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Eine merkwürdige Begegnung

In fröhlicher Stimmung ging Myntje Kollart durch die belebte Ferdinand-Bol-Straße in der Richtung nach dem Saphartipark. Es war ihr, als ob eine drückende Last von ihren Schultern genommen wäre, und wenn es sich geschickt hätte, würde sie auf offener Straße ein Jubellied angestimmt haben.

Van der Griend hatte das Briefchen, in dem sie ihm ihre Notlage geschildert hatte, damit beantwortet, daß er sie bat, sich mit ihm zu einer bestimmten Stunde vor dem Reichsmuseum zu treffen; er schätze sich glücklich, ihr helfen zu dürfen.

Van der Griend erwartete sie schon, als sie am Ort der Zusammenkunft eintraf. In einer stillen Ecke händigte er ihr zwei Hundert-Guldenscheine ein und dann noch fünfundzwanzig Gulden als kleine Vergütung für die ausgestandene Sorge. Von einem Schuldschein wollte er nichts wissen. »Ich denke nicht daran, Ihnen je mit der Zurückbezahlung lästig zu fallen«, hatte er gesagt. »Vielleicht können Sie mir früher oder später einen Gefallen tun, und dann sind wir quitt.«

Myntje wußte nicht, wie sie dem »edlen« Manne danken sollte. Sobald sie sich von ihrem Wohltäter verabschiedet hatte, bezahlte sie ihre Rechnungen in den Geschäften, und als am nächsten Vormittag der Postauftrag von Jenny Davids eintraf, löste sie ihn ein. Nun war sie plötzlich ohne Schulden, denn die Schuld an van der Griend war ihrer Meinung nach keine Schuld, denn van der Griend würde das Geld nicht zurückfordern.

Seitdem war gerade eine Woche vergangen. Ein kalter Nebel, abwechselnd mit heftigen Regengüssen, hatte ein Ausgehen kaum möglich gemacht. Jetzt hatte der Regen aufgehört, und es war merkwürdig warm für die Jahreszeit. Aber es war nicht das schöne Wetter, das Myntje auf die Straße gelockt hatte. Sie hatte am Tage vorher ein Briefchen von van der Griend erhalten, in dem er ihr mitteilte, daß er nächsten Dienstag – heute war Sonnabend – nach Paris fahre zum Besuch seiner Mutter. Mehr als einmal habe er seiner Mutter von Myntje geschrieben und ihr erzählt, wie merkwürdig ähnlich sie seiner verstorbenen Schwester sehe. Nun habe die alte Frau den Wunsch geäußert, das Mädchen aus ihrem alten Vaterland – sie war geborene Holländerin – kennenzulernen. »Sie wissen, Mutter ist recht einsam«, schrieb van der Griend an Myntje, »und ich mache ihr so gern eine Freude, um sie den Verlust von Vater und Schwester für ein Weilchen vergessen zu lassen. Bitte, gewähren Sie mir die Freude und begleiten Sie mich auf drei Tage nach Paris. Natürlich trage ich alle Kosten und werde dafür sorgen, daß Sie Ihr Leben lang mit Freuden an Ihren kurzen Aufenthalt in Paris denken werden. Bitte, gehen Sie mit – dann sind wir miteinander quitt.«

Paris sehen, ohne daß es sie etwas kostete, und dadurch noch obendrein eine Schuld von zweihundert Gulden loswerden! Das setzte allem die Krone auf. Myntje überlegte keinen Augenblick, sondern schrieb sofort zurück, daß sie die Einladung sehr gern annehme. Sie bat van der Griend noch um eine Begegnung an einem bestimmten Ort, um das Nähere zu besprechen. Sie teilte ihm noch mit, daß sie Frau Nielsen um einen achttägigen Urlaub bitten wolle, fünf Tage für Paris und drei Tage für einen Besuch in Ondoliet. Letzterer sollte die Antwort auf den Klagebrief des Großvaters sein.

