Kurt Faber
Tage und Nächte in Urwald und Sierra
Kurt Faber

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Im Matte Grosso

Nächtliche Wanderung. – Nachtlager im Elektrizitätswerk. – Die Angst vor Doña Maria. – Mordgedanken. – Abschied von Corumbá. – Cascabel erscheint und verschwindet. – Auf dem Rio Paraguay. – Der lange Weg. – Seltsamer Broterwerb. – Ich versuche mich als Hundefänger. – Endlich in São Paulo. – Das Gasthaus des Senhor Gonzalez. – Der verkannte Liebesbrief. – Schriftstellerei mit Hindernissen. – Und zuletzt noch der Typhus.

Immer werde ich das Bild meines eigenen, abgerissenen, verkommenen Ichs vor mir sehen, wie es dort auf dem Rio Paraguay auf dem Verdeck der Barke stand und über die Reling hinweg nach der Stadt hinüber schaute, die unter der hellen Sonne wie ein Backofen glühte. Schön sah es nicht aus, dieses Ich, und ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß es auch nur halbwegs anständig daherkam. Die Hände waren wund, die Füße geschwollen, der Kopf voll summenden Fiebers. Was wollte ich in dieser fremden Stadt, ein Flüchtling vor den Gesetzen? Wohin ich blickte zwischen die weißen Häuser, glaubte ich die Spitze eines Schutzmannhelmes in der Sonne blinken zu sehen. Nicht um ein Königreich hätte ich hier den Fuß an Land gesetzt bei hellem Tageslicht. Erst als die Nacht vollends hereingebrochen war, kletterte ich an dem Tau über drei, vier andere Barken hinweg an Land. Der Sprung auf den scharfen Kies ließ mich rückwärts ins Wasser fallen. Ich hätte laut aufschreien mögen, aber ich verbiß den Schmerz. Ich schaute einen Augenblick über den Fluß, wo die Schiffe wie Schatten lagen und überall die Sterne sich im stillen Wasser spiegelten. Auf einem dicht nebenan liegenden großen englischen Dampfer spielte einer auf einer Ziehharmonika einen alten Gassenhauer, den man vor Zeiten im Yankeelande bis zur Bewußtlosigkeit gehört hatte:

»Good bye. darling, I must leave you . . .«

Ich horchte auf und fand das nicht ganz passend und humpelte weiter den Strand hinauf in die stillen Straßen, wo nur da und dort die trüben Laternen unsicher brannten. Sie konnten nicht trübe genug brennen für meinen Geschmack. Ich drückte mich in die Schatten der Häuser und schreckte auf vor jeder Gestalt, die die Straße entlang kam, vor jeder Stimme in den Häusern, vor jedem verschlafenen Hundegebell.

Wohin in dieser fremden, feindseligen Stadt?

Drunten im Elektrizitätswerk, der Yankee, war noch der anständigste unter diesen Spitzbuben gewesen. Dort hatte ich noch einen kleinen Batzen Geld zugute. Mein Zeugsack, den man mich nicht mitnehmen ließ, war auch noch dort, und nichts brauchte ich im Augenblicke nötiger wie diesen. So machte ich mich auf den Weg mit aller Vorsicht.

Dicht entlang des Strandes, wo es nach alten Abfällen duftete und man in der Dunkelheit über zerbrochene Flaschen, verfaulte Lumpen und weggeworfene Konservenbüchsen stolperte, schlich ich mich langsam vorwärts. Der Yankee saß auf der Bank vor der Maschinenhalle und rauchte seine Pfeife nach seiner Gewohnheit. Er sprang auf und schaute mich an wie einer, der einen Geist erblickt.

»Ich will meinen Hut fressen, wenn das nicht Charley ist! – Ich dachte, Sie wären längst schon bei Doña Maria in Cuyabá!«

»Woher wissen Sie –« fragte ich erstaunt.

