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Einführung

Fichte ist durchaus die heroischste Persönlichkeit aller, die jemals in der Welt nur durch Denken, Reden und Schrift gewirkt haben, aller, die je auf das Wort allein sich angewiesen fanden. Ein Krieger war er und ein Priester des schaffen wollenden Ernstes. Nur die großen Männer der Tat sind ihm ebenbürtig vergleichbar, wobei natürlich Religionsstifter und Reformatoren zu den Heroen der Tat gezählt sind. Auch Fichte redete gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten; und die eigentlichen Theoretiker, die Nur-Philosophen, Weltverbesserer und wen sonst man noch zu den »Geisteshelden« zu rechnen gewohnt ist, sie alle erscheinen kleiner, wenn man ihre Gesamtpersönlichkeit neben Fichte zum Vergleich stellt. Auch sie haben hinreißende, heldenhafte Gedanken geäußert, mehr oder minder, hier und da, in vielen guten Stunden; keinem einzigen aber war Stärke der Überzeugung und des Willens, Großartigkeit der Seele in solchem Maße verliehen, so unverlierbar in jedem Moment des Lebens zu eigen, so selbstverständlich, daß ein minder großes Wort durchaus undenkbar wäre. Freilich muß die heutige Welt Fichte zu lesen erst lernen; die Sprache des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist nicht mehr ganz unsere Sprache. Wer seine Worte zum ersten Male liest, ist heute leicht der Gefahr ausgesetzt, ihm Unrecht zu tun und nur ein ethisches oder priesterliches Pathos aus ihnen herauszuhören, das ihn langweilt, abstößt und ihm vielleicht gar als unehrlich verdächtig ist, so wie es der Gegenwart auch mit Schiller nicht immer ganz richtig gelingt. Aber man hat Fichte noch gar nicht verstanden, solange man nicht begreift, daß ihm nie ein einziges seiner Worte jemals Pathos war, sondern gerade das Stärkste und Höchste der einfache Ausdruck seines großen, immer wahrhaftigen Wesens.

Fichtes Natur ist ganz und gar Erz, und nur eherne Männer sind ihm überhaupt ähnlich, niemals aber war je ein Mann mehr als er aus einem Gusse. Er gehört viel mehr in die Reihe der Luther, Calvin, oder der Stein und Bismarck, als in die Reihe der Kant, Schilling und Hegel. Er, der abstrakteste Kopf unter den modernen Philosophen und wegen seiner Utopien berüchtigt, war doch zugleich ein geborener Politiker. Sein »Vermächtnis« allein (S. 275) würde genügen, um zu erweisen, daß er besaß, was zu allen Zeiten selten ist und besonders in Deutschland, ganz besonders in Deutschland vor 100 Jahren, selten war: politischen Blick, politisches Urteil und reale politische Ziele. Daß ihm durch seinen Lebensgang und unter den damaligen Zeitumständen politische Wirksamkeit verschlossen blieb, daran hat er gelitten; es ist dies eine, nicht die einzige, Tragik seines Lebens. Wo er irgend vermochte, drängte er sich zur Tat und zum Kampf. Sein ganzes Leben ist ein Heldenleben.

