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Im Frieden heimgegangen

Es ging nicht gut bei den Großeltern Booyen. Die Kräfte der alten Frau nahmen in beängstigender Weise ab. Vor etwa acht Tagen hatte sie noch wie gewöhnlich mit der Stundenfrau den kleinen Haushalt besorgen können und noch für den folgenden Tag ein gründliches Reinemachen mit ihr besprochen. Des Abends war sie so bedenklich matt geworden, daß sich der Großvater ernstlich beunruhigte. Am folgenden Morgen mußte die Stundenfrau den Arzt holen. Nachdem dieser die alte Frau genau untersucht, hatte er bedenklich den Kopf geschüttelt. Er gab dem Großvater den Rat, gut auf seine Frau zu achten und des Nachts jemand bei ihr wachen zu lassen. Es könnte einmal schnell vorbei sein.

Nun blieb die Stundenfrau ganz im Hause. Des Morgens besorgte sie den Haushalt, des Nachmittags schlief sie, und des Nachts wachte sie am Krankenbett.

Es war beinahe dämmerig. Der Doktor war eben dagewesen, und nachdem der Großvater ihn zur Haustür begleitet hatte, setzte er sich ans Bett seiner Frau. Es war gut, daß sie das Gesicht ihres Gatten nicht sehen konnte, sonst hätte sie bemerkt, wie seine Lippen zitterten und seine Hände unruhig mit seinem Pfeifchen spielten. Kein Wunder! Hatte doch der Doktor ihm aus dem Gang zugeflüstert: »Es geht nicht gut, Booyen. Sie müssen sich auf das Schlimmste vorbereiten.«

»Wird sie sterben, Herr Doktor?« hatte der Greis erschrocken gefragt, und der Doktor hatte ernst genickt und teilnehmend gesagt: »Ja, Booyen, Ihr Frauchen stirbt. Es kann noch ein paar Tage dauern, aber gesund wird sie nicht mehr.« Der Großvater hatte diese Mitteilung wohl erwartet und sich darauf vorbereitet, aber als ihm nun der letzte Hoffnungsfunke, der trotz allem noch in seinem Herzen glomm, genommen war, konnte er sich kaum fassen. Wie vernichtet saß er da, und in seinen Ohren klangen noch die tiefernsten Worte des Arztes.

Allerlei Erinnerungen erwachten in der Seele des Greises. Was hatten sie miteinander alles getragen, wie hatten sie Hand in Hand die vielen Schwierigkeiten überwunden und waren zusammen in die tiefen Schmerzenstäler gestiegen!

Es hatte Zeiten gegeben, wo alles ihnen zu entfallen drohte, aber ihre Hände waren vereint geblieben mitten im Sturm und Unwetter, beim Donnern der Orkane. Niemals hatten sie ganz den Mut verloren, denn sie besaßen doch noch einander. Aber nun, da sich die knöcherne, kalte Hand des Todes zwischen sie drängen wollte, fühlte der hochbejahrte Mann seine Kraft schwinden, und er hatte nur mehr das eine Verlangen, seine Frau zu begleiten, mit ihr auch im Tode und im Grabe vereint bleiben und unter dem grünen Rasen im Schatten der Trauerbuchen ruhen zu dürfen.

Ein leises Stöhnen, das vom Bett herkam, weckte den Großvater aus seinem Grübeln.

»Mann, bist du allein?« flüsterte die Kranke.

»Ja, Frau, kann ich etwas für dich tun?« fragte der Alte.

»Ach nein, ich bin so müde. Ich glaube, meine Zeit ist bald abgelaufen. Sagt der Doktor nicht auch, daß es zum Sterben geht?«

Der Großvater antwortete nicht.

