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Ein Heim verloren und ein anderes gefunden

Friedrich Nielsen hatte einen unvergeßlichen Sonntag erlebt. Tief bekümmert über die harte, lieblose Begegnung mit seiner Mutter war er zu der Familie de Bruin gegangen und hatte dann zum ersten Male in seinem Leben einem Gottesdienste beigewohnt. Schon der Empfang bei Herrn de Bruin hatte ihm wohlgetan. Als Friedrich dem Kaufmann sein Erlebnis mitgeteilt hatte, schüttelte dieser ihm herzlich die Hand und sagte: »Bedenken Sie, lieber Freund, daß Sie diese Leiden um des Herrn willen treffen. Stellen Sie sich vor, daß der Heiland persönlich an Sie herantritt und Sie fragt, ob Sie ihn wirklich liebhaben und ihm vertrauen wollen, was würden Sie ihm antworten?«

»Ich würde mit Petrus antworten: Herr, du weißt alle Dinge; du weißt, daß ich dich liebhabe.«

»Nun, die Frage: ›Hast du mich lieb?‹ liegt in dem Weg, den der Herr mit Ihnen geht. Sie müssen von ihm zeugen vor Ihrer Mutter und zwar so, daß sie erkennt, daß Sie wirklich Christi Nachfolger geworden sind. Ihr eigener Glaube wird dadurch gestärkt und Ihre Gemeinschaft mit dem Herrn vertieft. Jede Bewahrung des Glaubens, die köstlich ist vor Gott, wirft allzeit eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit für die ab, die durch die Züchtigung geübt sind. Sie wird eine fortwährende Quelle des Segens. Das verstehen wir hienieden nicht immer, aber droben werden unsere Augen darüber geöffnet sein, und wir werden dann bezeugen, daß Gottes Wege immer die einzig richtigen für uns waren.«

Der Pfarrer, der in der Kirche predigte, war kein anderer als Doktor van Baren, jener Mann, dem Friedrich so unhöflich begegnet war und den er zur Tür hinausgeworfen hatte. Dies war eine neue Demütigung für unsern jungen Freund: aber bald war er so hingenommen von dem, was er hörte, daß er alles andere darüber vergaß. Der Predigttext war jene Stelle aus dem Propheten Jesaja: »So kommet denn, und laßt uns miteinander rechten, spricht der Herr. Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie gleich ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden.«

Friedrich blieb diese erste Predigt, die er hörte, unvergeßlich. Seine Seele trank die Worte des Lebens, wie das ausgedörrte Land den Spätregen, und bewegt stimmte er in den Schlußgesang der Gemeinde ein:

»Ich lag in schweren Banden,
Du kommst und machst mich los;
Ich stund in Spott und Schanden,
Du kommst und machst mich groß,
Und hebst mich hoch zu Ehren
Und schenkst mir großes Gut,
Das sich nicht läßt verzehren.
Wie irdisch' Reichtum tut.«

Am Abend war Friedrich wieder mit der Familie de Bruin in der Kirche und lauschte atemlos der Predigt, die den Heilsweg klar zeigte und die Lehre der stellvertretenden Gerechtigkeit Christi in wenigen kernhaften Worten zusammenfaßte.

Noch ein Stündchen weilte er bei seinen neuen Freunden, und ehe er sich verabschiedete, beteten und sangen sie noch miteinander. Friedrich war es, als ob er den Himmel im Herzen habe, und er fühlte sich gewappnet zu dem Kampf, der wahrscheinlich seiner harrte.

Der Kampf begann gleich am Montagmorgen. Als Friedrich im Begriffe stand, zum Frühstück ins Eßzimmer zu gehen, trat seine Mutter in sein Zimmer. »Wie ich gehört habe, bist du gestern zweimal in der Kirche gewesen«, begann sie, ohne ihm »Guten Morgen« zu sagen. »Du hast damit bekundet, daß du dich nicht um den Willen deiner Mutter kümmerst, und ich habe dir vorher gesagt, welche Folgen eine solche Handlungsweise haben wird, nämlich eine Scheidung zwischen mir und dir.