Da ist zuerst der Kampf des Überstolzen mit bitterer Armut und, was schwerer war, mit dem eigenen Stolze in und ob dieser Armut, zugleich ein qualvolles, bis zu seinem 30. Lebensjahre vergebliches Ringen des an Gedanken und Plänen Überreichen nach einer Form für seine Wirksamkeit; – sodann, nachdem diese Form gefunden, eine fast beispiellose Arbeit während der nur 22 Jahre, die ihm noch gegönnt waren, ein einziger ununterbrochener Siegeszug durch das gesamte Reich der Geisteswissenschaften, mit jedem neuen Werk eine neue Provinz zugleich betretend und erobernd, Erkenntnislehre, Ethik, Recht, Politik, Nationalökonomie, Geschichtsphilosophie, Pädagogik, Religionswissenschaft, diese alle, eine nach der andern, aber jede ganz und dauernd in Besitz nehmend, die meisten neu gestaltend, überall, wo er ein altes Gebäude einriß sofort an dessen Stelle den größeren, kühneren Grundriß eines neuen entwerfend, oder, um sein eigenes Gleichnis zu brauchen, das besser ist als alle, die wir zu finden vermöchten, und womit er ungewollt sich selbst am besten gezeichnet hat, überall »neue Schachten eröffnend und Licht und Tag einführend in ihre Abgründe und Felsmassen von Gedanken schleudernd, aus denen die künftigen Zeitalter sich Wohnungen erbauen«; – daneben noch manche Fehde ausfechtend gegen wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Gegner, gewaltigere Sträuße als die sonst üblichen deutschen Gelehrtenpolemiken, worin er sein Lebenswerk, seine Lehre, bald aber auch seine Lehrfreiheit und seine Ehre verteidigen mußte und mit grimmigen Streichen verteidigte, – und da ist endlich, nicht gerade der Abschluß, wohl aber der Höhepunkt seines Lebens, sein letztes, höchstes und menschlichstes Heldentum vom Winter 1807/8, die »Reden an die deutsche Nation«, mit denen er wirklich und mit Bewußtsein sein Leben einsetzte im Kampf gegen Napoleons Allmacht für die Ehre und Zukunft des Vaterlandes.

Schinkel pflegte zu sagen, das beste Porträt Fichtes sei der Kopf des Großen Kurfürsten von Schlüter auf der Langen Brücke zu Berlin. Als Ernst Moritz Arndt zum ersten Male mit dem »Löwen« Stein persönlich zusammengetroffen war, da ging er »gerührt und bewegt durch die Haltung, Art und Rede des ritterlichen Mannes« in sein Kämmerlein, und eine Ähnlichkeit, die er zunächst nicht recht unterbringen konnte, verfolgte ihn. »Diese Anwandlung«, so schreibt er selbst, »von Erinnerungen und Ähnlichkeiten und meine Grübelei nahm die folgenden Tage noch zu, bis ich es einmal plötzlich hatte und rufen mußte: Fichte! Ja mein Fichte, mein alter Fichte war es fast leibhaftig: dieselbe gedrungene Gestalt, dieselbe Stirn, die auch bei Fichte zuweilen recht hell und freundlich glänzen konnte, dieselbe mächtige Nase bei beiden, nur mit dem Unterschiede, daß dieser mächtige Schnabel bei Fichte in die Welt hineinstieß, als die da noch suchte, bei Stein aber wie bei einem, der sein Festes, worauf er stoßen sollte, schon gefunden hatte. Beide konnten freundlich sein, Stein noch viel freundlicher als Fichte; in beiden ein tiefer Ernst und zuweilen auch eine schreckliche Furchtbarkeit des Blickes, der bei dem Sohn des deutschen Ritters gelegentlich doch viel schrecklicher war als bei dem Sohn des armen Lausitzer Webers.« Die Ähnlichkeit mit zwei solchen Kämpen ist wohl nicht ohne Bedeutung. Aber auch an Bismarck fühlt man sich zuweilen erinnert. Man lese nur, was er S. 120 bei Gelegenheit der Notlüge ausmalt. Was er über Hofleben an die Braut schreibt (S. 15), ist genau das Geheimnis, dem Bismarck bei Hofe und in der Diplomatie seine Siege verdankte: Geradheit unter Lügnern, entsprungen aus dem Gefühl der eigenen Stärke. Bismarck als Diplomat war nur soweit ehrlich, wie er die starke Macht in sich oder hinter sich fühlte, Fichte in den idealen Kämpfen, die er ausfocht, war es immer, unbedingt und aus Prinzip. Steins leider heute fast gar nicht mehr gekannte, große Natur ist innerhalb seiner Zeit Fichten am nächsten verwandt. Beide haben zuletzt an ganz denselben Aufgaben gearbeitet, an politischen und sozialen Reformen. Beide hatten an Napoleon ihren größten äußeren Gegner, beide zürnten ihrem Vaterlande, weil sie es liebten, beide sahen in Deutschland die Wurzeln des Übels in den gleichen Dingen: Schwäche der Regierungen, unmännliche Bildung und politische Unbildung der Regierten, beide wollten ein einiges, freies Deutschland, stark nach außen, Bürger, nicht Untertanen im Innern. Ein bedeutendes Stück von dem, was Fichte unbeholfen und utopisch forderte, hat Stein ins Leben eingeführt, geleistet. Aber ein gutes anderes Teil ist auch noch heute ungetan. Was Arndt an den beiden Nasen unterschied, trifft genau den wirklichen Unterschied in beider Wesen, Fichte suchte allerdings, wo Stein schon gefunden hatte. Aber er suchte auch noch mehr und vieles, was zu suchen wir von ihm erst wieder lernen müssen. Begrenzt ist die Tat, unendlich der schöpferische Gedanke.

