald wieder längeren Urlaub erhalten werde, und es fehlte nicht an zufälligen Boten, die Grüße und Nachrichten hin- und hertrugen. Dazu kam, daß der Herzog ihm seit seiner Tat auf der Burg bei Pilgram rückhaltlos vertraute, was dem jungen Mann von ganz besonderem Werte war.

So hatte er denn ihm gegenüber auch aus seinem Mißtrauen gegen die Kaiserin kein Hehl gemacht. Dieter wußte genau, daß der Herzog keine Gewalt anwenden wollte und durfte, um seine Herrschaft nicht zu erschüttern; er wußte aber auch, wie sehr der König von Polen bemüht war, die Feinde des Herzogs auf seine Seite zu ziehen. Und seine Verbindungen reichten bis in den engsten Familienkreis des Habsburgers hinein.

Wahrlich, der neue Herrscher hatte einen schweren Stand!

Fest entschlossen, seinem Wohltäter in jeder Weise Dankbarkeit zu zeigen, wollte Dieter die Kaiserin und ihre 193 Umgebung scharf beobachten und jedes verdächtige Zeichen sofort dem Herzog melden.

Müde und durchfroren schritt er nach der Ablösung im Morgengrauen über den Burghof nach seinem Quartier und freute sich schon sehr auf ein paar Stunden ruhigen Schlafes im warmen Zimmer, als eine auffallende Erscheinung seinen Blick auf sich zog. Es war ein Mann in der Tracht eines Knappen, der auf der Höhe der Umfassungsmauer erschien, sorgfältig nach allen Seiten spähte und dann in den Hof hinabsprang, um in einem unbewohnten, baufälligen Flügel der Burg zu verschwinden.

Wenn ihn sein scharfes Auge nicht täuschte, war es derselbe, der kurze Zeit nach den Iglauer Festtagen mit einer Empfehlung des Grafen von Cilli in den persönlichen Dienst der Kaiserin getreten war.

Aber warum benützte er nicht den gewöhnlichen Eingang? Was hatte er in der Nacht draußen zu tun gehabt? Warum sah er sich so vorsichtig nach allen Seiten um?

Dieter beschloß der Sache nachzugehen. Trotz seiner Müdigkeit folgte er in einiger Entfernung dem Manne, der die enge Wendeltreppe emporstieg und sich dann in einem Seitengange verlor.

Weiter zu gehen schien Dieter nicht ratsam; er überlegte noch, ob er nicht lieber umkehren und seine Beobachtungen auf einen gelegeneren Zeitpunkt verschieben sollte, als er plötzlich über sich Stimmen vernahm.

Er befand sich in einem verwahrlosten Raum, dessen Decke an mehreren Stellen Löcher und Risse zeigte; das morsche Mauerwerk fiel in kleinen Brocken herab. Schritte näherten sich; er drückte sich an die Mauer, neigte den 194 Kopf und hielt den Atem an, um ja nicht entdeckt zu werden – denn die Stimme, die sich jetzt wieder vernehmen ließ, war die der Kaiserin Barbara.

»Und was habt Ihr ausgerichtet, Vaclav?«

»Alles ist bereit, Majestät – viertausend polnische Ritter stehen bei Tabor, um auf den ersten Wink in Mähren einzufallen. Unser gnädiger König Wladislaw bittet Euch, nach Eurem Ermessen den Zeitpunkt zu bestimmen.«

»Und hat Euch der König vertraut?«

»Brachte ich ihm nicht Eure Bandschleife als verabredetes Zeichen? Er lobte Eure Klugheit. Hättet Ihr einen Höhergestellten zum Boten gewählt, er wäre nicht so sicher und ungefährdet durch das Land der Gegner gekommen.«

»Aber wer soll unseren Freunden in Tabor den Befehl zum Losschlagen bringen? Ihr wisset doch, daß der Herzog überall seine Späher hat.«

»So lasset mich den Boten sein,« flüsterte Vaclav mit mühsam unterdrückter Freude. »Hier ist des Königs Ring mit seinem geheimen Handzeichen, das die polnischen Ritter wohl kennen – wer ihnen das bringt, dem folgen sie in den Tod, wenn es sein muß.«

Eine kurze Zeit war's oben ganz still – nur ein schweres Atmen ward vernehmbar, als kämpfe eine Menschenbrust mit einem großen, verhängnisvollen Entschluß.