Der Brief hatte Myntje im ersten Augenblick erschreckt, denn wenn der Großvater kein Kostgeld mehr schickte und sie mit Gewalt heimholen ließ, dann war es mit dem schönen Genußleben unwiderruflich vorbei, ja, dann war es auch aus zwischen ihr und van der Griend. Myntjes findiger Geist suchte nach einem Ausweg aus der Gefahr, nach Hause zu müssen, und glaubte ihn gefunden zu haben. Sie nahm sich vor, ein paar Tage nach Ondoliet zu gehen und den Großeltern so viel Schönes vorzuerzählen, daß diese überredet würden, sie nach Amsterdam zurückzulassen. Sie zweifelte nicht, daß es ihr gelingen werde. Darum weg mit allen Sorgen und mit allem, was den Genuß der Auslandsreise beeinträchtigen könnte!

Frau Nielsen hatte sofort den erbetenen Urlaub gegeben, was Myntje um so mehr verwunderte, da diese in den letzten Tagen merkwürdig ernst und zurückhaltend gewesen war. Myntje wußte nicht den Grund der gedrückten Stimmung; aber sie vermutete, daß etwas, was Friedrich anging, Frau Nielsen betrübte. Auch er war stiller als sonst. Er erschien auf die Minute pünktlich zum Frühstück und sprach nicht mehr, als nötig war. Seit beinahe vierzehn Tagen war er nicht ausgegangen; aber der Doktor war nicht gerufen worden, so daß das Unwohlsein nicht von Belang sein konnte. Und doch sah er mit jedem Tage schlechter aus.

Uebrigens hatte Myntje durchaus keine Lust, sich den Kopf über andrer Leute Angelegenheiten zu zerbrechen. Gemächlich wanderte sie durch die Ferdinand-Bol-Straße und blieb da und dort stehen, um sich die Auslagen zu besehen. Sie hatte sich vorgenommen, sich für ihre Reise neue Glacéhandschuhe zu kaufen, denn van der Griend sollte sich nicht ihrer schämen, wenn er mit ihr über die Boulevards ging. Endlich betrat sie einen Laden und ließ sich verschiedene Handschuhe vorlegen. Als sie ihre Wahl getroffen hatte und dem Kaufmann, einem alten Herrn, angab, wohin er das Päckchen schicken sollte, sah sie der Herr fragend an.

»Das trifft sich wirklich merkwürdig«, sagte er, »denn dann sind Sie gewiß die Freundin von Fräulein van Bel?«

»Das stimmt«, sagte Myntje, nun ihrerseits den alten Herrn fragend ansehend.

»Nun, dann kann ich Ihnen etwas mitteilen, was Ihnen sicher Freude machen wird. Nächste Woche wird uns Fräulein van Bel auf einige Tage besuchen und auch bei Ihnen vorsprechen. Als sie noch bei Frau Nielsen war, kam sie viel zu uns, und des Sonntags ging sie mit uns in die Kirche. Kurz vor ihrer Abreise erzählte sie uns, daß eine junge Seeländerin als Lehrmädchen zu Frau Nielsen in Pension gekommen wäre und sie uns dieselbe gern einmal bringen würde. Durch ihre schnelle Abreise ist der Plan nicht ausgeführt worden. Ich hätte Sie gern selbst einmal aufgesucht und Ihnen gesagt, daß Sie uns jederzeit in Ihren freien Stunden willkommen sind, aber ich bin nicht dazu gekommen. Um so mehr freue ich mich, Sie jetzt kennengelernt zu haben. Bitte, kommen Sie mit ins Wohnzimmer, damit Sie meine Frau und meine Tochter begrüßen können.«