»Woher ich weiß? In dieser gesegneten Stadt passiert nichts, das nicht jeder eine halbe Stunde nachher schon weiß. Cascabel hat es mir gesagt, der Comisario hat es telephoniert und Don Guillermo, Ihr lieber Landsmann von der Bierbrauerei, hat es mir am nächsten Tage noch einmal schmunzelnd bestätigt. – Ah, es wird keine angenehme Überraschung für Don Guillermo sein, wenn er hört, daß Sie wieder zurück sind von Doña Marias Plantage! – Von Doña Maria! Ich habe das kommen sehen, alle die Tage. Ich hätte Sie warnen können, aber wo werde ich denn! Matto Grosso ist groß, der Delegierte hat lange Arme, und es ist nicht gut, wenn man sich in die Politik einmischt. Mehr als zehn Jahre schon sitze ich hier am Wasser und habe manchen Jungen gesehen, den sie dort hinaufgeschickt haben, aber Sie sind der erste, der wieder zurückgekommen ist. – Schlag mich tot! Don Guillermo wird keine Freude haben, wenn er davon hört!«

Während er noch so weiter plapperte, waren wir schon in das Maschinenhaus gekommen, wo eine dunkelhäutige Doña eben das Nachtessen brachte. Es gab natürlich Reis und Bohnen neben anderen Dingen, die verlockend rochen, von denen ich aber um die Welt nichts hätte essen können. Trotzdem ich drei Tage und drei Nächte lang geschlafen hatte, war ich noch immer so müde, daß ich kaum einen Löffel hätte festhalten können, wenn man ihn mir in die Hand gegeben hätte. Ich legte mich hin in einer einsamen Ecke des weiten Raumes und hörte auf das Summen der Motoren und das Klanken und Knarren der Lager. Ich spürte den kühlen Luftzug, der von den Schwungrädern kam. Ich sah die Leute, die bei ihrer Arbeit hin und her huschten auf dem glatten Getäfel im Halbdunkel des Raumes. Ich sah die Maschinen, die blank und weiß und feindselig dastanden im hellen Lichte. Ich schaute in ihre weißglühenden Eingeweide, deren Widerschein wie Wetterleuchten durch den Saal lief, wenn immer einer die Türen aufriß, um neue Holzstöße in den gierigen Rachen zu werfen. Und bald sah und hörte ich gar nichts mehr, bis am anderen Morgen die helle Sonne durch die hohen Fenster schien. Der Betriebsleiter selbst schüttelte mich nicht eben sanft aus dem Schlafe. Er zahlte mir meine rückständigen Batzen aus und noch ein Stückchen mehr, als er mir schuldig war. Ich suchte meinen Zeugsack und fühlte mich wie neugeboren, als ich wenigstens wieder Schuhe an den Füßen und ein anständiges Hemd auf dem Leibe hatte, denn das war mir schon lange nicht mehr vorgekommen.

»Nun müssen Sie sich aber dünn machen,« sagte der Yankee zum Abschied, »so dünn wie nur irgend möglich. Hier im Matto Grosso kann man sich nie dünn genug machen. Heute mittag fährt der Dampfer flußabwärts nach Esperanza. – Auf Wiedersehen! Oder nein! Lieber nicht! Wir kämen beide zu Doña Maria, wenn der Präfekt uns hier zusammen sähe.«

So nahm ich meine Sachen und ging hinaus in den hellen Morgen, über dem die Hitze bleiern lag. Aber ich dachte nicht daran, mich »dünn zu machen«. Ich humpelte durch die Gassen und hörte nicht auf den Lärm, der an meine Ohren schlug, und je weiter ich kam, je mehr verstrickte ich mich in finstere Gedanken einer wilden Verzweiflung und geriet immer mehr in einen desperaten Gemütszustand, der etwas Verwandtes haben mochte mit dem der grollenden, knurrenden Köter, die hier allenthalben die Straßen unsicher machten.

Und ganz so kam ich mir auch vor. Ein rechtloses, vogelfreies Etwas, an dem jeder seine Launen auslassen konnte und um das kein Mensch in ganz Brasilien sich kümmern würde, wenn ihm irgend etwas zustieße. Ich zählte meine Barschaft und machte dabei ein immer längeres Gesicht, als ich mir ausrechnete, wie gänzlich unzulänglich sie war für alles das, was ich damit auszuführen gedachte. – Fünfzig Milreis! Damit konnte ich zur Not einige acht oder zehn Tage mein Leben fristen, vielleicht – wenn mir nicht vorher noch etwas Schlimmeres passierte, hier, wo mir der Boden unter den Füßen brannte. Damit konnte ich allenfalls bis nach Esperanza fahren, wo der lange Weg durch den Matto Grosso begann. Aber der Matto Grosso ist groß und der Weg nach São Paulo über zweitausend Kilometer lang, und dort wie hier gab es wohl auch Polizeidelegierte, die einen zu Doña Maria schickten und tausend andere Fallbrücken für einen armen Teufel in diesem Lande, wo es keine größere Sünde gibt als die: kein Geld zu haben. Was lag also daran, ob ich hier war oder dort? Mochten sie es hier tun, wenn sie wollten, aber lebendig sollte mich niemand mehr in jene Hölle bringen.