Der arme Weberssohn war aber auch ein Freiherr auf seine Weise. Die Souveränität der dominierenden Persönlichkeit war ihm von Gottes Gnaden in die Wiege gelegt, und seine ganze »Wissenschaftslehre« ist die Verkündung der absoluten Herrschaft und der freien Herrlichkeit des sich selber klar gewordenen, unerschütterlichen Willens. Wenn je eine Philosophie diesen Namen haben darf, so ist die Weltanschauung Fichtes die eines geborenen Freiherrn. Das Amt, für das er als Priester und als Held leben und sterben wollte, war die Erziehung seiner Nation zur Freiheit, zur inneren Freiheit und nicht minder zur äußeren freien Verfassung.

Eine so hohe Bewertung Fichtes kann ich hier nur aussprechen; sie zu begründen, muß ich an anderer Stelle versuchen. Auch ich glaube alle die »Aber« zu kennen, die sich gegen ihn erheben lassen. Seine geradezu dogmatische Überzeugung, nicht nur daß alles, was da geschehen solle, vom Menschen a priori erkannt werde, sondern daß diese Welt des Gesollten in Wahrheit die eigentliche und die einzige Wirklichkeit sei, diese ethische Mystik trennt als eine schwer übersteigbare Kluft den Denker Fichte von uns modernen Menschen. Oder will man sich von seiner Einseitigkeit als Mensch am schnellsten überzeugen, so lese man nur, was er über Weib und Ehe schreibt (S. 174). Aber es war hier nicht meine Absicht, eine Kritik Fichtes zu schreiben, sondern nur erst einmal seine Größe, die heute fast niemand kennt, vor aller Augen zu stellen.