»Werdet Ihr auch Eure Versprechungen halten, die Ihr mir gemacht habt? Großes steht auf dem Spiele und es ist ein hartes Werk für eine Frau, in das Geschick des Landes einzugreifen. Unsere Feinde sind stark und zahlreich.« 195

»Wir alle, die der reinen Lehre anhängen und Feigheit und Nachgeben hassen, wir stehen zu Euch,« sagte Vaclav. »Wir wissen, daß Eure Hand das Zepter führen kann – habt Ihr nicht im Sommer dieses Jahres unser Land Böhmen verwaltet mit Herrn Meinhard von Neuhaus, als der Kaiser auf dem Reichstag in Eger weilte? So will ich denn auch jetzt der Erste sein, der Euch huldigt. Blut und Leben für Barbara, Königin von Böhmen und Polen!«

»Vaclav, seid Ihr toll? Wenn uns jemand hört!«

»An diesem Ort kann uns niemand belauschen. Die ganze Besatzung liegt im tiefsten Morgenschlummer, ich selbst kam nicht durch das Tor, sondern bin über die Mauer gestiegen auf einem halsbrecherischen Luftwege, der nur mir allein bekannt ist. Aber nun entscheidet Euch, edle Herrin. Wann soll ich unsere polnischen Freunde rufen?«

»Was geschehen muß, soll bald geschehen,« erwiderte die Kaiserin nach einer kurzen Pause in entschlossenem Ton. »Rufe sie so rasch als möglich.«

»Bei Tag kann ich nicht fort,« sagte Vaclav sinnend, »darf doch niemand von der Bemannung die Burg verlassen – doch wenn Ihr Sorge tragen wollt, daß ich heute Nacht wieder die Wache vor Euren Gemächern erhalte, so bin ich morgen um diese Zeit schon auf dem Wege nach Tabor.«

»Es ist gut. Verlaßt mich jetzt und geht auf Euren Posten, schon rötet sich der Himmel. Seid vorsichtig!«

»Ich werde lachen müssen, wenn die Runde kommt und mich an derselben Stelle findet, die ich gestern abends 196 bezogen habe – oh, wenn der edle Herzog wüßte, wo ich die letzten Stunden zugebracht . . . ha, ha, ha . . .«

»Entfernt Euch, es ist die höchste Zeit. Habt Ihr den Schlüssel zu dem geheimen Pförtchen, das auf den Hauptgang . . .«

Dieter konnte nichts mehr hören. Die leisen Stimmen verklangen in der Ferne, das Geräusch der Schritte verlor sich. Langsam, mit schmerzendem Rücken richtete er sich aus seiner gebückten Stellung auf.

So hatte sich die Ahnung des Herzogs doch bewährt. Eine Verschwörung war im Gange, die sich gegen seine Herrschaft, vielleicht gegen sein Leben richtete. Nur rasch entschlossenes Handeln konnte helfen.

Dieter eilte zu seinem Gebieter und erstattete genauen Bericht.

Der Herzog hörte schweigend zu. Seine Lippen preßten sich fest aufeinander; die dunklen, furchterweckenden Brauen bildeten auf der Stirne einen dicken Strich. Nach einem langen, finsteren Brüten sagte er:

»So leid es mir tut, so werde ich die Kaiserin doch in ihrer persönlichen Freiheit für die nächste Zeit ein wenig beschränken müssen. Laßt in aller Stille die Wachen verdoppeln und alle Ausgänge dreifach besetzen; und wenn jener Spion es wagen sollte, heute nachts die Burg zu verlassen, so fangt ihn ab. Nehmt eine Anzahl entschlossener Männer nach Eurer Wahl mit, doch vermeidet jedes Aufsehen, verstanden?«

Dieter nickte.

»Und morgen mit dem Frühesten reitet zu meinem getreuen Godeschalk, der mit dem großen Geschütz bei Jaispitz steht und bringt ihm diesen Befehl.« 197

Er warf ein paar Worte auf ein Blatt und reichte es Dieter, der es unter sein Wams steckte.

Froh des ehrenvollen Auftrages, verneigte sich der junge Ritter vor dem Herzog und beeilte sich, von der Besatzung diejenigen auszusuchen, die ihm bei der Gefangennahme des Verräters behilflich sein sollten.

Von Dieters Gefolgschaft aus den Kampftagen von Pilgram waren nur wenige übrig geblieben, vor allem Werner, der seit dem Tode seines armen Freundes Heribald gar still und ernst geworden war, und Rolf Beneke, dem der Herzog den Oberbefehl über die Besatzung der Burg anvertraute. Der Rübendunst mußte sich verflüchtigen, da er gar zu viel auf seine eigene Rechnung plünderte und beständig mit Godeschalk in Fehde lag.