Ja, und da waren doch auch noch die lieben Landsleute, mit denen ich eine kleine Rechnung hatte! Die lieben Landsleute, die mich der Polizei ans Messer geliefert hatten aus reiner Lust am Denunzieren, weil eben zu aller Zeit und in allen Zonen der Deutsche noch immer des Deutschen größter Feind war. Diesen wahrlich hatte ich es nicht zu verdanken, wenn ich heute lebendig und mit einigermaßen heiler Haut hier herumlief. Je mehr ich daran dachte, je wilder kochte mir das Blut. Ich vergaß alle Vorsicht und machte mich auf die Suche nach diesen liebenswürdigen Kreaturen. Zu ihrem und wohl auch zu meinem Glück war keiner aufzufinden. Es mußte wohl so sein, wie der Yankee im Elektrizitätswerk behauptete: die Wände hatten Ohren in dieser aufblühenden Stadt. Der hohe Handelsherr – es wurmt mich heute noch, daß ich seinen Namen vergessen habe – war verreist, Don Guillermo, der Bierbrauer, lag im Spital. Er war krank. Ich hoffte das Beste und wünsche es ihm auch heute noch, wie er mir es wünschte. Ich aber stand da wie einer, der aus allen Wolken gefallen ist. Die Müdigkeit fuhr mir wie ein Bleigewicht in alle Glieder, nun, da ich auch noch Schiffbruch gelitten hatte mit diesen finsteren, unheiligen Plänen. Den ganzen weiten Weg, den ich eigens zu diesen Zwecken hier heraufgekommen war in der Mittagshitze, schleppte ich mich wieder zurück bis zum Hafen, wo eben die Sonne blutrot hinter dem glatten Wasserspiegel des breiten Flusses versank. Die Masten und Schornsteine standen scharf und schwarz gegen den roten Abendhimmel, und da und dort zitterten schon ein paar Lichter über dem Wasser. Im Fluß lag ein Passagierdampfer, der mit Einbruch der Nacht nach Esperanza fahren sollte. Am Strande lag das Motorboot, das die Passagiere aufnehmen sollte. Ich wollte darauf zugehen, als ich noch rechtzeitig die lange, dürre Gestalt Cascabels in den fallenden Schatten des sinkenden Tages bemerkte. So wartete ich noch einige Minuten, bis die Nacht vollends hereingebrochen war, erwischte noch rechtzeitig das Boot, das eben vom Lande abstieß und war bald an Bord des Dampfers, wo ich dem Kassierer meine ganze Barschaft aushändigte und dafür drei Milreis zurückbekam. Knarrend und ächzend setzte sich die Maschine in Bewegung, das Wasser fing an zu rauschen vor dem Schiffsbug, langsam glitten wir stromabwärts. Noch heute sehe ich das vor mir. Es war ein wunderschöner, sternheller Abend mit dem ganzen Zauber der Tropen. Aber aus guten Gründen zog ich es vor, ihn vorerst noch drunten in der Passagierkajüte zu genießen. Ich hatte ohnehin genug und übergenug von dem Anblick dieser Landschaft. Zuweilen aber konnte ich nicht umhin, durch das Portfenster über das Wasser hinwegzusehen nach den weißen Häusern der Stadt, die feindseliger wie je herüber schaute. Starr und wie fasziniert schaute ich nach der Landungsbrücke, wo ich noch immer Cascabel zu sehen glaubte, boshaft grinsend wie immer und finster und übernatürlich groß wie eine Vision des Todes. –

Wir fuhren die ganze Nacht, und bei Tagesanbruch kamen wir in Esperanza an, das sich als ein noch armseligeres Nest herausstellte als ich vermutet hatte. Kaum ein Dutzend ordentliche Häuser sonderten sich aus dem Nachtdunkel ab, und was man dahinter zu sehen bekam als ersten Blick auf die weite Waldwüste des Matto Grosso, war auch nicht verlockend. Ein wenig kalt lief es mir dabei über den Rücken, ob ich mich auch dagegen wehrte. Der Matto Grosso ist groß. Bis São Paulo waren es zweitausend Kilometer, und ich hatte nur drei Milreis in der Tasche. –

Nachdenklich ging ich an Land, nachdenklich stieg ich die hohe Uferbank hinauf. Und dann – –

Aber nein, die Geschichte dieser weiteren Irrfahrten und Abenteuer ist viel zu lang, als daß ich sie hier auch noch erzählen könnte.

