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List gegen List

Etwa um dieselbe Zeit, als Myntje den Brief an van der Griend schrieb, saß dieser mit Andrée in eifrigem Gespräch auf seinem Zimmer. Beide hatten es sich in Lehnstühlen behaglich gemacht. Zwischen ihnen stand ein Tischchen mit einer Flasche Kognak und zwei Gläsern.

»Verstehen Sie wohl«, begann Andrée, »Sie lassen das Mädchen durch ihre Schuldner so bange machen, daß sie keinen andern Ausweg hat, als Sie um Geld zu bitten. Sie leihen es ihr, machen ihr aber dabei den Vorschlag, daß sie mit Ihnen für einige Tage nach Paris fahren möchte, um ›Ihre Mutter‹ kennenzulernen. Dort angekommen, bringen Sie sie in mein Haus, und die Sache ist in Ordnung.«

»Sie machen es sich leicht«, antwortete van der Griend. »Aber offen gestanden, mir ist bei der Sache nicht ganz wohl. Wenn nicht äußerste Vorsicht angewandt wird, falle ich herein.«

»Fürchten Sie sich?«

»Das nicht, aber Vorsicht ist geboten. Ich würde raten, das Mädchen laufen zu lassen. Die verwünschte Mitternachtsmission hat ein scharfes Auge auf sie, und ich wette, daß der Kerl im Hotel de l'Europe ein Spion war. Ich habe Ihnen nun dreizehn minderjährige Mädchen geliefert, ohne daß das Geringste bekannt wurde; aber alle dreizehn Entführungen zusammen waren nicht so schwierig als diese eine.«

Andrée schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. »Und ich sage Ihnen, ich muß das Mädchen haben!« schrie er. »Was kann der Esel im Hotel verstanden haben? Absolut nichts. Wir haben über das Aeußere des Mädchens gesprochen und dann auf Ihren Wunsch über den Stand des diesjährigen Weingeschäfts verhandelt. Um die Komödie zu Ende zu führen, schlug ich eine Abrechnung vor. Wir verfügten uns in eine Ecke, und dort übergab ich Ihnen eine Hundert-Franknote. Das alles muß ihn doch in dem Wahn gehalten haben, daß wir Geschäfte miteinander gemacht und uns dann endgültig voneinander verabschiedet haben. Was kann uns also der Kerl für Schwierigkeiten machen? Ich gebe Ihnen außer dem für die Bezahlung der Schulden benötigten Geld tausend Gulden, sobald das Mädchen im Gang meines Hauses steht. Ja oder nein?«

Einen Augenblick zauderte van der Griend. Er wußte, daß Andrée nicht mit sich handeln ließ, und überdies war die versprochene Summe höher, als er erwartet hatte, so daß es sich wohl lohnte, etwas zu wagen. Noch einmal überschlug sein scharfer Verstand rasch das Für und Wider, dann richtete er sich mit einem Ruck auf und rief: »Gut, ich wage es; aber mit dem Vorbehalt, daß ich mich an keinen Termin binde, daß ich vollständig frei in allen meinen Bewegungen und Handlungen bin, und daß Sie genau die Anweisungen befolgen, die ich Ihnen etwa in bezug auf das Unternehmen zu geben habe. Nun können Sie ja oder nein sagen.«

»Ja!« schrie Andrée. »Haben Sie mir sonst noch Vorschriften zu machen?«

»Nur die eine, daß Sie sich nicht mehr auf der Straße in meiner Gesellschaft zeigen und daß Sie so schnell als möglich nach Paris zurückkehren.«

»Soll geschehen. Und was noch?«

»Vorläufig nichts weiter, als daß Sie noch eine Woche Geduld haben müssen.«

»Also leben Sie wohl!« sagte der Franzose und stand auf.

»Sie wissen, daß ich meine Telegramme mit ›Wilhelm‹ unterzeichne.«

»Ja, ich will mir's merken.«

Andrée nahm Abschied von van der Griend und begab sich raschen Schrittes ins Hotel Viktoria, ohne zu bemerken, daß der Herr mit dem Notizbuch aus dem Hotel de l'Europe ihm folgte. Erst als der Franzose im Hotel verschwunden war, stieg der Verfolger in die Straßenbahn. Eine Viertelstunde später stand er im Büro der Mitternachtsmission und berichtete, was er gesehen und gehört hatte.

