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Gute und böse Mächte

Am Fenster eines Kaffeehauses saß Friedrich Nielsen. Vor ihm stand ein Gläschen Kognak, und daneben lag auf dem grauen Marmortischchen die Zeitung. »Zehn Uhr!« brummte Friedrich. »Kerl, wo bleibst du nur? Immer zu spät.« Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein junger Mann trat ein. Einen Augenblick ließ er das Auge im Saal herumschweifen, dann trat er auf Friedrich zu.

»Bist du endlich da«, rief dieser ihm entgegen. »Ich dachte schon, du seist ausgerissen.«

»Das ist meine Gewohnheit nicht, und wenn ich nicht hierhin gekommen wäre, hätte ich es dich wissen lassen. Heute konnte ich nicht pünktlich sein, ich habe nicht so viel freie Zeit wie du.«

Er nahm an Friedrichs Tisch Platz, bestellte sich ebenfalls einen Kognak und fragte, indem er sich zu dem Freunde hinneigte: »Nun, wie weit bist du?«

»Ich bin zufrieden. Seitdem das friesische Frauenzimmer fort ist, ist mehr Aussicht.«

»Was? Ist die Friesin fort? Du meinst doch Fräulein van Bel?«

»Ja, ihre Mutter ist krank geworden und ließ sie heimkommen, schon vor etwa vierzehn Tagen.«

»Gut. Der Einfluß des Mädchens hätte uns noch einen Streich spielen können.«

»Sie kommt auch nicht mehr zurück, denn sie hat sich alle ihre Sachen nach ihrem unmöglichen Dorf irgendwo in Friesland nachschicken lassen. Ich bin froh, denn es war absolut nichts mit ihr anzufangen. Ich habe auf alle mögliche Weise probiert, sie für mich einzunehmen, und als das nicht ging, trachtete ich ihre Frömmigkeit durch Spott auszutreiben, aber auch das verfing nicht. O, sie hat ein sanftes, freundliches Wesen, und ich habe mich manchmal gewundert, daß von der Religion so erstaunlich viel Kraft ausgehen kann.«

»Willst du etwa auch fromm werden?«

»Beileibe nicht. Ich wollte nur sagen, daß in der Religion etwas stecken muß, das einen in Staunen setzt. Sag' ehrlich, bist du je mit einem wirklich frommen Menschen in Berührung gekommen?«

»Die echte Sorte ist mir noch nicht viel begegnet. Aber lassen wir das langweilige Thema. Hat es der kleinen Seeländerin im Theater gefallen?«

»Natürlich. Sie war ganz aufgeregt, als sie Sonntag vor vierzehn Tagen mit meiner Mutter heimkam. Nun nimmt sie auch Tanzstunden, und ich habe ihr versprochen, sie auf ihren ersten Ball zu begleiten. Uebernimmst du, van der Griend, den ersten Walzer mit ihr?«

»Selbstverständlich! Eine famose Idee!«, rief van der Griend und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten. »Ein Kognak auf meinen ersten Walzer mit der Seeländerin! Nein, noch einen zweiten.«

»Oho«, entgegnete Fritz, »verkauf die Haut nicht, ehe du die Kuh hast. Ich habe dir noch nicht alles erzählt. Vorige Woche ist noch einiges vorgefallen, was dir weniger gefallen wird. Zuerst kam uns ein Pfarrer ins Haus, der sich erkundigen wollte, ob hier eine Wilhelmina Kollart wohne. Mit langer Rede erklärte er uns, daß das betreffende Mädchen zu seiner Gemeinde gehöre und darum unter seiner geistlichen Aufsicht stehe. Fräulein Kollart wurde natürlich gerufen, und ich war von meinem Zimmer, das neben dem Sprechzimmer ist, unsichtbarer Zeuge des seelsorgerlichen Gesprächs; manchmal mußte ich an mich halten, um nicht laut zu lachen. Das Ende war, daß das brave Lamm versprach, am Sonntag in die Kirche und am Mittwochabend zum Religionsunterricht zu kommen, worauf der Hirte höchst befriedigt von dannen ging. Das predigtsatte Ding denkt natürlich nicht daran, der Einladung nachzukommen.

