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Ausklang

Ein Jahr später saßen Pfarrer Kramer und Herr Landhuis bei einer Tasse Kaffee gemütlich plaudernd in des ersteren Studierzimmer im Pfarrhaus in Ondoliet. Die Freundschaft, die sich nach ihrem Erlebnis mit Myntje Kollart zwischen beiden Herren angesponnen hatte, war keine vorübergehende gewesen, und Herr Landhuis war gern der wiederholten Einladung gefolgt, sich hier einige Tage von seiner aufreibenden Arbeit auszuruhen. »Und wie geht es unserm früheren Schützling Myntje Kollart?« fragte Herr Landhuis, den dreijährigen Sohn des Pfarrers auf dem Knie schaukelnd. »Hat sie sich gründlich bekehrt?«

»Ich will dir sagen, was ich von ihr denke«, entgegnete der Geistliche. »In den ersten Tagen nach dem Tode ihrer Großmutter hatte ich große Hoffnung, daß das Mädchen sich von Grund auf bekehrt habe. Aber nachdem die erste Trauer vorüber war, meldete sich bei ihr wieder der alte Hochmut. Es wurde nochmals besser mit ihr, als der alte Booyen drei Monate nach seiner Frau starb. Myntje befand sich damals in sehr schwierigen Verhältnissen. In dem kleinen Anwesen konnte sie nicht bleiben, und Kapital besaß sie nicht. Mit großer Mühe konnte ich für sie eine kleine Summe entlehnen, womit sie ein Putzgeschäft einrichtete. Wider alles Erwarten gedeiht das Geschäft, so daß Myntje schon einen Teil des geborgten Geldes zurückzahlen konnte, und ich glaube, daß sie bald schuldenfrei sein wird. Sie kommt regelmäßig in die Kirche; aber ich fürchte, mehr um Reklame für ihre Hüte zu machen, als um Nahrung für ihre Seele zu empfangen. Das ist alles, was ich dir in bezug auf Myntje Kollart mitteilen kann. Aber nun ist das Fragen an mir, und da wir wohl nicht so schnell mit Erzählen fertig sein werden, rate ich dir, den Jungen auf den Boden zu setzen; es wird nicht lange dauern, so hat er deine Uhr kaputtgemacht.«

»Der Junge bleibt auf meinem Knie sitzen, denn so fühle ich mich am meisten zu Hause. Mein Junge schaukelt auch immer gern auf meinem Knie. Gehorsam trinke ich meine Tasse Kaffee aus, und nun beginne du mit deinen Fragen.«

»Wie geht es der Familie Nielsen?«

»Ich beginne mit der alten Frau. Sie hat noch immer ihr Geschäft in der Govert-Flink-Straße, und es ist noch alles beim alten, auch in bezug auf ihren Haß gegen die Religion. Uebrigens weiß ich jetzt den Grund dieses Hasses, Ich habe erfahren, daß sie sich, eine Tochter gläubiger Eltern, in der Stille mit einem weltlichen jungen Mann verlobt hatte. Als die Eltern dies entdeckten, zwangen sie ihre Tochter, die Verlobung rückgängig zu machen und drangen ihr einen jungen Mann aus einem christlichen Hause auf. Unglücklicherweise hatte dieser vom Christentum nur den Namen. Bald nach der Hochzeit fing er an zu trinken und seine Frau zu mißhandeln, ungeachtet seiner Gewohnheit, jeden Sonntag zweimal in die Kirche zu gehen und allerlei christlichen Vereinen anzugehören. Bei einem Eisenbahnunglück kam er ums Leben. Der erste Verlobte von Frau Nielsen ist ein sehr angesehener Herr in Amsterdam und hat ein glückliches Familienleben. Da sie das Christentum für die Torheit ihrer Eltern und die Untugenden ihres Mannes verantwortlich macht, sieht sie in der Religion die Ursache ihres unglücklichen Lebens. Von diesem Irrtum ist sie nicht abzubringen, obschon zwei Begebenheiten in ihrer Familie sie milder gestimmt haben. Zum ersten ist ihre Tochter Antonie plötzlich verschwunden und ohne Wissen ihrer Mutter mit einem ausländischen Ingenieur nach Amerika gegangen. Da niemand mehr etwas von ihr gehört hat und auch alle meine Nachforschungen ohne Resultat waren, steht zu befürchten, daß wir es hier wiederum mit einem Fall von Mädchenhandel zu tun haben.

Friedrich Nielsen ist bei seiner Mutter. Nachdem er mehrere Monate für Herrn de Bruin gereist war, stellten sich Anzeichen von Schwindsucht bei ihm ein. Jetzt befindet er sich im letzten Stadium dieser heimtückischen Krankheit. Er ist ganz ergeben in Gottes Willen und eine beständige Predigt für seine Mutter, die dafür nicht unempfänglich zu sein scheint. Sie pflegt ihren Sohn in aufopfernder Mutterliebe.«

»Und Fräulein van Bel?«

»Sie hat einen jungen Pfarrer aus einem Dorfe in Gelderland geheiratet, und ihre Mutter wohnt bei ihr. Und was noch?«

»Ich habe nie recht begriffen, wie ihr schließlich van der Griend habt packen können. Kannst du es mir sagen, oder ist es Amtsgeheimnis.«