»Ich bin überzeugt«, sagte er, »es war kein Zufall, daß ich gerade durch die Dohlenstraße gehen mußte, als der Schlitten vor dem Hotel de l'Europe hielt. Ich erkannte sofort van der Griend, und obwohl ich die junge Seeländerin noch nie gesehen hatte, war ich nicht im Zweifel, daß sie es sein mußte, die von dem Schurken genarrt wurde. Ich folgte ihnen in den Restaurationssaal und setzte mich so, daß ich sie im Auge behalten konnte. Zu meiner Verwunderung sprang van der Griend plötzlich auf, begrüßte am Büfett einen Herrn und stellte diesen dann der Seeländerin vor. Offenbar schrak das Mädchen vor dem Fremden zurück, vor dem einem auch in der Tat bange sein konnte. Es kam mir vor, als seien der Fremde und van der Griend auf Verabredung ins Hotel gekommen. Ich ging an die Reklametafel und machte Notizen, um lauschen zu können. Die beiden sprachen Französisch, offenbar um von andern nicht verstanden zu werden. Bald bekam ich auch den Beweis, daß sie kein gutes Gewissen hatten, denn mit viel Schlauheit versuchten sie herauszubringen, ob ich Französisch verstehe; aber die List mißglückte, weil ich sie durchschaute und mich dumm stellte. Doch trauten die Herren der Sache nicht und verabredeten, daß sie sich in einer Stunde bei van der Griend wieder treffen wollten. Kurz nachdem der Fremde sich verabschiedet hatte, verließ auch van der Griend mit der Seeländerin das Hotel. Viel habe ich ja nicht aus dem Gespräch der Herren auffangen können. Nur weiß ich, daß der Fremde Andrée heißt und in Paris wohnt, vorausgesetzt natürlich, daß sie es nicht nur gesagt haben, um mich irrezuführen.«

»Warte einen Augenblick«, bat Landhuis. »Wenn ich nicht irre, kommt der Name in dem Verzeichnis der Pariser Freudenhausbesitzer vor. Wir wollen nachsehen.« Damit nahm er aus dem Bücherschrank einen dicken Band und schlug ihn bei dem Buchstaben A auf. »Richtig, da steht er! Lies einmal, Wilhelm.«

Dieser bog sich über die Schulter des Freundes und las: »Franz Andrée, geboren 1. Januar 18.. in Rouen, früherer Polizeiagent in Orleans. Hatte bemittelte Eltern, verpraßte nach dem Tode seiner verwitweten Mutter sein ganzes Vermögen. Wurde darauf Polizeiagent, aber wegen schlechter Führung wieder entlassen. Sehr gefährlicher Mädchenhändler. Wurde zweimal in Frankreich gerichtlich verfolgt, aber wegen Mangel an Beweisen wieder freigegeben. Signalement: Mittelgroßer, kräftiger Körperbau, dick; plump in seinen Bewegungen, rundes, aufgedunsenes Gesicht; grausamer Gesichtsausdruck; rotes Haar, roter Knebelbart; anmaßend, Modegeck.«

»Nun, das stimmt alles aufs Haar. Ich bin überzeugt, der Franzose steht mit van der Griend in Unterhandlung wegen der Seeländerin. Die Begegnung im Hotel war verabredet; Andrée wollte das Mädchen sehen, ehe er ein Angebot machte. Ich habe ihn sagen hören: ›Sie gefällt mir. An mir soll es nicht liegen, wenn das Geschäft nicht gemacht wird.‹ Er sagte etwas von Schulden bezahlen; aber als er davon anfing, legte van der Griend den Finger auf den Mund. Ich glaube, der Sache auf der Spur zu sein. Van der Griend soll die Schulden der Seeländerin bezahlen und sie dadurch in seine Macht bekommen, um sie dann in Andrées Schandhöhlen abzuliefern.«

Wilhelm war vor Erregung dunkelrot geworden. »Wir dürfen keine Minute verlieren, Landhuis, um das Mädchen zu retten.«

Der Angeredete lächelte und steckte sich bedächtig eine Zigarre an. »Eile mit Weile!« antwortete er. »Denk' an Petrus. Natürlich müssen wir verhindern, daß die Schurken Fräulein Kollart entführen. Mit Gottes Hilfe wird es uns auch gelingen, aber allzu große Eile könnte alles verderben. Darum Ruhe! Erst wägen, dann wagen.«

»Ja, aber wer weiß, wie rasch die Bösewichte ihren Schlag ausführen? Vielleicht schon morgen.«

»Nein.«

Wilhelm sah den Leiter der Mitternachtsmission verwundert an. »Nein?« fragte er. »Weißt du das so genau?«

»Ja. Höre, warum ich überzeugt bin, daß van der Griend und Andrée weder morgen noch übermorgen ihren Plan zur Ausführung bringen. Sie können es einfach nicht. Erst muß Fräulein Kollart so in die Enge getrieben werden, daß sie van der Griend um Geld bittet, vorausgesetzt, daß sie es nicht schon getan hat. Wenn sie ihn morgen um Geld bittet, können im besten Fall erst morgen abend die Schulden bezahlt sein. Van der Griend ist schlau genug, dann noch einige Tage zu warten mit seinem Vorschlag an Fräulein Kollart, eine Reise nach Paris mit ihm zu machen. Er wird ihr dies sicher vorschlagen. Er hat so gut gemerkt wie du, daß der Franzose auf das Fräulein einen unangenehmen Eindruck gemacht hat, und ist viel zu klug, als daß er durch allzu hastiges Entwickeln seiner Pläne Fräulein Kollart stutzig macht. Wird das Mädchen argwöhnisch, dann hat er das Spiel verloren.«