*   *   *

Als ich zuerst den Fuß auf brasilianischen Boden setzte, sagte ich mir: nun mußt du Portugiesisch lernen. So fing ich denn an zu studieren. Ach, es war eine recht überflüssige Mühe! Denn die portugiesische Sprache besteht eigentlich nur aus einem einzigen Wort, neben dem alle anderen zur blassen Bedeutungslosigkeit herabsinken: Amanhá = morgen.

Das ist die einzige Vokabel, die wert ist zu lernen. Wenn man diese kann, so kann man Portugiesisch. Alle anderen gruppieren sich um sie wie die gehorsamen Sterne um eine Sonne.

Und man kann dann auch Brasilianisch. Und wo wäre mehr Gelegenheit geboten zum Erlernen dieser Vokabel, als auf dem langen Wege durch den weiten Matto Grosso? Doch wie gesagt: ich will kein Wort davon erzählen. Das letzte Gewerbe, in dem ich mich versucht habe auf der langen Reise als hungriger, landflüchtiger Abenteurer, war recht apart, und zu meiner Schande muß ich gestehen, daß es auch ganz meinen damaligen Neigungen entsprach. Schon längst war ich zu der Ansicht gekommen, daß das Land Brasilien zu viele Hunde beherbergt, und daß man sich nur ein Verdienst erwerben würde, wenn man etwas aufräumte unter diesem überreichlichen Segen. In den abgelegenen Urwaldortschaften, wo die Fleischrationen nicht knapp sind und jedermann den Teil der Dorfstraße vor seiner Hütte als seinen ureigensten Schuttabladeplatz ansieht, kann man schon ein paar Hunde gebrauchen als Sanitätspolizei. Diesen bekommt die Kost ganz leidlich. Sie vermehren sich wie die Kaninchen. Es kommt zu einer Übervölkerung. Für die Hälfte ist es nicht mehr genug der Mahlzeit. Es kommt zu furchtbaren Schlachten und bald ist nichts mehr übrig als ein Schwarm von zerzausten Kötern, die unstet umherschleichen mit abstehenden Haaren und unruhigen Augen, die flackernd aus tiefen Höhlen hervorschauen. Und wenn ein fremder Wandersmann die Straßen entlang zieht, so sehen sie in ihm ein willkommenes Hors d'œuvre zu ihrer knappen Mahlzeit. Die Hunde im Matto Grosso haben mir mehr zu schaffen gemacht als die Bestien des Urwalds.

So kam ich eines Tages – schon im Staate São Paulo – in ein kleines Städtchen am Rio Tieté, das schon die ersten Kinderschuhe ausgetreten hatte und anfing etwas zu halten auf das Dekorum. Sie hatten schon eine Plaza, ein Kino und natürlich auch einen Musikpavillon. Nun sollte es den marodierenden Hunden an den Kragen gehen. Der Stadtrat hatte den Beschluß gefaßt, und der Bürgermeister, als poder ejecutivo, sollte die Ausführung ins Werk setzen. Also war ein Ukas ergangen, demzufolge an einem bestimmten Nachmittag jeder seine vierbeinigen Freunde, auf die er noch einigen Wert lege, im Hause festhalte. Die anderen sollten in die glücklichen Jagdgründe befördert werden. Das war nun leichter gesagt als getan, denn wer sollte das Amt übernehmen, wo doch jeder glaubte, daß der andere überflüssige Hunde habe? In dieser entscheidungsvollen Stunde begegnete ich dem Comisario auf der Straße.

»Senhor,« sagte er, »Fremde sind hier verdächtig. Wenn Sie das Amt übernehmen wollen, bekommen Sie zehn Milreis.«

Ich sagte: »Amanhá.«

Aber die bequeme Vokabel war für heute wenigstens einmal außer Kurs gesetzt. »Embora!« sagte er grob, indem er mir das Säckchen voll giftiger Kuchen in die Hand drückte.

So machte ich mich denn auf den Weg und streute die Kuchen. Es war kein schönes Geschäft. Aber zehn Milreis waren nicht zu verachten, und manch einer hat schon ganz andere Mordtaten auf sein Gewissen geladen für noch viel weniger.

