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Stiller Schmerz

Auch in Ondoliet hatte der Winter seinen Einzug gehalten. Die Gräben, in denen im Sommer die Frösche ihre Konzerte gehalten hatten, waren nun fest gefroren und boten herrliche Schliddergelegenheit für die Dorfjugend. Die Weideplätze waren vom Vieh verlassen und mit einer dichten Schneedecke belegt, von der sich die schwarzen Krähen, die da und dort herumscharrten, scharf abhoben.

»Es friert den ganzen Tag«, sagte der alte Booyen, während er sich in seinem Lehnstuhl vorbeugte, um das Feuer im Ofen zu neuer Glut anzufachen. »Arme Leute, die kein warmes Zimmer haben! Ist deine Wärmflasche noch warm?«

»Ja, sehr schön«, antwortete die Großmutter, die einen Strumpf strickte, mehr dem Gefühl nach, denn trotz der scharfgeschliffenen Gläser ihrer Brille sah sie fast nichts mehr. Ihr Augenlicht hatte, seit Myntje fortgegangen war, erschreckend und schnell abgenommen, so daß sie kaum noch den größten Druck lesen konnte. In der Kirche vermochte sie zu ihrem großen Kummer die Lieder im Gesangbuch nicht mehr aufzuschlagen. Gott sei Dank, daß sie als Kind in der Religionsstunde so viele Lieder auswendig gelernt hatte, so daß sie jetzt meistens noch mitsingen konnte.

Eine Weile war es ganz still in der Stube. Während Großmutters Stricknadeln klapperten, sah Großvater, sein Pfeifchen rauchend, zum Fenster hinaus auf die eintönigen Schneefelder. In der Ecke tickte die Wanduhr, und im Ofen kochte das Kaffeewasser.

Plötzlich faltete die Alte ihr Strickzeug zusammen, nahm die Brille ab und wischte sich mit dem Taschentuch über die müden Augen. »Wann haben wir den letzten Brief von Myntje bekommen?« fragte sie.

»Ich meine, es war in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr«, antwortete der Großvater.

»Dann sind ja schon fast vier Wochen darüber vergangen. Sie wird doch nicht krank sein? Noch nie hat sie uns so lange auf Nachricht warten lassen.«

»Vielleicht haben sie viel Arbeit!«

Der alte Booyen tat einige Züge aus seiner Pfeife und sagte: »Ich wollte, sie wäre wieder daheim.«

»Ach, lieber Mann, wenn ich das noch erleben dürfte! Wie dankbar wäre ich! Ich flehe Tag und Nacht zum Herrn, daß es ihm gefallen möge, uns unser einziges Kind wiederzugeben. Es ist so still und einsam ohne sie!« Dabei liefen dicke Tränen über ihre eingefallenen Wangen. Die Wunde des liebevollen Herzens blutete sachte fort und fort und wollte nicht mehr heilen. Der Herr, der ihr so viel gegeben, hatte ihr auch wieder so viel genommen, so daß sie manchmal mit in die Klage Jakobs einstimmte: »Joseph ist nicht mehr vorhanden, Simeon ist nicht mehr vorhanden, und Benjamin wollt ihr auch hinnehmen. Es geht alles über mich!«

Ach, und dem alten Großvater ging es nicht viel besser. Wenn er sich im Geist in die Zeit zurückversetzte, als das blonde Krausköpfchen in seinen Armen ruhte, als er das fröhliche Kinderstimmchen hörte oder die schlanke Mädchengestalt durch die Tür kommen sah, dann stieg etwas in seiner Kehle auf, und in seinem Herzen regte sich die bittere Frage: »Warum?«

Es ist ja leicht gesagt, daß wir in Gottes Wegen ruhen, zu allem, was er tut, Amen sagen und unter allen seinen Züchtigungen die Hand auf den Mund legen sollen. Aber warte, bis du selbst in die dunklen Täler des Schmerzes geführt wirst. Leg' dann die Hand aufs eigene Herz.

Wieder ist es stille im Stübchen.

»Komm, Frau«, sagte der alte Booyen endlich, »laß uns nicht länger murren und klagen. Ich für mein Teil glaube fest, daß der Herr noch alles zu einem gesegneten Ende bringen wird. Singen wir lieber das schöne Lied, das uns beiden letzten Sonntag in der Kirche so wohl getan hat. Du kannst es ja auswendig.« Der Großvater stimmte an und die Großmutter fiel ein:

»Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir!
Drückt mich auch Kummer hier, drohet man mir,
Soll doch trotz Kreuz und Pein dies meine Losung sein:
Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir!

Bricht mir, wie Jakob dort, Nacht auch herein.
Find' ich zum Ruheort nur einen Stein;
Ist selbst im Traume hier mein Sehnen für und für:
Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir!

Ist dann die Nacht vorbei, leuchtet die Sonn',
Weih' ich mich dir aufs neu' vor deinem Thron,
Baue mein Bethel dir und jauchz' mit Freuden hier:
Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir!