Vor aller Augen! Die Auswahl ist durch diese Absicht bedingt; alles was nicht als allgemein verständlich gelten konnte, wurde ausgeschlossen. Um dieses Zweckes willen wurde der Mystiker Fichte fast ganz und gar geopfert. Er kommt in unserem Buche kaum zu Worte, geschweige denn zu seinem Recht. Aber er verdient nicht nur, sondern er fordert auch eine besondere Auferstehung in einem eigenen Neudruck. Einige Stellen freilich aus der »Anweisung zum seligen Leben« mußten auch hier aufgenommen werden, damit das Bild Fichtes nicht unvollständig erscheine. Aller »Idealismus« ferner, im erkenntnistheoretischen oder metaphysischen Sinne des Worts, wurde selbstverständlich ausgeschlossen: nur der ethische Idealismus verblieb. Was dagegen dieses Idealisten scharfen Blick für das reale Leben kennzeichnet, wurde, als am meisten überraschend und am meisten unbekannt, bevorzugt. Man könnte das durch solche Auswahl herausgearbeitete Bild den »profanen« Fichte benennen, obgleich auch so noch der umfangreichste Abschnitt der über die »Religion« geworden ist. Das war unvermeidlich, denn im letzten Grunde war ja doch alle Philosophie Fichtes, wie er selbst oft genug bezeugt, nichts als Religion. Die ganze Welt ward ihm zur Kirche, der er das Dogma und Evangelium der Freiheit zu künden habe. Theologen werden seinen Realismus bewundern, da wo er die deutsche Zukunftskirche mit allen Einzelheiten ausmalt (S. 252). Die Politiker und Historiker aber werden, wenn sie Fichtes »Machiavell« (S. 132) und »Vermächtnis« (S. 275) vielleicht zum ersten Male in ihrem Leben in unserem Büchlein zu lesen finden, erstaunen, welche ihrem eigenen Gebiete angehörigen Leistungen von erstem Range die Philosophen und Theologen, unfähig sie zu würdigen, ihnen ein Jahrhundert lang unterschlagen haben. Eine Ehrenrettung Machiavellis, ja sogar ein Wort politischen Verständnisses für Cesare Borgia bei Fichte zu finden, ist wohl von allen Überraschungen die überraschendste. Auch für die Geschichte der Geschichtsschreibung ist die Bedeutung dieses Versuchs insbesondere für gerechte Auffassung der Renaissance noch nirgends gewürdigt. Fichte aber ist in diesem Aufsatz, der in Königsberg unter den Waffen entstanden ist, – nicht kühner denn je, er war sich immer an Kühnheit gleich, aber noch freier denn irgendwo, denn er scheint über die Schranken seines eigenen Geistes hinauszuwachsen, er ward hier beinahe frei – von sich selber. Noch bedeutender, weil mehr Zukunftskeime in sich tragend, ist der Entwurf, den er im Anschluß an den Aufruf König Friedrich Wilhelms III. »An mein Volk« nur für sich allein niederschrieb. Er enthält im Keime die ganze »Staatslehre«. Ich habe ihn unverkürzt, jedoch nur als Anhang abzudrucken beschlossen, weil er an die Fähigkeit des Lesers, mitzudenken, besonders hohe Ansprüche stellt. Denn die hinausgeschleuderten Felsmassen von Gedanken liegen hier noch wild und ohne alle Ordnung übereinander. Aber hier wie nirgends hat man auch die Freude, Fichten bei der Lernarbeit zu belauschen. Er lernte freilich auch nur von sich selber. Den Titel »Das Vermächtnis« habe ich diesem Entwurf gegeben und möchte der Mahnung, die in diesem Worte liegt, nicht viel hinzufügen. Die Sätze, mit denen dies Vermächtnis und unser Büchlein ausklingt, so überschwänglich sie dem erscheinen mögen, der überhaupt an kein Ziel mehr in der Zukunft zu glauben vermag, enthalten doch das einzige Ziel aller im Leben aufsteigenden modernen Nationen, und nur diejenige Nation wird diesem Ziele sich nähern, die an sich selbst und an ihre Bestimmung den Glauben hat, den Fichte der deutschen Nation allein zuweist.

Die biographische Einleitung wurde so knapp bemessen, wie möglich war, ohne der Großartigkeit dieses Stoffes Abbruch zu tun. Allen Verlockungen, auf die Stellung Fichtes in der Geschichte der Philosophie und Weltanschauung Europas im 19. Jahrhundert, oder auf seine Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft wirklich einzugehen, wurde mit schwerem Herzen, aber gänzlich entsagt. Fichte soll nur erst einmal allein für sich selber zeugen. Wenn der Leser nur halb so viel Begeisterung empfinden sollte, wie der Herausgeber beim Einsammeln dieser Schätze aus den 13 Bänden genossen hat, so wird ihm dies Büchlein ans Herz wachsen. Das weitaus Schwerste bei dem Sammeln war das Wegwerfen. Die vom Verleger anfangs gewünschte Bogenzahl ist dennoch bedeutend überschritten. Für diese Nachsicht sei ihm auch öffentlich der Dank abgestattet.