Die alte, magere Hand der Kranken suchte die ihres Ehegenossen und streichelte sie sanft. »Sei nicht traurig, lieber Mann«, sagte sie. »Wir wissen, daß unser Erlöser lebt und uns eine Wohnung droben bereithält. Denke, ich gehe auf Reisen und erwarte dich, um nie mehr von dir getrennt zu werden. Wer weiß, wie bald der Herr auch dich heimholt. Alte Leute überleben einander gewöhnlich nicht lang. Vielleicht läßt dich der Herr noch hier, um unsere Enkelin zu erwarten. Ach, wenn ich sie noch sehen könnte! Ich würde dann freudig sagen: Herr, nun lasse deine Magd in Frieden heimgehen, denn dann bindet mich kein Verlangen mehr an diese Erde. Ach, wenn sie nur noch käme!«

Die Kranke faltete die Hände und betete still, und der Großvater betete mit ihr: »Herr, bring' unser Kind noch rechtzeitig heim, bei dir ist ja kein Ding unmöglich.«

Dann beugte er sich über seine sterbende Frau. Sie lag so ruhig, daß er glaubte, sie schliefe. Er ging ans Fenster, um noch einmal den Weg entlang zu sehen, auf dem Myntje vor so vielen Monaten fortgegangen war.

In der Ferne tauchte eine Männergestalt auf, und als sie näher kam, erkannte der alte Booyen den Pfarrer, der die Kranke jeden Nachmittag besuchte.

Der Großvater beeilte sich, dem willkommenen Besucher entgegenzugehen.

»Ehe ich zu Ihrer Frau gehe, möchte ich Sie einen Augenblick allein sprechen«, sagte der Pfarrer, nachdem er Booyen begrüßt hatte. »Vor allem, wie geht es der lieben Kranken?«

»Es geht abwärts«, antwortete der Alte. »Ich fürchte, sie wird die Nacht nicht überleben.«

»Wirklich?« sagte der Pfarrer überrascht. »Ist es schon so weit? Dann muß ich Ihnen rasch etwas mitteilen, lieber Bruder. Myntje wird bald hier sein!«

Der alte Mann starrte den Pfarrer an. »Heute abend noch?« fragte er mit heiserer Stimme.

Einen Augenblick überlegte Pfarrer Kramer, dann sagte er: »Ja, heute abend noch. Sie ist in meinem Hause. Um Eure Frau nicht aufzuregen, hielt ich es für besser, vorher zu Euch zu kommen, um Euch auf die Heimkehr Eurer Enkelin vorzubereiten. Ich will nun noch mit Eurer Frau reden.«

Als die beiden Männer das Krankenzimmer betraten, richtete sich die alte Frau mit Anspannung ihrer schwindenden Kräfte auf und sagte mit dem oft Sterbenden eigentümlichen Scharfsinn: »Herr Pfarrer, sind Sie gekommen, um uns zu sagen, daß Myntje zurück ist?«

Aufs höchste erstaunt, sah Pfarrer Kramer den alten Booyen an, als ob er von ihm eine Erklärung dieser merkwürdigen Frage erwarte.

»Ach, sagt es mir«, bat die Kranke. »Was habt Ihr miteinander besprochen? Nicht wahr, sie ist da?«

»Ja, sie ist da, Frau Booyen«, antwortete der Geistliche, »und in wenigen Minuten wird sie bei Euch sein.«

»Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen!« jubelte die Großmutter. »Herr, nun laß deine Magd im Frieden heimgehen.«

Draußen ließ sich das Rollen eines Wagens vernehmen, und Pfarrer Kramer ging schnell hinaus, um die Ankommenden, Herrn Landhuis und Myntje Kollart, zu empfangen und sie über den Zustand der Kranken zu unterrichten. Nach einigen Sekunden kniete die irregegangene Enkelin am Bette der Großmutter.

Als Pfarrer Kramer und Herr Landhuis am späten Abend nach dem Pfarrhaus gingen, waren zwei Menschenkinder nach Hause gekommen, – Myntje in das Haus ihrer Großeltern und Frau Booyen ins obere Vaterhaus. Die letzte Bitte der Sterbenden war erfüllt. Sie war im Frieden heimgegangen.


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