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Was Pfarrer Kramer auf dem Herzen hat

»Nun, Booyen, wie geht es?« fragte Pfarrer Kramer, indem er die ihm entgegengestreckte Hand herzlich drückte.

»O, gut, danke, Herr Pfarrer, gut durch Gottes Gnade. Wollen Sie nähertreten«, antwortete der Alte, indem er den gerngesehenen Gast ins altmodisch eingerichtete Wohnzimmer führte. Am Tisch saß in einem Rohrsessel Mutter Booyen. Sie nahm beim Eintritt des Pfarrers die Stahlbrille von der Nase und legte sie auf das Buch, in dem sie gerade gelesen hatte. Das offenbar schon viel gebrauchte und abgenutzte Gesangbuch gehörte neben der Bibel und Bunyans Pilgerreise zur täglichen Lektüre der guten Alten.

»Grüß Gott, Frau Booyen, wie geht es Ihnen?« fragte der Pfarrer, indem er sich auf den ihm angebotenen Stuhl setzte. »Es scheint mir fast, als ob Ihr Augenlicht etwas abnimmt, nicht?«

»Ja, ja, Herr Pfarrer«, antwortete die Greisin mit zitternder Stimme, »das Alter bringt allerhand Gebrechen mit sich, das merken wir beide. Ich bin lange ohne Brille ausgekommen, aber jetzt geht es nicht mehr. Es ist merkwürdig, wie plötzlich und schnell meine Augen nachlassen.

»Sie sollten sich recht ruhig halten, nicht nur körperlich, sondern auch geistig«, meinte der Pfarrer. »Kummer und Sorgen wirken sehr nachteilig auf die Augen, und es kommt mir vor, als ob Sie bedrückt seien, oder irre ich mich?«

Frau Booyen zauderte mit der Antwort. Sie sah durchs Fenster in die Dämmerung hinaus und seufzte. Dann wischte sie sich mit dem schwarz-weiß getupften Taschentuch die Augen und sagte mit zitternder Stimme: »Das Alter bringt uns auch gar so viel Schweres.«

»Ja, Herr Pfarrer«, mischte sich der Bauer in die Unterhaltung und legte sein Holzpfeifchen beiseite, »wir haben einen Kummer. Vielleicht haben Sie schon gehört, daß Myntje uns verlassen und nach Amsterdam gehen will.«

»Ja, ich habe davon gehört, und deshalb hat es mich gedrängt, zu Ihnen zu kommen. So ist es also wirklich wahr, daß das Mädchen nach Amsterdam will? Und gebt Ihr dazu Eure Einwilligung?«

»Was sollen wir machen, Herr Pfarrer? Wenn ich sie zwinge, daheim zu bleiben, dann ist es um unsern häuslichen Frieden geschehen, denn was sich das Kind einmal in den Kopf gesetzt hat, das wird ausgeführt, sonst ist kein Auskommen mehr mit ihr. Wir alten Leute können nicht vertragen, einen trotzigen, unzufriedenen Menschen im Hause zu haben. Und wenn sie das Schneidern ordentlich gelernt hat, steht ihr eine schöne Zukunft bevor. Wir können ihr nicht viel hinterlassen, und sie muß irgendeinen Beruf ausüben, wenn wir einmal nicht mehr da sind.«

»Will sie einen Kursus durchmachen, für den bezahlt werden muß, oder lernt sie als Lehrmädchen?«

»Das erste Jahr müssen wir ein wenig zahlen; aber danach, wenn sie etwas helfen kann, kostet es nichts mehr.«

»So, aber wissen Sie auch, zu was für Leuten Ihre Enkelin kommt?«

»Die Leiterin des Geschäfts ist eine Frau Nielsen. Sie ist Witwe und hat einen Sohn und eine Tochter. Beide sind erwachsen. Frau Nielsen und ihre Tochter leiten die jungen Mädchen an, und der junge Herr reist für das Geschäft. Vor einiger Zeit ist eine Tochter des Bäckers Davids aus dem Städtchen dort ausgebildet worden, und nun hat sie bei ihren Eltern ein Geschäft eingerichtet, das sehr gut gehen soll. Vor etwa vier Wochen hat Myntje dort einen Hut gekauft, dabei sind sie ins Plaudern geraten, und Myntje hat Lust zum Putzmachen bekommen. Verstehen Sie?«

»Gewiß! Und dann hat Myntje wohl sofort an diese Frau Nielsen geschrieben?«

»Ja, Herr Pfarrer. Nächsten Montag soll sie, wenn Gott will und wir leben, dort eintreten.«

»Gut. Nun weiß ich wenigstens etwas Näheres. Ist Myntje zu Hause?«

»Sie holt sich eben etwas Häkelgarn, Herr Pfarrer, aber sie muß jeden Augenblick zurückkommen, denn es wird dunkel.«

