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Dem Stricke zueilend

Als Myntje Kollart nach der Schlittenfahrt und dem Besuche im »Hotel l'Europe« von van der Griend nach Hause gebracht wurde, hatte sie nicht mehr den Mut, ihm ihre Geldschwierigkeiten anzuvertrauen. Der Eindruck, den der Franzose auf sie gemacht hatte, wirkte noch in ihr nach. So sehr sie auch nachdachte, was für einen Beruf dieser Herr Andrée haben möchte, sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß er ein Schurke sein mußte, der durch lichtscheue Machenschaften reich geworden war. Wie war es möglich, daß van der Griend mit solch einem Menschen Geschäftsbeziehungen haben konnte? Was waren das für Geschäfte? Sonderbar, aber sie war überzeugt, daß sie selbst der Gegenstand des Gesprächs von den beiden Herren gewesen war. Vergebens fragte sie sich, was sie wohl über sie zu verhandeln gehabt hatten. Selbst wenn van der Griend an eine Verlobung mit ihr dachte, so hatte der Franzose doch damit nichts zu tun. Und was wollte der Herr mit dem Notizbuch? Es war klar, daß er van der Griend und den Franzosen scharf beobachtete. Was bedeutete der eigentümliche, warnende Blick, den er ihr zuwarf? Jedenfalls stand er in keinem Zusammenhang mit den andern beiden Herren. Und doch hatte sein Benehmen etwas Geheimnisvolles und mußte etwas bedeuten. Vergeblich dachte Myntje nach. Es war ihr unmöglich, einen Zusammenhang zwischen allen Ereignissen des Nachmittags herauszufinden. Es war etwas Dunkles, Geheimnisreiches dabei, was sie bange machte.

Schweren Herzens betrat sie ihr Stübchen. Sie fühlte sich sehr unglücklich, einerseits wegen der eigentümlichen Erlebnisse im Hotel und andrerseits, weil sie noch keinen Ausweg aus ihren drückenden Geldverlegenheiten gefunden hatte.

Kaum hatte sie ihr Zimmer erreicht, so erschien Betje mit der Meldung, daß sie schon zum Mittagessen erwartet werde.

»Bitte, sagen Sie Frau Nielsen, ich bitte sie, mich zu entschuldigen. Ich fühle mich nicht wohl.«

»Ich will es ausrichten«, sagte Betje. »Haben Sie die Briefe gefunden, die ich auf das Kaminsims gelegt habe? Kann ich noch etwas für Sie tun, Fräulein?«

»Nein, danke Betje.«

Kaum war sie allein, so besah sich Myntje neugierig die Briefe. O weh, der eine war aus Amsterdam und trug zu ihrem Schrecken als Absender den Namen einer Firma, wo sie eine große Rechnung stehen hatte. Sollte der Brief eine Mahnung zum Bezahlen enthalten? Sie öffnete den Umschlag. Richtig, da kam die Rechnung zum Vorschein, und am Ende derselben stand in drohenden Lettern zu lesen: »Wir haben die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß wir uns der Einfachheit halber erlaubt haben, einen Postauftrag in der Höhe unseres Guthabens an Sie auszustellen.«

Starr vor Schrecken blickte Myntje auf das Schreiben. Nachdem nun auch diese Zahlungsforderung einlief, konnte Myntje keinen Zweifel darüber haben, daß irgendein Feind oder eine Feindin wußte, wo sie Schulden gemacht hatte, und nun ihre Gläubiger veranlaßte, um die Begleichung ihrer Forderungen zu bitten. Wenn sie alle ihre Schulden zusammenzählte, so belief sich die Summe auf ungefähr zweihundert Gulden. Woher sollte sie das Geld nehmen? Sie selbst besaß nichts. Kein anderer konnte ihr helfen als van der Griend, und sie entschloß sich, ihm noch heute Abend zu schreiben und ihn um ein Darlehen von zweihundert Gulden zu bitten. So sehr sie vor der erniedrigenden Frage zurückschrak, so wußte sie keinen andern Ausweg, denn die Postaufträge mußten um jeden Preis eingelöst werden.

Der zweite Brief war von ihren Großeltern. Der Anfang war wie gewöhnlich; aber dann folgten Klagen, die ihr zu Herzen gingen. Der Großvater hatte erfahren, daß sie den Gottesdienst nicht besuchte und sogar von ihrem Verkehr mit van der Griend. Gewiß hatte der Amsterdamer Geistliche oder eine der Damen der Stadtmission geschrieben. Vielleicht waren sie auch durch ihre Gläubiger beunruhigt worden. Glücklicherweise schien der Großvater wenigstens nichts von ihren Schulden zu wissen. Aber die Klagen des alten Mannes und seine Beschreibung vom Kummer der Großmutter waren so rührend, daß Myntje aufs tiefste getroffen war. Sie fühlte sich grundschlecht und gottlos und der unwandelbaren Liebe ihrer Großeltern unwürdig. Unter dem niederschmetternden Eindruck, wie tief sie schon gesunken war, brach sie in Tränen aus.

»Komm umgehend nach Hause«, schrieb der Großvater, »dann soll alles vergeben und vergessen sein, dann verwandelt der Herr unsere Tränen in Jubel, und du, mein Herzenskind, wirst vor Schrecklichem bewahrt.«

Ja, wie sollte sie nach Hause kommen, solange ihre Schulden nicht bezahlt waren! Ihre Gläubiger würden bald erfahren, wo sie war, ihre plötzliche Abreise als eine Flucht ansehen und ihre Forderungen beim Gericht anzeigen ... Myntje wagte nicht, daran zu denken. Eine innere Stimme mahnte sie wohl, heimzugehen, ihren Großeltern alles zu bekennen und demütig um Verzeihung zu bitten, – aber sie unterdrückte mit Gewalt die Regungen ihres Gewissens. Nein, nimmermehr wollte sie sich dem Spott der Dorfbewohner preisgeben, die mit Fingern auf sie deuten würden. Nein, niemals! Lieber suchte sie bei van der Griend Hilfe. Er mochte sein, wie er wollte, sie war überzeugt, daß er ihr gern helfen würde. Waren ihre Schulden erst getilgt, so würde sie, durch Schaden und Schande gelehrt, sich wohl hüten, ein zweitesmal in Zahlungsschwierigkeiten zu geraten. Van der Griend war nicht der Mann, der sie mit der Rückzahlung drängen würde.

Ersparte sie den armen Großeltern nicht damit einen großen Kummer, wenn sie von ihren augenblicklichen Geldschwierigkeiten nichts erfuhren? Um der Großeltern willen war es notwendig, daß sie so lange in Amsterdam blieb, bis ihre Verhältnisse einigermaßen geregelt waren.

Durch solche irreführenden Gedanken beruhigte sich Myntje allmählich. Sie ging an den Waschtisch, um die Tränenspuren von ihrem Gesicht zu waschen, holte ihre Schreibsachen und setzte sich an den Tisch. Dreimal versuchte sie, einige Zeilen zu schreiben, ballte den Briefbogen zusammen und warf ihn ins Feuer. Endlich gelang es ihr, ihre Bitte in Worte zu kleiden. Beim Ueberlesen verbesserte sie noch diesen und jenen Buchstaben, dann faltete sie vorsichtig den Brief und schrieb die Adresse auf den Umschlag. Hastig, als ob sie fürchtete, daß noch etwas dazwischenkommen könnte, schloß sie den Brief, klebte eine Briefmarke auf den Umschlag und ging die Treppe hinunter. Nach wenigen Minuten kam sie zurück. Der Brief an van der Griend war im Briefkasten – der Vogel eilte dem Netze zu.


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