»Aber er weiß, daß wir ihn beobachten und auch das Mädchen im Auge behalten!«

»Das ist ein weiterer Grund, weshalb er einige Tage warten wird, denn er kann sich denken, daß alle Züge von der Mitternachtsmission und der Bahnhofsmission bewacht werden. Er wartet, bis die Wachsamkeit wieder etwas erlahmt, und dann wagt er den Schritt.«

Wilhelm sah nachdenklich vor sich hin. »Ich muß zugeben, daß du recht hast. Aber ich fürchte, daß van der Griend das Mädchen entehren wird, und ich möchte am liebsten sofort ...«

»Lieber Bruder, ich habe durch Erkundigungen in Ondoliet ein genaues Charakterbild von Fräulein Kollart bekommen. Sie ist hochmütig und eitel, aber nicht unsittlich. Das hat van der Griend auch längst erkannt und kehrt darum ihr gegenüber den feinen und vielleicht auch den frommen Herrn heraus, um das Vertrauen von Fräulein Kollart zu gewinnen. Glaube doch nicht, daß die weißen Mädchenhändler so dumm sind, den Neigungen und Charaktereigentümlichkeiten ihrer Opfer nicht Rechnung zu tragen. Ich habe mir durch Pfarrer Kramer eine notarielle Vollmacht von den Großeltern des Mädchens verschaffen lassen und könnte damit ja die Rückkehr Fräulein Kollarts polizeilich erzwingen lassen; aber damit wäre die andere Pflicht, nämlich van der Griend für eine Weile unschädlich zu machen, nicht erfüllt. Wenn die afrikanischen Jäger ein Krokodil schießen wollen, dann binden sie ein Lamm an einen Pfahl in der Nähe des Flusses. Das Ungetüm hört das Blöken des Schafes und kommt, um es zu zerreißen. Ehe es die Beute erreicht, bekommt es die tödliche Kugel in den Kopf und fällt durch seinen eigenen Blutdurst ins Verderben. Bringen wir das Lamm Kollart in Sicherheit, dann bekommen wir das Krokodil van der Griend nie in Schußweite. Verstehst du mich?«

»Ja, aber wie willst du van der Griend packen?«

»Indem man ihm nachgeht, wenn er mit Fräulein Kollart abreist. Sobald er mit ihr im Zuge ist, telegraphiere ich an die Pariser Polizei, und du wirst sehen, wie er ins Garn fliegt.«

»Und was machst du, damit er uns nicht entkommt?«

»Ich habe hier ein Briefchen an Frau Nielsen geschrieben. Sei so gut, und bringe ihr dieses noch heute abend, aber gib es ihr persönlich in die Hand, dann bekommst du morgen abend Antwort auf deine Frage. Ich habe Frau Nielsen gebeten, morgen mittag zu mir zu kommen.«

»Wenn sie aber nicht kommt?«

»Sie kommt unbedingt.«

Wilhelm stand auf und knöpfte seinen Ueberzieher zu. »Ich weiß nicht«, sagte er und schüttelte bedenklich den Kopf. »Wenn die Sache nur nicht schief geht.«

»Bruder Wilhelm«, sagte Landhuis, gleichfalls aufstehend und die Hand auf des Freundes Schulter legend, »wenn du morgen genau hörst, wie die Fäden meines Planes pünktlich ineinander laufen, so wirst du anders reden. Ich möchte nur noch das eine sagen: Ich bin gewohnt, die Dinge mit meinem Gott durchzusprechen, und was ich dann nach meiner heiligen Ueberzeugung erkenne, das muß geschehen. Suchen wir treulich des Herrn Hilfe im Gebet, dann wird Gott, der Herr, das Gelingen geben.«

Das männliche Gesicht des Herrn Landhuis trug so das Gepräge ruhiger Sicherheit, daß der andere davon überrascht war. Da war kein Pochen auf eigene Weisheit und kein eigensinniges Bestehen auf einem einmal gefaßten Entschluß, sondern ein vertrauendes Harren auf göttliche Leitung, in dem etwas Kindliches lag und das Vertrauen weckte.

»Du bist der rechte Mann auf dem rechten Platz!« rief Wilhelm, verabschiedete sich mit warmem Händedruck von seinem Vorgesetzten und ging zur Türe hinaus, um Frau Nielsen das Briefchen zu überbringen.


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