Myntje hätte für ihr Leben gern die Einladung abgelehnt, denn es war ihr klar, daß sie nun in Kreise eingeführt werden sollte, die geistesverwandt mit Fräulein van Bel, also Christen waren, Nachfolger des Herrn, wie ihre Großeltern. Bei solchen Gelegenheiten regte sich das scheinbar tote Gewissen wieder und weckte Erinnerungen an Ondoliet. Wie die sterbende Flamme einer erlöschenden Kerze sich zu allerletzt noch einmal in vollem Glanz erhebt, so kann auch von Zeit zu Zeit die anschuldigende Stimme des Gewissens mit großer Kraft und mit Nachdruck noch einmal zu reden anfangen. Myntje fürchtete die Gewissensqualen, die ihr Vergnügen so leicht verderben konnten. Sie vermied sorgfältig alles, was ihr schlafendes Gewissen aufzuwecken drohte. Sie wollte jedoch nicht unhöflich sein, nahm sich aber vor, sich nur so kurz als möglich aufzuhalten.

»Frau«, rief der alte Herr, »hier ist das Fräulein aus Seeland, von dem uns Leentje van Bel erzählt hat. Fräulein Kollart – Frau de Bruin. Und hier ist unsere Tochter Cato.«

Die alte Dame, eine anziehende Erscheinung, drückte Myntje herzlich die Hand. »Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte sie freundlich lächelnd. »Bitte, setzen Sie sich und erzählen Sie mir, wie es kommt, daß Sie uns so unerwartet mit Ihrem lieben Besuch erfreuen.«

»Es kam ganz zufällig«, antwortete Myntje. »Ich kaufte mir ein Paar Handschuhe, und als ich meine Adresse angab, wurde der Herr aufmerksam und lud mich ein, hereinzukommen.«

»Und Sie wußten gar nicht, daß wir mit Fräulein van Bel befreundet waren?« rief Cato.

»Ich hatte keine Ahnung«, versicherte Myntje und dachte bei sich selbst: »Wenn ich es gewußt hätte, würde ich mich wohl gehütet haben, diesen Laden zu betreten.«

»Hoffentlich kommen Sie nicht zum letzten Male«, sagte Herr de Bruin, sich gegenüber Myntje in einen Lehnstuhl setzend. »Aber nun erzählen Sie uns, wie es Friedrich Nielsen geht.«

»In den letzten Wochen scheint er nicht recht wohl zu sein«, antwortete Myntje. »Er sieht sehr schlecht aus.«

»Hat er in den letzten Tagen mit Ihnen gesprochen?« fragte der alte Herr.

»Nein.«

»Merkwürdig«, sagte Herr de Bruin und wechselte einen Blick mit seiner Frau. »Aber Sie wissen doch, was die Ursache von Nielsens Niedergeschlagenheit ist?« forschte er weiter.

»Ich muß bekennen, daß ich von nichts weiß«, antwortete Myntje.

»Ich verstehe das nicht; es liegt so nahe, daß er sich gerade Ihnen gegenüber ausspricht, sollte man meinen.«

Einen Augenblick überlegte der Kaufmann, dann sagte er: »Nun, es kann nichts schaden, wenn ich Ihnen sage, was Friedrich Nielsen begegnet ist. Als Fräulein van Bel so plötzlich zu ihrer kranken Mutter zurück mußte, ließ sie eine kleine Bibel in ihrem Zimmer liegen mit der dringenden Bitte zum Herrn, daß er das Buch doch zum Segen der Familie Nielsen gebrauchen möge, die, wie Sie wissen, in offener Feindschaft gegen Gott lebt. Das Büchlein wurde von Friedrich gefunden und anfangs aus Neugierde und Spottlust gelesen, ohne zu ahnen, was für Folgen daraus entstehen könnten. Es dauerte nicht lange, so wurde er innerlich unruhig, und er begann, sich zu fragen, was wohl seiner warte, wenn das Buch die Wahrheit sprach. Bald wurde ihm letzteres zur Gewißheit, und der einst so spottlustige Friedrich rief in Todesangst: ›Was muß ich tun, um dem kommenden Zorn zu entrinnen?‹ Seiner Mutter durfte er nicht sagen, was ihn beschäftigte, und seiner Schwester noch weniger. Darum beschloß er, Fräulein van Bel zu schreiben. Er bat sie um Verzeihung für all das Leid, das er ihr angetan hatte, und offenbarte ihr seinen ganzen Seelenzustand. Er meinte, sie werde seine Not verstehen und ihm am besten raten können. Sie können sich denken, wie erstaunt Fräulein van Bel über den Brief war und wie ihr Herz jubelte. Sie beantwortete das Schreiben sehr herzlich und ausführlich und schrieb ihm, daß sie bald zu uns kommen werde und ihn dann sprechen könne. Sie riet ihm, uns unterdessen zu besuchen und uns sein Geheimnis zu verraten.