Auch der Räum-den-Kasten hatte anderweitige Beschäftigung gefunden; der zog im Gefolge Godeschalks von einer Raubburg zur andern und räumte dort die Kasten aus; und da er auf diesem Gebiete sehr tiefe und langjährige Erfahrungen besaß, so war er der Schrecken aller Stegreifritter und Buschklepper, die aus dem blutgedüngten Boden jener wilden Zeit aufschossen wie Giftpilze. Es kam auch vor, daß solch ein Geplünderter sich als alter Kamerad aus vergangenen Tagen entpuppte, da der Räum-den-Kasten es noch mit der anderen Partei hielt.

Mit Anbruch der Dämmerung bezog Dieter gemeinsam mit Werner einen Platz am Abhange des Burgberges, wo ein vorspringender Felsen sie gegen jeden Späherblick schützte, während sie selbst einen großen Teil der Befestigungen zu übersehen vermochten.

Die Nacht war bitter kalt. Vom Flusse her, der eine dünne Eisdecke trug, hörte man mitunter leises Krachen; 198 der Mond kroch zwischen den Wolken hervor und warf sein ungewisses Licht auf die Felszacken und Mauertürme. Mitternacht war vorüber; schwarz und totenstill lag die düstere Burg.

»Ob er uns wirklich ins Garn gehen wird? Vielleicht ist er gewarnt und verschiebt seinen Ausflug auf später,« meinte Werner und hauchte sich in die froststarren Hände.

»Dann lauern wir ihm in den nächsten Nächten wieder auf. Einmal muß er kommen.«

Und wieder Schweigen, fliegende Wolkenschatten und das leise Knacken des Eises.

»Armer Heribald«, seufzte Werner, in wehmütige Erinnerung verloren. »Weilst du jetzt da droben auf jenen Sternen und blickst mit deinen treuen Augen auf die Freunde, die deiner gedenken?«

Dieter legte tröstend die Hand auf seine Schulter:

»Unsere Liebe gehört den Toten; aber unsere Kraft, unsere Tat schulden wir denen, die noch mit uns auf Erden wandeln! Wir wollen treu sein, wie er es war, treu bis zum Tod.«

Werner stützte den Kopf in die Hand und versank in Sinnen.

»Horch!« mahnte Dieter. »Hörst du nicht ein Geräusch?«

Werner fuhr empor. Ein Stein hatte sich droben abgelöst und rollte zur Tiefe. Es galt die höchste Anspannung aller Sinne; vier scharfe Augen bohrten sich in das Dämmerlicht und starrten unverwandt nach oben. Jetzt erschien am Rande der Felsplatte eine Gestalt. Wie eine Schlange kroch sie vorwärts, an den Boden gedrückt, ruckweise und langsam, immer tiefer – einen gefährlichen 199 Weg, wo ein einziger Fehltritt unfehlbar zum tödlichen Sturz führen mußte.

Werner konnte den Blick nicht von ihm wenden. Irgend eine dunkle Erinnerung stieg in ihm auf. Wo hatte er diese Gestalt, diesen dicken und doch so gewandten Körper schon gesehen? Da – ein Streifen Mondlicht fiel zwischen den Wolkenfetzen auf den Kriechenden – Werner stieß einen dumpfen Laut aus. Jetzt erkannte er ihn. Es war derselbe Mann, der damals beim Verzweiflungskampfe um die Burg bei Pilgram neben dem Armbrustschützen gestanden, der den armen Heribald so gräßlich getötet – er hatte zur Mauer emporgedeutet, dem Kameraden das Ziel zu weisen. Freilich trug er jetzt andere Kleidung und den Bart und das Haar geschoren – aber die Stirn, die Nase, die Backenknochen – er wars!

Ruhig legte er den Pfeil auf die Armbrust.

Der Mann war kaum mehr zehn Schritte entfernt. Plötzlich sprang Dieter auf:

»Halt – wer da? Die Losung!«

Der Angerufene gab keine Antwort, sondern warf sich mit Blitzesschnelle zur Seite, hinter einem Steine Deckung suchend.

Es war zu spät. Schon hatten ihm die beiden Freunde den Weg abgeschnitten. Als er sich mit einem gewaltigen Sprung zur nächsten Felsplatte schwang, klirrte Werners Armbrust – ein gurgelnder Schrei verkündete, daß der Pfeil getroffen hatte.

»Du bist gerächt, armer Heribald,« murmelte er zwischen den Zähnen.

Der dunkle Körper kollerte von einem Felsblock zum andern, überschlug sich im Sturze, riß Steine mit sich, die 200 in hohen Bogen nach abwärts flogen; noch ein leises Stöhnen klang durch die Luft, ein unterdrückter Fluch . . .

