Gustav Theodor Fechner
Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht
Gustav Theodor Fechner

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IX. Die drei Glaubensprinzipien der Tagesansicht.

Aller Glaube und über allem der religiöse Glaube hängt tatsächlich von drei Motiven ab, und hat, um der rechte zu sein, von drei Gründen abzuhängen, welche nur die Läuterung und Verallgemeinerung der, einseitig, roh und unvollkommen hier und da zur Geltung kommenden Motive sind. Eingehend ist dies in dem mehrerwähnten Schriftchen "die drei Motive und Gründe des Glaubens" besprochen. Hier mag es genügen, daraus den Ausspruch der drei Gründe, unterschieden als theoretisches, praktisches und historisches Prinzip, in etwas abgekürzter Fassung wiederzugeben.

Auf keins dieser Prinzipe hat sich der Glaube allein zu stützen. Der Mensch kann fehl gehen in Verallgemeinerung dessen, was er weiß, kann fehl gehen in dem, was er für das Beste hält zu glauben, und die Geschichte hat von jeher Fehler nach beiden Seiten begangen; also haben sich die drei Prinzipe wechselseits in solcher Weise zu überwachen, daß sie nur in verschiedenen Wegen zu demselben Ziele führen. Je nach der Aufgabe zwar mag der Weg hier oder da vorzugsweise vielmehr im Sinne des einen als der andern Prinzipe verfolgt werden, und selbstverständlich, wo es sich um Theorie handelt, kann nur das theoretische Prinzip das leitende sein; doch immer mit Rücksicht, daß nicht seitens der andern Prinzipe ein, der Vermittlung unzugänglicher, Widerspruch bleibe.

Theoretisches Prinzip.

Es gilt vom möglichst großen Kreise des Erfahrungsmäßigen im Gebiete der Existenz auszugeben, um durch Verallgemeinerung, Erweiterung und Steigerung der Gesichtspunkte, die sich hier ergeben, zur Ansicht dessen zu gelangen, was darüber hinaus in den andern, weiteren und höheren Gebieten der Existenz gilt, an die wegen ihrer Ferne unsre Erfahrung nicht reicht oder deren Weite und Höhe unsre Erfahrung überreicht und übersteigt, mit der Vorsicht, die Verallgemeinerung, Erweiterung und Steigerung über das Gebiet des Erfahrbaren hinaus nur in dem Sinne und der Richtung vorzunehmen, die schon innerhalb des Erfahrbaren selbst eingeschlagen ist, also nur das für die andern, weiteren und höheren Gebiete in Anspruch zu nehmen, als gültig zu erachten, was sich um so mehr verallgemeinert, erweitert, steigert, je weiter und höher wir den Blick ins erfahrbare Gebiet richten, und dem Gesichtspunkte des Unterschiedes, der durch die größere Ferne, Weite, Höhe des Gebietes entsteht, dabei volle Rechnung zu tragen. Von je verschiedeneren Ausgangspunkten, Seiten her Schlüsse in diesen Wegen einstimmig zusammentreffen, so sicherer wird der Glaube dadurch gestützt sein.

Praktisches Prinzip

Jede irrige und mangelhafte Voraussetzung erweist sich dadurch als eine solche, daß sie, als wahr angenommen, durch den Einfluß, den sie auf unser Denken, Fühlen und Handeln gewinnt, Nachteile nach sich zieht oder dem menschlichen Glücke Abbruch tut, indem sie uns in widerwärtige Stimmungen und verkehrte Handlungen verwickelt, die teils unmittelbar Unlust, Unbefriedigung, teils mittelbar Unlustfolgen mit- und nachziehen; wogegen die Wahrheit einer Voraussetzung sich durch das Gegenteil von all diesem als solche erweist. Dieser Satz bewährt sich um so mehr, je größeren Einfluß Irrtum oder Wahrheit auf unser Fühlen, Denken, Handeln gewinnt, auf einen je größeren Umkreis von Menschen und je längere Dauer er sich erstreckt, während ein Irrtum ohne erheblichen Eingriff in unser übriges Fühlen, Denken, Handeln, für einen einzelnen Menschen oder kleinen Umkreis von Menschen und auf kurze Zeit auch wohl befriedigend und selbst nützlich erscheinen kann. So daß nach allem nur der Glaube als der wahrste gelten kann, welcher der Menschheit nach der Gesamtheit ihrer Beziehung am heilsamsten ist; wonach ein Schluß aus der Güte eines Glaubens auf seine Wahrheit zu machen ist.

Historisches Prinzip.

Wenn ein Glaube an die Existenz von etwas, das nicht unmittelbar der Erfahrung unterliegt, besteht, so müssen irgendwelche dem Menschen bewußte oder unbewußte, vom Existengebiete her wirkende, Gründe dazu vorhanden sein, die diesen Glauben erzeugen, oder Bedürfnisse im Menschen, die dazu treiben. Jeder, auch der irrigste, Glaube hat Gründe der Art, nur nicht immer allgemein zulängliche, sondern oft bloß einseitige, partielle, egoistische, die durch unangemessenes Übergewicht oder untriftige Verallgemeinerung den falschen Glauben oder das Falsche im Glauben erzeugen. Mit Rücksicht hierauf kann auf die Triftigkeit und Güte eines Glaubens mit um so größerer Wahrscheinlichkeit geschlossen werden, je allgemeiner und einstimmiger, mit je größerer Haltbarkeit und Wirksamkeit, er durch die Welt und Zeit sich erstreckt und je mehr er mit wachsender Kultur erstarkt und in Verbreitung wächst.


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