Nur ein Wort mag ich hier zum Schlusse nicht gern dem Gebot der Kürze aufopfern, über den Kontrast zwischen Fichte und Goethe, durch den beider Grenzen am besten erkennbar werden. Goethe ist, was Bildung angeht, das größte Phänomen aller Zeiten. Alle Menschen sind arm neben seinem Reichtum, beinahe alle scheinen in ihm irgendwie enthalten und ganz aufzugehen, es scheint, als ob er jedem alles zu geben vermöchte, wonach er überhaupt suchen könne. Alle Bildung der 25 Jahrhunderte vor ihm scheint er in sich aufgenommen zu haben, alle Bildung des 19. Jahrhunderts scheint irgendwie mit ihm zusammenzuhängen. Er ist wie ein Ozean, alle Ströme münden in ihm, und alle Wasser steigen neu aus ihm zu den Wolken, um endlich wieder in ihn zurückzukehren. Man kann lange Zeit die Grenzen dieses Mannes nicht nur nicht erblicken, sondern man möchte am liebsten zweifeln, ob das Wort »Grenzen« überhaupt eine Anwendbarkeit auf ihn habe. Der Hinblick auf Fichte zeigt sie am besten. Man ist gewohnt zu sagen: Goethe und Kant, wenn man die größten Gegensätze aussprechen will. Ich würde vorziehen zu sagen: Goethe und Fichte. Einen weiteren Abstand gibt es nicht in der Welt des deutschen Geistes als zwischen diesen beiden Polen. Was ist deutsch? Alles Menschentum, das zwischen ihnen denkbar ist. Kant beherrscht von den beiden Provinzen, die Goethen unzugänglich waren, nur die eine, Fichte allein alle beide. Welches sind diese beiden Unmöglichkeiten für Goethe? Rein abstrakte Wissenschaft (Erkenntnistheorie ebenso wie Mathematik) ist die eine, die aggressive Tätigkeit, jene ausschließlich-männliche Tätigkeit, die herrschen, die sich anderen aufprägen, die auch vernichten will, was ihren Idealen im Wege steht, ist die andere. Der Bildung, die wir unsere klassische nennen, fehlt es an Männlichkeit. Die Blücher, Scharnhorst, Stein konnten mit ihr nichts anfangen und blieben abseits. Heinrich von Kleist, der männlichste Dichter der Epoche, ging daran zugrunde, daß er von Weimar nicht gewürdigt werden konnte. In dieser Weimaraner Atmosphäre war Schiller noch immer der männlichste Künstler. Goethe nannte schon einen Karl August eine dämonische Natur. Fichte empfand sich selbst neben einem Napoleon ebenbürtig an Willenskraft. Nichts liegt mir ferner, als die Modenarrheit derer mitmachen zu wollen, die heute glauben, Goethen »feminin« schelten zu dürfen. Mir ist er nicht feminin, der Verfasser des Götz und des Faust; er, der uns alle »von Philisternetzen befreit« hat und wahrlich nicht nur durch das, was er dichtete und forschte, sondern am meisten durch das, was er war, er, der am Abend seines Lebens die Tagesmeinung unter sich warf mit den stolzen Worten: »Ich muß nun an die Enkel denken!«, und der allen Halben und allen Schwächlingen das beinahe Fichtesche Wort zuherrschte: »Ihr seid gar nicht gewesen!« Aber neben Fichte erscheint Goethe, auch da, wo er am tätigsten und am energischsten ist, als Mann des Geltenlassens, ja des Gewährenlassens. Goethes Ernst galt eben ganz anderen Dingen als Fichtes Ernst. Goethe nahm das Leben im ganzen an oder hin, wie es sich von selber darbot. An den Institutionen, die er antraf, und an die er selber sich anlehnte, ändern zu wollen, lag ihm fern, am fernsten an den politischen Institutionen, die doch auf bürgerliche Unfreiheit gegründet waren. Innere Freiheit hatte er ja auch innerhalb dieser Schranken sich zu erobern gewußt. Aber jeden Keim von Menschenbildung, den er irgendwo zum Wachsen bereit fand, nahm er an sein Herz, um ihn zu pflegen und zum Gedeihen zu bringen; und seine stärkste Entrüstung wird laut, wo ihm seine Pfleglinge