Dann war alles still.

Unten in der Tiefe aber, hart am Rande des Flusses, lag der blutende Leichnam desjenigen, der an seiner Unversöhnlichkeit zugrunde gegangen war, weil er die Zeichen der Zeit nicht verstand – weil er mit Mord und Verrat erreichen wollte, was einzig nur dem guten Willen und der Duldung gelingen kann.

Die Kaiserin Barbara verbrachte eine unruhige Nacht.

Wie ein dunkelroter Blutstropfen hing die Ampel aus böhmischem Glas von der niedrigen Decke des Schlafgemachs. Der kleine Altarschrank mit den silbernen Heiligenbildern stand geöffnet; die ehrgeizige, ruhelose Frau warf sich auf den samtenen Betschemel und faltete die Hände; aber was sich den stammelnden Lippen entrang, war kein Gebet.

Erst gegen Morgen fand sie ein paar Stunden Schlaf.

Trübes Winterlicht sickerte durch die kleinen, bleigefaßten Scheiben. Die Kaiserin erhob sich vom Lager, müder als gestern abends, da sie sich hingelegt hatte. Langsam und verdrossen ließ sie sich ankleiden; aber die innere Unrast wurde stärker und stärker. Sie mußte hinaus in die frische Luft. Es war ihr, als ob die düsteren Mauern sie ersticken wollten.

Geleitet von einer ihrer Kammerfrauen, schritt sie aus dem Gemach und wollte die in den Schloßhof führende Treppe betreten.

Plötzlich kreuzten sich vor ihr zwei Hellebarden. Ein Kämmerer des Herzogs trat vor, von Bewaffneten gefolgt. 201

Sie maß ihn mit einem Blick grenzenlosen Staunens.

»Was soll das? Wer wagt es, der Kaiserin den Weg zu vertreten?«

»Verzeihung,« erwiderte der Höfling demütig, »es ist Befehl Seiner Gnaden, des Herzogs, daß Eure Majestät Ihre Gemächer nicht verlassen dürfen, bis das Weitere verfügt wird.«

Das stolze Weib erblaßte; aber in wenigen Augenblicken hatte sie ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden. Sie richtete sich empor und befahl:

»Ich wünsche den Herzog zu sprechen.«

»Er wird sofort erscheinen und bittet Euch, in Euren Gemächern oder in der Wandelbahn seiner zu harren.«

»Dieser empörende Befehl muß zurückgenommen werden. Ich will doch sehen, ob man mir verbieten kann, am Sarge meines Gemahls . . .«

Der Kämmerer trat mit einer tiefen Verbeugung zur Seite; Herzog Albrecht stand vor der erzürnten Frau.

»Niemand wird Eurer Majestät verwehren, Eure Andacht zu verrichten; gestattet nur, daß ich Euch einige meiner Ritter als Begleitung mitgebe.«

»Soll das bedeuten, daß ich Eure Gefangene bin?« zischte sie ihn an.

»Es soll bedeuten,« sagte der Herzog mit leiser Stimme und fest auf sie gerichtetem Blick, »daß mir kein anderes Mittel übrig bleibt, wenn ich nicht gegen ein Mitglied meiner Familie Gewalt anwenden will.«

»Wie sagt Ihr? Gewalt? Und warum das?«

»Das wisset Ihr so gut wie ich.«

»Woher könnt Ihr wissen . . .« 202

Der Herzog hob die Hand, als wolle er dem Gespräch ein Ende machen:

»Das lasset mein Geheimnis bleiben. Es soll vorkommen, daß in alten Schlössern die Wände Ohren haben und mancherlei vernehmen, was nicht für Fernstehende gesprochen ist.«

Die Kaiserin erblaßte. Ihre Knie zitterten; sie stützte sich schwer atmend auf die Schulter der Kammerfrau.

»Wo ist mein Neffe, der Graf von Cilli? Ich muß ihn sprechen.«

»Auch diesen Wunsch kann ich Euch gegenwärtig nicht erfüllen. Füget Euch der Notwendigkeit und bedenkt, daß dadurch größeres Übel verhütet wird.«

Er neigte sich vor der Kaiserin und wandte sich zum Gehen, die stolze Frau in einem Zustande unsäglicher Scham und Verwirrung zurücklassend.