»So haben wir Zeit, uns erst miteinander zu besprechen, ehe ich mit ihr rede. Ihr wißt, daß ich Euch beide lieb habe und hochachte, und ich denke, daß unser Verkehr miteinander, seitdem ich in Ondoliet bin, das bezeugt hat. Aber zuweilen verlangen es die Umstände, daß wir einander auf Fehler und Schwächen aufmerksam machen müssen, die wir bei unsern Geschwistern entdecken, nicht um uns als Richter gegen Bruder oder Schwester aufzuwerfen, sondern um uns gegenseitig in der Heiligung zu helfen und auszuschalten, was Gott in unsern Leben mißfällt. Dazu bin ich insonderheit als Lehrer und Seelsorger der Gemeinde berufen, und heute möchte ich zurückkommen auf das, was ich Euch schon früher gesagt habe: Ihr begeht mit Eurer Nachgiebigkeit einen großen Fehler in der Erziehung Myntjes. Wenn man alle Wünsche eines Kindes erfüllt, verdirbt man seinen Charakter. Ein Kind, das immer seinen Willen durchsetzt, wenn es als kleiner Liebling ein Stück Kuchen oder ein an sich wertloses Spielzeug haben will, lernt es als sein gutes Recht ansehen, daß es alles bekommt, was es will. Wird das Kind größer, so werden auch seine Ansprüche größer, und weigern sich dann die Eltern, die Wünsche zu erfüllen, so fühlt es sich in seinem Recht verkürzt, wird böse und störrisch. Nur allzuspät sehen dann die Eltern ein, wie verkehrt sie handelten, als sie von Anfang an dem Kinde nichts versagen konnten. Gewöhnlich ist es dann leider zu spät, dem Uebel abzuhelfen. Es scheint mir, daß es nun mit Myntje so weit gekommen ist. Es mag Euch hart dünken, aber Ihr erntet jetzt, was ihr selbst gesäet habt!

Die Tatsachen lassen sich nicht ungeschehen machen. Nun gilt es nur die eine Frage beantworten: ›Gebt Ihr zu, daß Myntje nach Amsterdam geht oder nicht?‹ Meiner Ansicht nach kann Eure Antwort nur verneinend lauten, und ich will Euch sagen warum. Erstens verlangt Gott, daß Ihr Eure Zustimmung zu allem verweigert, was die bösen Neigungen im Herzen Eurer Enkelin stärkt. Laßt Ihr Myntje mit Eurer Einwilligung nach Amsterdam gehen, so trägt ihr eigensinniger, herrschsüchtiger Charakter einen großen Sieg davon, und was noch schlimmer ist, Ihr bringt sie in eine Umgebung, die nur nachteilig auf sie wirken kann. Denn Myntjes großer Fehler ist ihr Hochmut, und ein Mädchen, das daran krankt und ohne Aussicht in einer Stadt wie Amsterdam lebt, ist der größten Gefahr ausgesetzt. Wenn Gott kein Wunder tut, dann wird sie vom Weltstrudel mit fortgerissen, und sie wird eine Beute jener gewissenlosen Leute, bereit bösen Lüsten solch arglose Kinder zum Opfer fallen. Es ist ein beängstigender Zug unserer Zeit, daß die jungen Mädchen alle nach den großen Städten drängen, um, schön gekleidet, das Fräulein spielen zu können. Sie versprechen sich von der Stadt goldene Berge, und ehe sie sich's in ihrer Unwissenheit versehen, gehen sie ins Garn. Die Vereinigungen, die sich mit der Bekämpfung der Unsittlichkeit und mit dem Schutze der Jugend befassen, machen Tag für Tag die traurigsten Erfahrungen. Ich kann mich nicht näher über diese Dinge heute aussprechen, aber um des zeitlichen und ewigen Wohles Eurer Enkelin willen rate ich Euch dringend, sie zu Hause zu behalten.«

Aufmerksam hatten die beiden Alten zugehört und zuweilen ernst genickt, während der Großmutter Träne um Träne aus den Augen rollte.

»Sie haben recht, vollkommen recht, Herr Pfarrer«, sagte Booyen endlich. »Wir haben unserer Enkelin in ganz verkehrter Weise unsere Liebe zeigen wollen, und das rächt sich jetzt. Der Kummer, den wir jetzt durchmachen müssen, ist unser wohlverdienter Lohn. Aber, Herr Pfarrer, ich fürchte, Myntje wird sich nicht zwingen lassen.«

»Ich fürchte es auch«, entgegnete dieser, »aber ich wünsche, ihr gegenüber meine Pflicht zu tun und ihr klipp und klar zu sagen, was ich von ihr denke und für sie befürchte.«

»Möge Gott Ihre Worte an ihrem Herzen segnen«, rief Frau Booyen bewegt. »Er ist der Allmächtige, der auch das härteste Herz erweichen kann.«

»Darum wollen wir den Herrn gemeinsam bitten, Frau Booyen. Er hört und erhört Gebet, nicht wahr, und wir dürfen unsere Nöte vor ihm ausbreiten.«

Mit diesen Worten faltete Pfarrer Kramer die Hände, und in einem tief aus dem Herzen kommenden Gebet brachte er das alte Ehepaar und sein irrendes Enkelkind vor den Thron der Gnade. In der Stube war es ganz dunkel geworden, aber die Seelen dieser betenden Drei hatten sich hoch über diese arme Erde erhoben, um in den Sphären des ewigen Lichts Gemeinschaft zu pflegen mit ihrem Gott, dessen Friede wie ein erquickender Regen in ihre Herzen niederträufelte.


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