Einige Tage später erschienen einige Frauen an der Tür, die sich als Glieder des Vereins zum Schutze junger Mädchen vorstellten – so eine Art Mitternachtsmission. Was sie geschwätzt haben, weiß ich nicht, denn ich war nicht zu Hause. Ich habe mir eingebildet, daß Myntje einige Tage sehr zurückhaltend gegen mich war, aber es dauerte nicht lange, dann standen wir wieder auf dem alten Fuß. Und weißt du, wie ich es angefangen habe? Offenbar stehen die Jungfern in Verbindung mit der Mitternachtsmission, die dir und mir in der letzten Zeit stark auf die Finger sehen. Nun, ich pries in allen Tonarten den Segen solcher Vereinigungen, die den jungen Mädchen nachgingen. Ich erzählte von den sittlichen Gefahren in den großen Städten, von Betrügern und Mädchenhändlern und wer weiß, was nicht alles. Die verwunderte Art, mit der mich das arglose Ding ansah, bestätigte meine Vermutung, warum die Jungfern gekommen waren.

In Myntjes Augen war deutlich zu lesen, daß sie solche Worte am allerwenigsten aus meinem Munde erwartet hätte. Ich beschloß meine Sittenpredigt mit der Bemerkung, daß die Sittlichkeitsbestrebungen einen großen Fehler machten. Sie seien zu übertrieben und gönnten den jungen Mädchen gar nichts. Ich fände es sehr unverständig, weil das Verbieten passender Vergnügungen leicht das Gegenteil bewirke, und die Jugend dann erst recht über die Schranken springe. Das schien Myntje sehr einzuleuchten, und sie war zum Schluß ganz einer Meinung mit mir. Ich glaube, daß der Besuch der alten Jammerbasen uns mehr genutzt als geschadet hat.«

»Prächtig! Prächtig!« antwortete van der Griend mit schallendem Gelächter. »Aber wenn der Pfarrer und die Weiber wiederkommen.«

»Dann können sie unverrichteter Sache wieder abziehen«, entgegnete Fritz. »Ich habe Myntje geraten, dem Mädchen ein für allemal die Anweisung zu geben, daß sie für diese Leute nicht zu Hause sei.«

Van der Griend nickte mit teuflischem Lachen und, indem er aufstand, fragte er: »Gehen wir jetzt noch ein wenig zu Tante Jo?«

»Gut.« Und nachdem sie gezahlt hatten, ging das edle Paar fort.

In einer Toreinfahrt standen zwei Herren. »Sieh«, sagte der eine, den andern anstoßend, »geht dort nicht der berüchtigte van der Griend?«

»Jawohl, und der andere ist Nielsen von der Govert-Flinkstraße, wohin die kleine Seeländerin gekommen ist, die durch Fräulein Hülst von der Bahnhofstation angesprochen worden war. Wir wollen die Herren im Auge behalten, sie sind sehr gefährlich für die jungen Mädchen. Auf die Seeländerin müssen wir besonders achtgeben. Sie scheint ein leichtsinniges Geschöpf zu sein, und ich bin überzeugt, daß die beiden Bösewichte etwas mit ihr im Sinne haben. Aber mit Gottes Hilfe wollen wir ihnen zeigen, daß die Mitternachtsmission auch noch da ist.«

Lange brauchten die beiden Missionare nicht zu warten; bald kamen sie an eines jener verrufenen Häuser, und van der Griend und Nielsen traten ein.

»Dachte ich es mir doch!« sagte einer der Herren. »Wer weiß, was dort jetzt wieder für Schandtaten begangen und schnöde Pläne geschmiedet werden.«

»Wohnt hier nicht die sogenannte Tante Jo?«

»Ja, gewiß. Sie heißt eigentlich Johanna Geßler. Ihr Mann, ein gewisser Schmid, starb vor einigen Jahren im Krankenhaus am Säuferwahnsinn. Aus seinen wirren Reden erfuhr man, daß er in seiner Jugend einen Mord begangen hat. Der Tod entzog ihn dem Arm des Gerichts. Uebrigens war schon vorher bekannt geworden, daß er junge Mädchen in eine Falle lockte und in schlechte Häuser verkaufte. Jo führt dasselbe Gewerbe wie ihr Mann, und da braucht man nicht mehr zu fragen, was für Leute Nielsen und van der Griend sind, wenn sie im Hause dieser Frau verkehren.«

»Es ist doch entsetzlich«, bemerkte Bruder Ringveld. »Sollte man nicht die Oeffentlichkeit vor dem Hause der Frau Nielsen warnen?«

»Das geht nicht. Die alte Dame ist eine sehr anständige Person, die auf ihre Weise streng sittlich lebt. Sie traut ihren Kindern nur Gutes zu und will absolut nicht glauben, daß sie sich grober Sünden schuldig machen.«