Wie gesagt: ganz wohl fühlte ich mich nicht in meiner Rolle als rächende Nemesis. Und auch sonst schien man meine Tätigkeit nicht sonderlich zu schätzen. Es mag wohl sein, daß an jenem Nachmittag jemand hell wach war im Dorfe. Gesehen habe ich ihn jedenfalls nicht. Nur Hitze und Sonne und Staub und räudige Köter und da und dort eine magere Ziege, die sich an zerrissenen Säcken oder einer alten Nummer des »Estado de São Paulo« gütlich tat. Als der Abend dämmerte, kam der Comisario und gab mir meine zehn Milreis nebst einer Fahrkarte nach Campinas. Das letztere war fast noch notwendiger wie die zehn Milreis, denn als ich einige Tage später zufällig in die Zeitung sah, stand da von einem kleinen Aufruhr in einem hinterwäldlichen Städtchen und von einem Apotheker, der die Stadt um dreitausend Milreis Schadenersatz verklagte, weil man ihm seine wertvollen Jagdhunde vergiftet hätte.

Zu dieser Zeit befand ich mich indes schon wohl und geborgen in der Stadt São Paulo. Freilich darf man dabei diese beiden Adjektive nur in Anführungszeichen setzen. Ohne einen Pfennig lief ich planlos durch das Straßengewühl der großen fremden Stadt, und mir war, als ob es mir jeder ansehen würde, daß ich eben aus dem Matto Grosso gekommen wäre. Ein Wunder wär's nicht gewesen, denn ich schaute danach aus. Vor dem deutschen Generalkonsulat stand ich eine Weile zögernd und unschlüssig. Schon stand ich vor dem Beamten, der mich mit dem ganzen Mißtrauen eines Konsulatsbeamten musterte.

Ob Briefe für mich da wären?

Er kam mit einem ganzen Stoß.

»Faber – Doktor Kurt Faber?«

»Ja.«

»Ausweis?«

Ich zuckte die Achseln.

»Ja, da kann doch jeder kommen –«

Ich wollte etwas erwidern, aber ich fand keine Worte. So viele Monate hatte nun diese Komödie der Irrungen schon gedauert. Sollte das auch jetzt noch weiter gehen?

Der Herr Generalkonsul selbst erschien auf der Bildfläche. – Nun ja, ich habe schon manches gesagt und geschrieben über die Konsuln, aber diesen muß man passieren lassen mit allen Ehren.

Wenn sie alle so wären!

Noch am selben Abend – und in der Tat auch für die nächsten vierzehn Tage oder drei Wochen – quartierte ich mich in einem Portugiesischen Gasthause in der Nähe der »estacão Luz«, des großen Zentralbahnhofs ein. Nun ja, es war nicht eben das »Hotel Suizo«. Es war weder eine erstklassige noch eine zweitklassige – war es eine drittklassige Unterkunft? Kost und Logis bekam man hier für sechs Milreis, also rund drei Mark pro Tag, und das ist nicht eben viel, weder hier noch in São Paulo. Alle Tage gab es zweimal Reis mit Bohnen, nur Sonntags bekam man dreimal dieses Gericht und dazu noch eine mächtige Schüssel voll Schweinsohren, die mit schwarzen Bohnen zusammengemischt und in kochendem Zustande serviert werden. »Fejoada« nennt man dieses Sonntagsgericht. Jeder Portugiese und jeder Brasilianer gerät in festliche Stimmung, wenn er solche »Fejoada« nur von weitem riecht. Dazu gab es natürlich Reis, Sonntags wie Werktags, und immer wieder die schwarzen Bohnen. – Und nun mag man sagen was man will über Rassenkreuzungen. Ich persönlich glaube, daß diese Schwarzweißmischung in der Nahrung auch mit einen Teil verantwortlich ist für die interessante Vielfarbigkeit des brasilianischen Volkes.