Ist mir auch ganz verhüllt dein Weg allhier,
Wird nur mein Wunsch erfüllt: Näher zu dir!
Schließt dann mein Pilgerlauf, schwing' ich mich freudig auf:
Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir!«

Während die beiden lieben Alten sangen, war unbemerkt die Haustür geöffnet worden; behutsame Schritte hatten sich der Stubentür genähert. Erst als der Gesang verstummt war, wurde angeklopft, und, ohne die Antwort abzuwarten, trat eine hohe Männergestalt ein, und die wohlbekannte Stimme rief: »Guten Abend, Vater und Mutter Booyen! So fröhlich am Singen, wie?«

»Guten Abend, Herr Pfarrer«, antwortete Booyen. »Ich freue mich, Sie zu sehen, denn es sind schon gewiß vierzehn Tage vergangen, seitdem Sie das letzte Mal bei uns waren. Bitte, nehmen Sie Platz. Gerade fröhlich waren wir nicht, sondern, um ehrlich zu sein, wir wollten uns durch das Lied neuen Mut singen.«

»Ich kann mir wohl denken, welches Leid Sie drückt, alter Freund. Nicht wahr, Ihr beschäftigt Euch wieder mit Eurer Enkelin?«

»Ja, Herr Pfarrer, wir können uns nicht an ihre Abwesenheit gewöhnen.«

»Das verstehe ich gut, sehr gut«, entgegnete Pfarrer Kramer, »und ich glaube, es ist hohe Zeit, daß Myntje von Amsterdam zurückkommt. Wie alt ist sie?«

»Neunzehn Jahre, Herr Pfarrer. Aber, was meinen Sie mit dem, was Sie sagen?«

»Ich will es Ihnen erklären. Ich habe in dieser Woche drei Briefe über Myntje empfangen. Der eine ist von meinem Kollegen in Amsterdam, Doktor van Baren, der zweite ist von dem Sekretär der Mitternachtsmission und der dritte von der Stadtmission. Den letzten habe ich nicht bei mir, weil er dasselbe enthält wie die beiden andern Briefe.«

»Es sind doch keine schlechten Nachrichten?« fragte ängstlich die alte Frau und heftete die halb blinden Augen auf den Pfarrer.

»Nichts anderes, als ich erwartet habe«, antwortete Pfarrer Kramer. »Hört gut zu!« Er entfaltete einen Brief und las mit deutlicher Stimme:

»Amsterdam, Januar ...

Werter Bruder!

In Beantwortung Ihres letzten Briefes teile ich Ihnen betreffs Wilhelmine Kollart folgendes mit:

Wie Sie wissen, habe ich das Mädchen kurz nach ihrer Ankunft in Amsterdam besucht und gesprochen. Sie versprach, in die Kirche und in den Religionsunterricht zu kommen und mich auch einmal zu besuchen, damit ich sie mit netten, braven Mädchen bekannt mache. Nachdem sie sich aber nirgends blicken ließ, suchte ich sie wieder und wieder auf und bekam jedesmal in ihrem Kosthaus den Bescheid, daß sie nicht zu Hause sei. Schließlich erkundigte ich mich bei dem Dienstmädchen, wann im Hause zu Mittag gegessen würde und schellte dann um die angegebene Zeit noch einmal. Ein junger Mann, offenbar der Sohn des Hauses, öffnete und gab mir in sehr unhöflicher Weise zu verstehen, daß Fräulein Kollart mich nicht mehr zu empfangen wünsche. Als ich Einwendungen machte, packte er mich unversehens und schob mich zur Tür hinaus.

Es hat keinen Wert, weitere Versuche zu machen, um mit dem Mädchen in Fühlung zu kommen. Aber ich rate dringend, daß die Großeltern sie so bald als möglich nach Hause nehmen; wenn es nicht anders geht, mit Hilfe der Polizei. Das Mädchen scheint sich in einer wenig guten Umgebung zu befinden, und ich fürchte, daß sie sich nur zu gern mitschleppen läßt.

Gern will ich weiter in dieser Angelegenheit behilflich sein.

In Erwartung einer baldigen Antwort befiehlt Sie mit allen Ihren Anliegen dem Schutze Gottes

Ihr Bruder in Christo
J. C. van Baren.

Ich will gleich den zweiten Brief lesen, und dann können wir die Sache eingehend besprechen. Herr Landhuis, der Sekretär der Mitternachtsmission, schreibt:

Sehr geehrter Herr Pfarrer!