»Hat man sie schon gewarnt?«

»Mehr als einmal. Sie weigert sich, den Mitteilungen Glauben zu schenken, und hat eine tiefe Abneigung gegen alles, was Kirche und Christ heißt. Ich fürchte, daß die arme Frau zu spät einsehen wird, welchen Fehler sie begangen hat, indem sie ihre Kinder von jeder christlichen Unterweisung ferngehalten hat. Auch ihre Tochter benimmt sich nicht einwandfrei. Sie kokettiert mit Herren über ihrem Stand, und das ist für ein junges Mädchen sehr gefährlich. – Aber gib acht, wo sie jetzt wieder hingehen! Vielleicht bleibst du etwas zurück, damit sie nicht auf uns aufmerksam werden.«

Lachend und plaudernd traten Fritz und van der Griend wieder aus dem Hause. Sie schlenderten, offenbar nicht mehr ganz nüchtern, durch die Straße, und gingen über den Friedrichsplatz.

Die Turmuhr schlug eben zwölf. Es hatte angefangen sachte zu regnen, und die Straßen waren deshalb beinahe menschenleer. Auf einmal sah man in der Ferne einen Regenschirm, den ein in einen einfachen Regenmantel gekleidetes Mädchen aufhielt, das eilenden Schrittes daher kam. Auch van der Griend und Nielsen schienen sie gesehen zu haben. Sie blieben stehen, flüsterten einander einige Worte zu und gingen auf das Mädchen los.

»Wohin so spät, Fräuleinchen?« redete van der Griend das Mädchen an und stellte sich so vor sie hin, daß ihr der Weg versperrt war.

»Ich muß zum Doktor«, antwortete eine ängstliche Stimme.

»Zum Doktor? Sie sehen doch wahrhaftig nicht krank aus. Wer ist denn krank. Fräuleinchen? Etwa Ihr Freier?«

»Die Mutter ist krank. Bitte, lassen Sie mich weitergehen.«

»Nur nicht so hastig. Wir haben Zeit.« Mit diesen Worten trat van der Griend noch dichter an das Mädchen heran und bog den Arm, um sie in der Taille zu umfassen. Sie suchte sich mit ihrem Schirm zu wehren, aber plötzlich wurde sie von Fritz im Rücken gepackt, und dieser drückte seine Hand auf ihren Mund, um sie am Schreien zu hindern. Nur noch ein angsterfülltes »Hilfe!« drang über die Lippen des tödlich erschrockenen Mädchens, und schon machten sich die Bösewichter daran, sie in eine Toreinfahrt zu drängen, als van der Griend plötzlich einen zornigen Fluch ausstieß. Er fühlte sich mit fester Faust im Genick gepackt und so derb auf die Straße geworfen, daß er halb ohnmächtig liegen blieb. Zu gleicher Zeit bekam Fritz einen solchen Schlag auf die Hand, daß er schreiend das Mädchen losließ und mit seinem edlen Freunde das Weite suchte.

Totenbleich und wie Espenlaub zitternd sah das Mädchen ihre Retter an. »O, wie bin ich froh, daß Sie beide des Weges kamen!« schluchzte sie.

»Dafür bin ich auch dankbar«, sagte Ringveld. »Danken wir Gott, daß er uns eingab, die Schurken im Auge zu behalten. Was meinst du, Bruder Siemers? Wollen wir das Fräulein begleiten? Ich glaube, die beiden Kerls haben genug für heute.«

So begleiteten sie das Mädchen und vernahmen von ihr, daß sie die Tochter des Kapitäns eines Kauffahrteischiffes sei und ihr Vater vor acht Tagen eine Reise nach Indien angetreten habe. Ihre Mutter sei plötzlich krank geworden, und auf ihrem Wege zum Arzt sei sie von diesen schrecklichen Männern überfallen worden.

»Wenn Sie die Männer verklagen wollen, stehen wir Ihnen gern als Zeugen zur Verfügung«, sagte Ringveld beim Abschiednehmen.

»O nein«, antwortete das Mädchen. »Am liebsten wäre mir, daß die Sache nicht bekannt würde. Es ist alles noch gut abgelaufen, und das genügt mir.«

»Wie Sie wünschen. Auf jeden Fall haben wir einen Beweis von der Gemeinheit der beiden Herren bekommen. Wir müssen die ganze Sache eingehend zu Papier bringen, Bruder Siemers. Wer weiß, wie wir es noch einmal brauchen können. Und nun gehen wir nach Hause; es ist beinahe halb zwei Uhr!«

Mit herzlichem Händedruck schieden die Missionare voneinander.


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