von außen gehemmt oder geschädigt werden oder auch selber verwuchern zu wollen scheinen. Fichte aber suchte einen neuen Boden, auf dem alle Keime der Zukunft besser gedeihen könnten. Das Zeitalter der individuellen Selbstbildung gipfelt in Goethe, es endet auch eigentlich mit ihm. Das Zeitalter des sozialen Ethos beginnt auf deutschem Boden mit Fichte. Er suchte über das Ideal der innerlich freien Persönlichkeit hinaus noch das alte, heute wieder neue hellenische Ideal des freien Staates, einer Gemeinschaft innerlich und äußerlich freier Bürger. Er suchte über das Ideal der Einzelbildung hinaus das Ideal einer nationalen Bildung und einer Gleichheit für alle Glieder der Nation in der Möglichkeit sich selbst zu bilden. Goethe ist eine Vollendung, Fichte ein neuer, gewaltiger, auch gewaltsamer Anfang; jener aller Erben reichster, dieser ein Ahne; jener die reifste und schönste Frucht an einem uralten Baume der Menschheit, dieser die harte und geradeaus in die Tiefe strebende Pfahlwurzel eines neuen Baumes, dessen Früchte auch von uns noch keiner gesehen hat. Fichte mußte ungerecht gegen die wertvollen Erzeugnisse seiner eigenen Zeit sein, denn der ganze Boden des 18. Jahrhunderts, aus dem sie wuchsen, war es, den er negierte; aber die Ideale, denen er seinen ganzen ungeheuren Ernst und Lebensdienst widmete, sind die modernen Aufgaben und Ziele des zwanzigsten und der kommenden Jahrhunderte geworden. Wer nun bei seinem Goethe die dankbare Ehrfurcht vor der Natur und den gütigen, alles vergoldenden Blick für alles Menschliche gelernt hat, den friert wohl zuerst ein wenig bei diesem Fichte, dem die Natur draußen nur ein »Material der Pflicht« war, und der die Natur im Menschen in jedem Augenblick zu beherrschen beansprucht. Seine Feinde schalten ihn einen Tyrannen, einen »Mahomet«. Aber auch die agressive Männlichkeit ist dem Leben unentbehrlich, so wie die völlige Abstraktion im Reiche der Wissenschaft, und auch die strenge Kälte im Haushalte der Natur. Und so möge ein letztes Gleichnis den Kontrast beider Männer zusammenfassend beschließen: Wenn Goethe so reich ist wie die ganze deutsche Landschaft des Mittelgebirges, mit ihren Wäldern und Feldern, Strömen und Seen, Wiesen und Gärten, in denen auch einige liebliche Früchte des Südens zu reifen nicht verschmähen, wenn er bei all seiner Milde und Fülle auch nicht ohne Erhabenheit ist, weil man von den Höhen seiner Berge im Hintergrunde das Hochgebirge erblickt und das Meer erahnt, so ist Fichte nur ein einziger Berg des Hochgebirges selber. Mancher mag ihn den »Mönch« nennen, und manchem mag er das »Schreckhorn« heißen. Er hat an seinem Gürtel nur eine herbe Alpenflora, droben aber Gletscher und ewigen Schnee, denen nicht jeder mehr nahen kann. Aber diese Gletscher tränken die Ströme des mittleren und niederen Landes, auch sie sind Quellen ewigen Lebens und – Deutschland mag seinen Alpenhintergrund nicht missen. Wir haben erst im 19. Jahrhundert die rechte Freude am Hochgebirge, an seinen Schrecknissen und Wagnissen entdeckt und gelernt. Versuche es der Leser auch einmal mit Fichte. Er gehört zu denen über 3000! Wohnen kann er da oben nicht, wie in Goethe, aber was er sonst von den hohen Häuptern heimzubringen gewohnt ist, eine freier und höher atmende Brust, ein stolzer schlagendes Herz, einen trunkenen Blick über die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeiten und einen demütigen Blick für die Dimensionen alles Menschenwerks – das wird ihm auch Fichte gewähren in die Freuden und Leiden seines Werktages.

Erstes Buch
Das Leben


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