Wie dem auch sei: Wenn je das Wort vom Tintenkuli eine Berechtigung hatte, so paßte es auf jenen Gringo im Restaurant des edlen Don Gonzalez. Denn was sind Vorsätze, was sind Schwüre, auch die heiligsten? Alles das Grausame, was ich erlebt hatte auf dem weiten Wege von Peru bis hierher, und von dem ich mir geschworen hatte, daß ich es nie wieder, auch nur in Gedanken noch einmal durchleben oder gar darüber schreiben wollte, flog nun mit fiebernder Hast auf das Papier für das Publikum der dortigen deutschen Zeitung. – Fürs Publikum? Ums bare Geld allein war es mir zu tun, denn nach dem Schreiben stand mir wahrlich nicht der Kopf. Mehr Seiten, mehr Milreis, sagte ich mir, während ich mich im alten Handwerk übte. Und ich mußte viele Seiten voll schreiben, ehe ich meinen Tagesunterhalt verdient hatte. Dabei – ich zweifle sehr, ob jemals jemand unter erschwerenderen Umständen solchem Handwerk obgelegen hat. Am Ende eines langen Tisches, in der hintersten, dunkelsten Ecke der Wirtsstube hatte ich mich mit meinen Utensilien niedergelassen und konnte auch einigermaßen meine Gedanken zusammennehmen, trotz des Höllenlärms, der das Lokal erfüllte, trotz der scharfen Alkohol- und Tabakdünste, die mir in die Nase stiegen. Am zweiten Tage ging es auch noch leidlich, am dritten wurde die Lage beinahe unhaltbar. Am anderen Ende des Tisches saß um eine mächtige Karaffe voll Rotwein eine Gesellschaft von Portugiesen, die eifrig miteinander tuschelten und dabei immer zu mir herüber sahen. Ein langer Bursch mit einem mageren, gelben, ungesunden Gesicht, mit kohlschwarzen Haaren und ebensolchen Augen rückte auf der Bank an mich heran und schaute kopfschüttelnd auf die vielen beschriebenen Bogen.

»Senhor,« sagte er mit weicher, mitleidiger Stimme. »Geben Sie sich keine Mühe. Sie hat gewiß schon einen anderen. – Und in Europa ist sie? Das ist weit weg, Senhor, und dazwischen liegt das große Wasser. Das können Sie nicht überbrücken mit noch so vielen Bogen Papier. – So viele Bogen! Warum tun der Senhor dieses? Es gibt doch genug in São Paulo. An jedem Finger kann man eine haben. – Was!«

Aber der Senhor hörte nicht auf die gut gemeinten Ratschläge. Er schrieb und schrieb am Morgen, Mittag und Abend, und die anderen schüttelten immer mehr die Köpfe und zogen an dem langen, mit Brotkrumen und Rotweinflecken reichlich bedeckten Tischtuch und schauten mir über die Schulter wie kleine Kinder und machten dazu ihre Bemerkungen.

»Ah, aber er kann schreiben! Ein Wort wie das andere! Wenn ich so schreiben könnte, hätte ich schon längst das kleine, nette Pöstchen bei der Stadtverwaltung, das mir mein compadre angeboten hat. Nicht einen Tag länger würde ich in diesem Ausschank wohnen; nicht ich!«

»Was er nur alles zu schreiben hat! Mir würde in meinem Leben nicht so viel einfallen, um zu einer novia zu sagen.«

»Als ob's darauf ankäme!« meinte ein anderer. »Es sind die Augen, mit denen man Eindruck macht bei den Frauenzimmern.«

»Halten Sie ein, Senhor! Hören Sie auf einen alten Mann! Es ist alles umsonst. In meinem Leben habe ich noch keine Senhora gesehen, die einen Brief ganz fertig gelesen hätte.«

So redeten sie weiter und erhitzten sich ordentlich an ihren eigenen Worten, bis ich bei sinkender Nacht meine Sachen zusammenpackte und nach der Rua Libero Badaró eilte, wo mir der Redakteur mit einem Seufzer meinen Tagesverdienst aushändigte.

So ging es an jenem und noch verschiedenen anderen Tagen, bis mir eines Abends, als ich wieder auf dem Weg war nach dem Mammon, etwas Kaltes den Rücken hinunterlief. Ich setzte mich auf eine Haustreppe in einer stillen Straße und verbrachte dort die halbe Nacht mit klappernden Zähnen. Wie lang sind die Nächte des Fiebers! Und war es wirklich nur die liebe alte Malaria, die mich noch einmal besuchte? Ein drückendes Kopfweh raubte mir fast die Besinnung. – Das war wohl noch etwas anderes.

Was war es nur?

Ja, das hatte nun gerade noch gefehlt, nach all den anderen Miseren, die sich an meine Rockschöße gehängt hatten in Urwald und Wüste:

Der Typhus.

 


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