Wir halten uns für verpflichtet, Ihnen als dem Pfarrer von Ondoliet folgendes mitzuteilen:

Im August vorigen Jahres hat eine Dame der Stadtmission auf dem Zentralbahnhof Amsterdam mit einem etwa zwanzigjährigen Mädchen aus Ondoliet gesprochen, das bei einer gewissen Frau Nielsen, Govert-Flink-Straße, wohnt. Nach den Nachforschungen, die wir anstellten, heißt das Mädchen Wilhelmine Kollart, ist ein Glied Ihrer Gemeinde und wurde von ihren Großeltern, den Eheleuten Booyen, erzogen. Diese scheinen einfache, gottesfürchtige Leute zu sein, die Sie wohl kennen werden. Frau Nielsen ist eine gebildete aber ungläubige Frau, der alle Religion ein Dorn im Auge ist. Die Tochter Antonie, ein sehr eitles, hochmütiges Mädchen, verkehrt auf verdächtige Weise mit Männern von sehr schlechtem Lebenswandel. Der Sohn Friedrich führt ein sehr lockeres Leben und bewegt sich in den schlechtesten Kreisen. Einer seiner besten Freunde ist ein gewisser van der Griend, dessen Personalien nach unsern Büchern folgendermaßen lauten:

Johann Heinrich van der Griend, geboren am 6. Mai 18.. zu Gent in Belgien, Sohn von Ludwig van der Griend, Straßenmusikant, und Angelika Gebraedt, Sängerin, beide schon tot. Wohnt in verschiedenen Städten Belgiens und Hollands in möblierten Zimmern, nennt sich Handelsagent, Kunstmaler oder Journalist, steht aber im Verdacht, als Mädchenhändler tätig zu sein. Er spricht fließend Holländisch, Französisch, Deutsch, Englisch. Von Haus aus Katholik, kümmert er sich um gar keine Religion. Sehr klug und schlau, brutal und unternehmend, gibt er sich gebildet und weltmännisch. Dies ist der beste Freund Friedrich Nielsens.

Nun haben wir die Bemerkung gemacht, daß Fräulein Kollart sehr vertraut mit van der Griend verkehrt, den sie offenbar durch Nielsen kennengelernt hat. Es besteht kein Zweifel, daß der Schurke schlechte Pläne hat, und da das Mädchen sehr eitel und leichtsinnig ist, ist das Schlimmste zu befürchten.

In Anbetracht der großen Gefahr, in der Fräulein Kollart steht, möchten wir Sie bitten, ihre Großeltern zu veranlassen, sie zurückzurufen. Ist das aus irgendeinem Grund nicht möglich, so könnten Sie sie vielleicht dazu bringen, uns eine notariell beglaubigte Vollmacht zu geben, um in ihrem Namen auftreten zu können, sobald uns dies nötig scheint.

In der Hoffnung, daß wir tunlichst bald Nachricht erhalten, verbleibe ich mit höflichem Gruß

Ihr ergebener
G. Landhuis.«

Pfarrer Kramer schwieg und sah Booyen an.

»Das ist entsetzlich!« rief der alte Mann. »Was muß ich tun, Herr Pfarrer?«

»Ich will Ihnen sagen, was ich denke. Wenn Sie Myntje schriftlich auffordern, zurückzukommen, dann sind drei Dinge möglich: Entweder sie macht Einwände und sucht die Sache so lange als möglich hinauszuschieben, oder sie weigert sich rundweg, oder sie schweigt sich ganz aus. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß der an sie gerichtete Brief in verkehrte Hände kommt und ihr vorenthalten wird. Allerdings können wir die Polizei beauftragen, Myntje heimzubringen; aber das gibt in einem Dorfe wie Ondoliet zu viel Gerede, und darum wollen wir dieses Mittel nur im äußersten Notfall anwenden. Ich halte es für das beste, daß wir Herrn Landhuis eine Vollmacht schicken und die nötigen Schritte ihm überlassen. Die Leiter der Mitternachtsmission wissen, wie sie sich in solchen Fällen zu verhalten haben. Abgesehen davon, würde ich einen Brief an Myntje schreiben und ihr befehlen, heimzukommen. Dann tut Ihr das eine und laßt das andere nicht, wenn ich auch der festen Ueberzeugung bin, daß Myntje nicht gehorchen wird. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ja, Herr Pfarrer, ich will Ihren Rat befolgen«, sagte der Großvater. »O Gott, deine Wege sind in tiefen Wassern. Gib uns Gnade, uns unter deine Hand zu beugen.« Er barg sein Gesicht in die Hände und stöhnte, während die Großmutter bitterlich weinte. Von Schmerz übermannt, fand sie keine Worte zur Klage. Pfarrer Kramer befahl die lieben Alten mit ihrem so schwer gefährdeten Enkelkind in inbrünstigem Gebet dem Erbarmen Gottes, denn er fühlte, daß diese hochbejahrten, so vielfach Geprüften unsagbar litten.

»Fassen Sie Mut, Frau Booyen«, sagte er. Abschied nehmend. »Gott läßt Sie nicht über Vermögen versuchen, sondern wird zu seiner Zeit einen Ausweg schaffen. Wer weiß, ob die Hilfe nicht schon sehr nahe ist! Jedenfalls wird Gott seine Treue offenbaren, wenn alle Rätsel einmal gelöst und alle Fragen beantwortet werden.«

Diesen Abend wurde wenig mehr von den beiden Alten gesprochen. Wie vernichtet saßen sie beieinander, und selbst der Schlaf mied ihre Augen die ganze lange Winternacht.


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