In seinem Arbeitszimmer erwartete ihn Kaspar Schlick mit Urkunden unter dem Arme. Müde sank er in einen Armsessel:

»Welch furchtbare Last ist die Krone! Noch trage ich sie nicht und doch drückt sie mir heute schon die Seele blutig. Was bringt Ihr mir, Herr Kanzler?«

Kaspar Schlick überreichte die Pergamente:

»Die Herren Ulrich von Rosenberg, Meinhard von Neuhaus und Haschek von Waldstein schwören Euch aufs neue treuen Gehorsam. Im Landtag wird unsere Partei die Mehrheit der Stimmen haben, so viel steht schon heute fest«, berichtete er.

Der Herzog überflog die Schriften.

»Es sind mächtige und einflußreiche Herren. Aber mehr wert ist mir die Treue des Mannes, der schon meinem 203 Schwiegervater die wichtigsten Dienste getan hat – Kaspar Schlick, kann ich mich auf Euch verlassen?« Wie eine Bitte klang es.

Der Kanzler legte schweigend die Hand auf die Brust.

»Ich danke Euch, lieber Schlick. Vernehmet nun meine Pläne. Es ist unbedingt erforderlich, daß ich sofort nach Stuhlweißenburg eile, um den Leichnam unseres kaiserlichen Herrn der Erde zu übergeben und mich selbst zum König von Ungarn krönen zu lassen. Ihr bleibt unterdessen hier und verhandelt mit den mir ergebenen Mitgliedern des böhmischen Landtags.«

»Wäre es nicht besser, wenn Euer Gnaden noch zuwarten wollten, bis der Landtag zusammengetreten ist?«

»Nein, Schlick. Meine Sache ist bei Euch in guten Händen und Eure wunderbare Beredsamkeit, Eure Macht auf die Gemüter der Menschen werden mir um so nützlicher sein, als mir selbst die Gabe der Rede versagt ist. Aber in meiner nächsten Umgebung sind Dinge vorgefallen, die zum raschen Handeln drängen. Ich fürchte, daß . . .«

Er vollendete den Satz nicht; draußen im Vorsaal klirrten Waffen und eine jugendliche Stimme sprach:

»Nein, nein, es leidet keinen Aufschub. Dinge von Wichtigkeit . . .«

»Was gibt's?« fragte der Herzog den eintretenden Diener.

»Der Junker Werner bittet um Gehör bei Euer Gnaden, um Bericht zu erstatten.«

»Herein mit ihm. Nun, Werner, was für Botschaft bringt Ihr mir?« lächelte Albrecht, der den frischen, jungen Burschen gut leiden mochte. 204

Werner verneigte sich:

»Ritter Dieter von Wolfstein sendet mich mit dem Befehl, Euch diese Gegenstände zu übergeben.«

Er zog einen goldenen Ring und ein zusammengelegtes Pergament hervor und legte beides vor dem Herzog auf den Tisch.

»Was ist das? Ich sehe Blutflecken auf dem Blatt . . .«

»Das Blut eines Verräters, Herr.«

Albrecht entfaltete den Brief und las. Seine Miene verdüsterte sich, er biß sich auf die Lippen und fragte:

»Woher stammt das?«

»Es wurde einem Mann abgenommen, der in dieser Nacht heimlich über die Burgmauer kletterte. Wir lauerten ihm auf und schossen ihn nieder.«

Schweigend reichte der Herzog seinem Kanzler das Blatt.

»Erkennt Ihr die Schrift, Schlick?«

Der Kanzler hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als er mit dem Ausdruck des größten Schreckens emporfuhr:

»Ein Brief der Kaiserin an den König von Polen – was soll das bedeuten?«

»Das will ich Euch sofort erklären, Herr Kanzler. Ist der Mann tot?« fragte er, zu Werner gewendet.

»Mögen alle Feinde meines Herrn so enden wie er.«

»Es ist gut. Noch etwas, Werner: Wo ist der Graf Ulrich von Cilli?«

»Der Graf ist plötzlich abgereist«, berichtete Werner. »Niemand von seinem Gefolge weiß, wohin.«

»Ich danke Euch.«

Eine Handbewegung verabschiedete den Boten.

Kaspar Schlick hatte den Brief zu Ende gelesen und sah seinen Herrn kopfschüttelnd an. 205

»Begreift Ihr nun, wie notwendig es ist, daß ich so rasch als möglich nach Stuhlweißenburg zur Krönung fahre?«

»Ich begreife«, erwiderte der Kanzler.

»Und dann wollen wir nach Breslau, mit unserem Vetter Wladislaw von Polen ein Wörtlein wegen dieses Briefes zu reden. Natürlich wird er ihn als die Fälschung eines Wahnsinnigen erklären. Wie gut ist's, daß die Toten schweigen!«

 


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