Ich habe dir weiter gesagt, daß du so wenig als möglich in meine Nähe kommen sollst, wenn du in deinem religiösen Wahnsinn beharren willst. Gut, ich bleibe bei meinem Worte. Willst du nicht nachgeben, so will ich es noch weniger, und darum ersuche ich dich, künftig deine Mahlzeiten auf deinem Zimmer einzunehmen. Ferner erwarte ich, daß du dir bis Ende der Woche ein Zimmer in der Stadt mietest, weil ich künftig mehr Lehrmädchen in Kost und Wohnung nehmen will und darum auch dein Zimmer benötige. Da du ja nur zu bitten brauchst, um zu empfangen, wirst du beim Mieten eines Zimmers nicht auf den Preis achten müssen und schnell etwas Passendes finden. Ich rechne darauf, daß du bis Samstag ausgezogen bist und ich Dienstag über dein bisheriges Zimmer anderweitig verfügen kann.«

Ehe sich Friedrich von seinem Erstaunen und Schrecken erholen konnte, war Frau Nielsen zur Türe hinausgegangen, ohne auch nur auf eine Antwort zu warten. Der arme Mensch saß wie vernichtet da. Nie hatte er sich träumen lassen, daß der Haß seiner Mutter gegen Religion so weit ging, daß sie ihren eigenen Sohn aus dem Hause wies. Das übertraf alles, was er erwartet hatte.

Was sollte er nun tun? Vor allem bat er den Herrn, ihm Ruhe und Weisheit zu schenken, daß er in allem, was er unternahm, sich als sein Jünger ausweisen könnte.

Betje brachte ihm sein Frühstück, und nachdem er gebetet hatte, versuchte er zu essen; oder er brachte kaum einige Bissen hinunter. Er erinnerte sich der Zeit, wo er auch hier gegessen hatte, aber damals war er krank gewesen, und seine Mutter hatte ihn während einer Lungenentzündung Tag und Nacht gepflegt. An jedem Fleckchen dieses Zimmers hafteten liebe Erinnerungen an die Treue und Fürsorge derselben Mutter, die ihn heute so hart von sich wies und ihn sogar aus diesem Zimmer vertrieb.

Friedrich hörte auf zu essen und schlug seine kleine Bibel auf, die seit einigen Tagen sein bester Freund war. Seine feuchten Augen fielen auf den 23. Psalm, und die köstlichen Worte des Vertrauens labten sein wundes Herz. Dann nahm er Papier und Feder zur Hand und schrieb folgenden Brief:

Liebe Mutter!

Ich fürchte, Du erlaubst mir nicht, mit Dir zu reden, darum schreibe ich und bitte Dich, diese Zeilen zu lesen. Warum bist Du so hart gegen mich, Mutter? Als ich noch mitten in der Welt lebte, trank, spielte, die Nächte auswärts verbrachte und unnötig Geld verbrauchte, machte ich Dir Kummer, und Du batest mich manchmal, mein ausschweifendes Leben aufzugeben. Und nun, nachdem ich mit dem früheren Lebenswandel gebrochen habe und hätte erwarten können, daß Du mich mit Freuden an Dein Herz drückst, stößest Du mich von Dir und jagst mich sogar aus Deinem Hause. Bitte, Mutter, nimm die harten Worte zurück und laß mich unter Deinem Dache bleiben. Von Herzen bitte ich demütig um Verzeihung, wenn ich Dich beleidigt haben sollte. Laß mich bei Dir bleiben und Dir zeigen, daß das von Dir so gehaßte Christentum aus einem ungehorsamen, verschwenderischen Sohn ein Kind gemacht hat, das Dir Dein Leben so angenehm wie nur möglich machen will. Nur zwinge mich nicht, meinen Heiland zu verleugnen. In ihm habe ich die Kraft gefunden, mich von meinem sündigen Leben zu lösen und, was noch unendlich mehr ist, in ihm habe ich den Frieden gefunden, der alles Verständnis übersteigt.

Ach, liebe Mutter, ob Du Deine harte Weisung zurücknimmst oder nicht, ich bitte Dich, falle zu Jesu Füßen! Dein verwundetes und verbittertes Herz findet sonst keinen Frieden und ist so arm und leer. Ach, wenn Du den Herrn nur kenntest! Aber Du kennst ihn nicht, und darum hassest Du ihn, und doch sagt er auch zu Dir: »Kommet her, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.« Arme, liebe Mutter, lege Dein graues Haupt an Jesu Brust, und Du wirst erfahren, daß er gnädig ist der Seele, die ihn sucht.

Ich hätte Dir das alles so gern mündlich und ausführlicher gesagt, aber Du erlaubst mir ja nicht, mit Dir zu sprechen. Darf ich nicht noch wenigstens ein einziges Mal zu Dir kommen?

Mit der Versicherung, daß ich inbrünstig für Dich bete, verbleibe ich
Dein Dich herzlich liebender Sohn

Friedrich.

Als Friedrich die Feder aus der Hand gelegt hatte, war es auch mit seiner Fassung vorbei. Er legte seinen Kopf auf den Tisch und schluchzte, daß sein ganzer Körper erschüttert wurde.