»Gewiß nicht. Die Sache war sehr einfach. Du erinnerst dich wohl, daß ein Angestellter der Mitternachtsmission im Hotel de l'Europe ein Gespräch zwischen van der Griend und Andrée mit angehört hat, nicht wahr? Nun wir einmal wußten, in welche Hände das Mädchen geliefert werden sollte, handelte es sich nur noch darum, den Zeitpunkt ihrer Abreise zu erfahren und außerdem die drei Häuser Andrées in Paris Tag und Nacht bewachen zu lassen, so daß niemand unbemerkt hineinkommen konnte. Ich zwang Frau Nielsen, mir beizeiten mitzuteilen, wann Myntje verreiste, andernfalls ich ihren Sohn, der damals noch nicht bekehrt war, wegen Teilnahme an einem Schurkenstreich van der Griends verhaften lassen würde. Natürlich machte sie mir die gewünschte Mitteilung. Ich sandte jemand zu dem von ihr angegebenen Zug an die Bahn mit dem Auftrag, mir sofort ein Stadttelegramm zu senden, wenn van der Griend mit seinem Opfer abgereist sei. So kannte ich die Stunde ihrer Abreise. Ein paar Tage vorher hatte ich ausführlich an die Pariser Polizei geschrieben und sie gebeten, so geheim wie möglich Andrées Häuser bewachen zu lassen. Ich wurde meiner Sache noch gewisser, als ich merkte, daß van der Griend meine Aufmerksamkeit auf alle mögliche Weise von Paris abzulenken suchte. Er sandte mir sogar einen Mann ins Haus, der mich zwingen sollte, die getroffenen Maßregeln rückgängig zu machen. Als der Mädchenhändler mit seiner Beute abgereist war, telegraphierte ich dem Vorstand der Pariser Polizei in Geheimschrift, und in aller Stille wurden Andrées Häuser umstellt. Das Uebrige weißt du. Van der Griend und Andrée wurden festgenommen und Myntje in einem Frauenasyl untergebracht, wo ich sie zwei Tage später abholte. Die beiden Schurken, die noch viel mehr auf dem Kerbholz hatten, wurden zu je sechs Jahren Gefängnis verurteilt.«

»Nun noch eine Frage. Trachtete Friedrich Nielsen nicht nach seiner Bekehrung danach, die bösen Pläne van der Griends zu vereiteln? Als früherer Helfershelfer war er doch in alles eingeweiht.«

»Friedrich hat mich gewarnt. Neues konnte er mir nicht mitteilen, aber was er mir sagte, bestärkte mich in meinen Vermutungen. Es schien uns aber aus verschiedenen Gründen besser, daß er keinen tätigen Anteil an der Abwicklung dieses Falles nahm. Darum, als er mich mit Herrn de Bruin, dem er alles mitgeteilt hatte, besuchte, gab ich ihm den Rat, sich ganz still zu verhalten, und diesen Rat befolgte er.«

»Es war ein ganz merkwürdiger Fall«, sagte Pfarrer Kramer. »Ich habe nie vorher die Bedeutung des Frauenhandels in solchem Maße erkannt. Kommen derartige Fälle häufig vor?«

»Sie sind leider an der Tagesordnung. Ich will nur einiges herausgreifen, um dir einen schwachen Begriff von dem Umfang des Mädchenhandels zu geben. In einem einzigen Monat kamen einhundertsiebzehn meist minderjährige europäische Mädchen in die Bordelle von Buenos Aires und Montevideo. Sie waren alle durch falsche Vorspiegelungen irregeführt worden. Meistens versprach man ihnen gute Stellen. Es wurden ungeheure Preise, bis zu zwölftausend Frank ›pro Stück‹, für sie gezahlt. Eine Vereinigung von Mädchenhändlern in Warschau, die jährlich Hunderte von Mädchen unter betrügerischen Kontrakten nach allen Orten der Welt versandte, gab dem städtischen Polizeikommissar jedes Jahr 120.000 Mark Schweigegeld, um von der Polizeiaufsicht verschont zu bleiben. Du kannst dir vorstellen, was eine solche Vereinigung verdienen muß, daß sie solche Bestechungsgelder geben kann. Auch in unserm eigenen Vaterland kommen Fälle abscheulichen Mädchenhandels vor. Ich könnte Bände füllen mit all den Erfahrungen, die ich gemacht habe.«

»So schreibe doch einmal ein paar solche Bücher. Ich bin überzeugt, daß die Christen ganz anders deine Arbeit unterstützen würden, wenn sie die Zustände näher kennen und ihnen Tatsachen mitgeteilt würden.«

»Ich will mir's überlegen«, antwortete Landhuis. »Aber laß uns jetzt ein wenig ausgehen, wenn du Zeit hast. Dein Kleiner ist auf meinen Knien eingeschlafen. Ich glaube, wir können ihn ruhig aufs Sofa legen, ohne daß er aufwacht.«

»Gib ihn mir«, sagte Pfarrer Kramer. »Ich bringe ihn seiner Mutter. Wir können einen kleinen Spaziergang machen und auf dem Heimweg Myntje Kollart besuchen.«

Finis

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