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Myntje

Myntje hatte keine große Eile mit dem Nachhausekommen. Als sie schon auf den Fußweg eingebogen war, der zu dem Hause ihrer Großeltern führte, stand sie noch eine Weile bei dem Wassergraben still und sah dem Treiben der Frösche zu, die ihren Gesang ertönen ließen.

Myntje Kollart war in der Tat ein hübsches Mädchen. Das feine Gesichtchen mit den großen blauen Augen verriet Verstand und Gefühl, wenn auch ein weniger anziehender Zug auf einen eitlen und wohl auch störrischen Charakter schließen ließ. Das blonde, wellige Haar war nach der neuesten Mode gemacht, und auch ihre Kleidung bezeugte, daß das Mädchen darauf hielt, nicht als rückständig zu gelten.

Das Täschchen in der linken Hand hin- und herschlenkernd und einen Sonnenschirm in der Rechten haltend, kam sie daher, und offenbar waren ihre Gedanken angenehm beschäftigt, denn ab und zu spielte ein Lächeln um den hübsch geformten Mund, während sie mit einer gewissen Genugtuung den Kopf in den Nacken warf und ein Liedchen vor sich hinsummte.

Plötzlich blieb sie stehen, öffnete ihr Täschchen und zog nach einigem Suchen einen rosafarbenen Briefumschlag hervor, auf dessen Rückseite die Worte standen: »Jenny Davids, Modistin, Lepelstraße 13.« Offenbar kannte Myntje den Inhalt des Briefes schon, und er mußte von großem Belang sein, sonst würde sie ihn nicht noch einmal lesen. Es waren übrigens zwei Briefe; Myntje öffnete den einen, überflog ihn mit unzufriedenem Gesicht und schob ihn unwillig wieder in die Tasche. Das zweite Blatt war enger beschrieben als das erste und gefiel ihr offenbar besser.

Der Brief lautete folgendermaßen:

Th., Aug. 18..

Liebste Willy!

Beinahe hätte ich wieder den abscheulichen Namen ›Myntje‹ geschrieben. Wie in aller Welt kamen doch Deine Leute dazu, aus Wilhelmine ›Myntje‹ zu machen! Glaubst Du etwa, daß man Dich in Amsterdam so nennen wird? Nun gut, wir haben Dich ja schon umgetauft.

Wie Du siehst, halte ich mich an die Abmachung und füge zwei Briefe, einen echten und einen falschen, bei, mit andern Worten, der eine ist für Dich und der andere für Deine Alten. Wenn Du nur dafür sorgst, den Brief nach Ankunft des Zugs auf der Post abzufangen, dann ist alles in Ordnung.

Frau Nielsen schrieb mir, daß Du Montag erwartet wirst und sie Dich um vier Uhr auf der Bahn abholen lassen wird. Laß Dir vor ihr nicht merken, daß Deine Alten nicht genau im Bilde sind, sonst schreibt sie sofort nach Ondoliet. Sie haßt alles Fromme, aber sie duldet nichts, was gegen ihre Begriffe von Anstand und Schicklichkeit verstößt. Glücklicherweise kümmert sie sich in der freien Zeit nicht um ihre Lehrmädchen.

Ihre Tochter Antonie und deren Bruder Friedrich, auch Fritz genannt, werden Dich in ihren Kreis einführen. Ich habe noch Heimweh nach den schönen Theaterabenden und den feinen Bällen, die ich mit dem scharmanten Fritz und seinen Freunden besucht habe. Solch ein Ball ist etwas Herrliches. Stell' Dir einen Saal vor mit großen Spiegeln an den Wänden und überall feine Fauteuils, auf denen man ausruhen kann, dazu die feine, prickelnde Musik, die schick gekleideten Herren und die Damen in ihren tiefausgeschnittenen, glitzernden Toiletten – nein, so etwas kann man sich nicht vorstellen, man muß es mitgemacht haben. Nun, Du wirst ja bald solch herrliche Genüsse kennenlernen.

Natürlich erfülle ich gern Deine Bitte und schicke Dir am Tage Deiner Ankunft ein Promenadenkostüm nach Amsterdam. Ueber die Rechnung brauchst Du Dir keine Gedanken zu machen. Die fünfzig Gulden sind es nicht wert. Hast Du die Summe nach einem Jahre noch nicht beisammen, so schickst Du sie mir in zwei oder drei Jahren. Was würden wohl Deine Alten sagen, wenn sie wüßten, daß ihr unschuldiges Täubchen ein Kostüm zu fünfzig Gulden und einen Hut zu fünfzehn Gulden hat?

Einstweilen sei hiermit gegrüßt. Schreibe mir, wenn Du ein paar Tage in Amsterdam bist und schicke mir nach Deiner Ankunft eine Ansichtskarte. Lebe wohl.

Deine treue Freundin Jenny.

Myntje faltete diesen Brief ganz klein zusammen und steckte ihn in ihre Kleidertasche. Es hatte ihr Mühe gekostet, die letzten Zeilen des Schreibens zu entziffern, denn es war schnell dunkel geworden. Darum beschleunigte sie auch ihre Schritte und erreichte bald das großelterliche Haus, ohne zu ahnen, daß dort der Pfarrer auf sie wartete, um mit ihr über ihre Lieblingspläne zu sprechen.


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