Betje, die ins Zimmer kam, um das Frühstücksgeschirr zu holen, erschrak, als sie den jungen Herrn so leiden sah. Sie hatte tiefes Mitleid mit ihm, war er doch von klein auf ihr großer Liebling gewesen. Wie oft hatte er als kleiner Junge des Abends bei ihr in der Küche gesessen, und heute noch hatte er, so oft er sie sah, ein freundliches Wort für sie. Was konnte sie anders tun, als ihre Schürze an die Augen zu nehmen und mit dem jungen Herrn zu weinen?

Es kann in schweren Zeiten so wohltun, wenn jemand mit einem fühlt und weint. Friedrich empfand dies. Er ging auf Betje zu, ergriff ihre Hand und sagte weich: »Betje, ich muß weg. Mutter will mich nicht im Hause behalten, weil – weil ich den Herrn Jesum liebgewonnen habe. Ich will aber noch probieren, ob ich sie umstimmen kann, darum habe ich ihr diesen Brief geschrieben. Bitte, bringe ihn ihr.«

Betje, die vor Bewegung noch nicht sprechen konnte, nickte und nahm schweigend den Brief.

»Und nun noch eines, Betje«, fuhr Friedrich fort. »Ich hätte dir gern ein hübsches Andenken an mich gegeben, denn wir haben uns immer gut verstanden; aber ich bin an Geld und Gut jetzt vielleicht ärmer, als du bist. Aber sieh', hier habe ich eine kleine Bibel, die mich glücklicher gemacht hat, als wenn ich eine Millionenerbschaft gemacht hätte, und sie kann dich auch glücklich machen. Willst du das Buch als Andenken von mir annehmen und mir versprechen, daß du fleißig darin lesen willst?«

»Ja, Herr Fritz, und ich danke Ihnen herzlich«, antwortete Betje, steckte hastig die Bibel in die Tasche und trug kopfschüttelnd das Frühstücksgeschirr weg.

Eine Stunde später befand sich Fritz im Hause des Herrn de Bruin, der mit großer Teilnahme zuhörte, als Nielsen ihm seine Erlebnisse erzählte.

»Wie wäre es, wenn ich einmal Ihre Mutter besuchte. Würde sie dadurch nicht vielleicht milder gestimmt?« fragte er.

»Sie können sich die Mühe sparen«, entgegnete Fritz. »Meine Mutter wird Sie gar nicht zu Worte kommen lassen.«

»Sollte wirklich jeder Versuch zur Aussöhnung vergebens sein?«

»Ja, ich kenne Mutter zu gut, um nicht zu wissen, daß nur Gott ihr hartes Herz erweichen kann.«

»Nun, dann reden wir von etwas anderem. Mein Unternehmen ist dem Ihrer Mutter ähnlich, und Sie sind demnach in diesem Geschäftszweig bewandert. Durch Gottes Segen hat es sich in der letzten Zeit derart vergrößert, daß ich den Laden- und Reisedienst nicht mehr allein bewältigen kann. Wollen Sie mein Reisender werden und bei mir wohnen? Sie haben völligen Familienanschluß, aber ein eigenes Schlaf- und Wohnzimmer. Vorderhand biete ich Ihnen neben freier Wohnung und Verpflegung wöchentlich fünf Gulden an. Was sagen Sie zu dem Vorschlag?«

»O Gott, welch ein wunderbarer Versorger bist du!« rief Friedrich tiefbewegt, indem er den Blick gen Himmel wandte. »Wie soll ich Ihnen danken?«

»Frau«, rief Herr de Bruin, »komm her, ich habe dir eine Neuigkeit mitzuteilen!«

Eilig trat Frau de Bruin, die in der Küche beschäftigt gewesen war, ins Zimmer. »Nun, Herr Nielsen! Ich freue mich, Sie hier zu sehen«, sagte sie, als sie des jungen Mannes ansichtig wurde. »Wie geht es Ihnen seit gestern?«

»Ich will deine Frage beantworten«, erwiderte der Kaufmann. »Der Seele unseres jungen Freundes geht es gut, aber er befindet sich in großen Schwierigkeiten, und ich glaube, Frauchen, daß Gott uns brauchen will, um ihm zu helfen, soweit es in unserer Macht steht.« Dann erzählte er seiner Frau alles und fragte sie, ob sie damit einverstanden sei, Friedrich in die Familie aufzunehmen.

Frau de Bruin ergriff des jungen Mannes Hand und schüttelte sie herzlich. »Seien Sie willkommen in unserem Kreis, Friedrich!« rief sie. »Ich werde Sie künftig bei Ihrem Vornamen nennen. Das klingt vertrauter und gemütlicher.«

Friedrich fand keine Worte, um seinen Wohltätern zu danken. Er war überwältigt von den mancherlei Erfahrungen, die so plötzlich auf ihn einstürmten; aber sein Herz war voll Lobens und Dankens gegen den Herrn, der alles so wohl gemacht und herrlich geleitet hatte.


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