So kam es, daß Friedrich Nielsen vorgestern Abend bei uns erschien. Wir haben fast drei Stunden miteinander gesprochen, und als uns unser neuer Freund verließ, hatte ich den festen Eindruck, daß der Heilige Geist an seinem Herzen arbeitete. Und du, Frau, bist derselben Ansicht, nicht wahr?«

»Gewiß«, erwiderte Frau de Bruin. »Ich bin sonst ängstlich vor jeder Unnüchternheit auf geistlichem Gebiet; aber ich glaube bestimmt, daß Nielsens Unruhe eine Frucht der richtenden Gnade ist.«

»Der Herr gebe, daß er bald Heilung im Blute des Lammes und seligen Gottesfrieden finde«, sagte der alte Herr bewegt. »Haben Sie auch die herrliche Erfahrung gemacht?«

Myntje schlug die Augen nieder, ohne zu antworten. Welch andere Lebensideale schwebten ihr vor! Sie hatte das Dorf ihrer Kindheit verlassen, das liebliche Zusammenleben mit den Großeltern, Wahrheitsliebe, ja Gott selbst und seinen Dienst verlassen, um dem hohlen Weltleben nachzujagen. Wie konnte sie von seligem Gottesfrieden reden?

Es herrschte eine peinliche Stille.

»Denken Sie nicht, daß ich aus Neugierde diese Frage stelle, Fräulein Kollart«, sagte Herr de Bruin ernst. »Ich erinnere mich nämlich, daß uns Fräulein van Bel mitteilte, wie sehr sie um Sie bangte, als sie den inneren Kampf in Ihrem Herzen bemerkte, da es galt, inmitten einer ungläubigen Umgebung Ihren Glauben zu bekennen. Sie hatte großes Mitleid mit Ihnen. Ich verstehe jetzt, warum Friedrich Nielsen sich nicht Ihnen gegenüber ausgesprochen hat. Er sah Sie nicht als Jüngerin des Herrn Jesu an und mag wohl Grund dazu haben. Wie unsagbar traurig wäre es für Sie, wenn Sie, das Kind gottseliger Eltern, sich auf dem Weg zum Königreich des Himmels von einem jungen Mann überholen ließen, der ganz in der Welt aufgewachsen ist. Doch, da geht die Klingel – ich muß in den Laden.«

»Und für mich ist es höchste Zeit, daß ich aufbreche«, sagte Myntje, indem sie aufstand.

»Es tut mir leid, daß wir gestört worden sind«, sagte der Kaufmann. »Hoffentlich dürfen wir Sie nächste Woche bei uns erwarten, wenn Fräulein van Bel bei uns ist.«

»Wenn irgend möglich werde ich kommen«, antwortete Myntje ausweichend. Dann verabschiedete sie sich von den beiden Frauen und ging mit Herrn de Bruin in den Laden zurück.

Vielleicht zweifelte der alte Herr an Myntjes Geneigtheit, zu kommen. Jedenfalls, als er sie zur Tür hinausließ, flüsterte er ihr zu: »Sie kommen doch bald wieder? Wollen Sie es mir versprechen?«

Myntje nickte, ohne Herrn de Bruin anzusehen, eilte aus dem Laden und war sofort in der Menge verschwunden.


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