Kurt Faber
Tage und Nächte in Urwald und Sierra
Kurt Faber

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Der Anfang in Peru

An Nord bei »Murla«. – Ein schwerer Abschied. – Ich bekomme den Blaukoller. – Das Valutageschäft. – Erste Belehrungen. – Nur nicht arbeiten! – Kriegsrat in der Schiffsküche. – Grausige Wanderung über das Schlachtfeld. – August findet Arbeit. – Ein nasser Beruf. – François zeigt sich gefällig. – Die Nation vom leeren Geldbeutel. – Ich finde eine Unterkunft als Mußfranzose. – Die »Kleine Menagerie«, der Superboche und noch mehr Mußfranzosen. – Schon wieder arbeitslos.

Das war im Sommer des Jahres 1921. Es liegt also noch nicht allzu weit zurück in der Weltgeschichte. In gewisser Hinsicht war es ein historischer Tag, denn an ihm zeigte sich seit sieben langen, lustlosen Jahren zum erstenmal wieder die deutsche Flagge am Heck eines deutschen Schiffes im peruanischen Hafen von Callao.

Es war die gute alte »Murla« der Bremer Kosmos-Linie, der diese Ehre zuteil wurde. – Je nun, sie war nicht gerade ein »Imperator« in ihren Ausmaßen, aber in all ihrer hausbackenen Bescheidenheit war sie mir doch eine Heimat gewesen in den letzten zehn Tagen von Valparaiso bis Callao. Nach einem abenteuerlichen Ritt quer durch Patagonien nach der Westküste und dem zerreibenden Daseinskampf, der in Chile vielleicht noch schlimmer war als anderswo, hatte ich endlich wieder gewußt, wo ich hingehörte. – Ja, und wie man eben so langsam angefangen hatte, sich daran zu gewöhnen, war es schon wieder vorbei mit den Fleischtöpfen. Wieder, wie schon so oft zuvor, stand ich mit meinen sieben Sachen an Deck und wartete auf das Boot, das mich hinüberführen sollte in ein fremdes Land, das ich kaum vom Hörensagen kannte.

Eben kam Jan, der Bootsmann, und reichte mir treuherzig die Hand zum Abschied.

»Na, adjüs denn! Holl fast, min Jung, und sieh zu, daß du nicht über Bord fällst, 's ist ein bannig böses Pflaster da drüben. Ich möchte nicht begraben sein in dem Affenland.«

Der Kapitän war anscheinend ungefähr derselben Ansicht, denn auch er machte ein bedenkliches Gesicht.

»Was wollen Sie eigentlich dort drüben? Sie können gerne mitkommen nach Hamburg.«

Einen Augenblick schaute ich ihn zweifelnd an. Wenn je ein Mensch in Versuchung gekommen war, so war ich es damals.

Nach Hamburg! Nach Deutschland–! Das war ein Wort, das sich anhörte wie Ruhe nach all der Unruhe. Es klang mir in den Ohren und zauberte tausend Bilder, die ich gerade jetzt am wenigsten sehen mochte. Ich schaute auf das weite Meer unter dem dunkelblauen Himmel, ich starrte hinüber nach der fremden Stadt, die hart und feindselig herüberschaute, wie ein glühender Backofen unter der brütenden Tropensonne. –

Es kostete mich ein Wort.

Aber ich fand es nicht. Und also begann diese Geschichte der Irrfahrten und Abenteuer im Lande Peru und in noch verschiedenen anderen Ländern.

*   *   *

Von meinen sieben Sachen habe ich gesprochen. Ich weiß nicht, ob es genau so viele waren. Jedenfalls waren sie samt und sonders nicht der Rede wert und hatten bequem Platz in meinem Seesack. Mit kräftigen Ruderschlägen schoß das Boot schnell durch das stille Wasser, das glatt wie Glas unter dem blauen Himmel lag. Schon konnte man deutlich die einzelnen Gestalten auf der Landungsbrücke ausmachen, und ich wurde ein wenig nervös, als ich darunter einige Uniformknöpfe in der Sonne blitzen sah. Denn ich muß es gestehen: von jeher habe ich ein wenig gelitten unter jenem eigenartigen Gemütszustand, den man in der Sprache der Polizei als »Blaukoller« bezeichnet, jener dem Vagabunden angeborenen Angst vor der Staatsautorität und ihren Organen. Sie war in diesem besonderen Falle nicht ganz unbegründet, denn – wie gewöhnlich – so hatte ich auch diesmal keinen Paß und auch sonst sah es nicht eben erfreulich aus um meine Legitimationspapiere. Und ohne diese – so hatte man mir versichert – ginge eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Fremder peruanischen Boden beträte, zumal wenn er von Chile kommt. Mit klopfendem Herzen, aber mit herausfordernder Miene, schritt ich über den Pier, auf dem die Schutzleute und Zollbeamten dicht wie die Heuschrecken saßen. Niemand kümmerte sich um mich, nur hart am Ausgang der Straße wurde ich angeredet von einem Polizei- oder Zolloffizier, einem ungewöhnlich schönen Mann mit blendend weißer Uniform und leuchtenden Knöpfen. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf mich und meinen Seesack.

»Marinero?« fragte er zwischen zwei Zügen aus seiner goldgeränderten Zigarette.

»Marinero,« antwortete ich.

»Pase.«

Dann verschwand er wieder in den Schatten seines Schilderhäuschens, und ich ging mit großen Schritten hinaus in die Freiheit des peruanischen Landes. –

Der erste Anblick war keineswegs überwältigend. Das alte Bild, das sich immer wiederholt in allen Hafenstädten längs der südamerikanischen Westküste: Holz und Wellblech, flache, niedrige Häuser unter flimmernder Sonne, Kehrichthaufen mit alten Lumpen und leeren Konservenbüchsen, Hinterhöfe, in denen sich die leeren Flaschen zu Bergen türmen, schreiende Esel auf sandigen Straßen und da und dort irgendeiner mit einer Last auf dem Kopf, der mit singender Stimme irgend etwas zum Verkaufe anpreist.

Gleich das erste Haus war ein Wirtshaus. »Cambio« stand über der Tür zu lesen. Ich besann mich auf die wenigen zerknitterten chilenischen Pesoscheine, die ich noch in der Tasche hatte, und ich dachte mir: »Kannst es geradesogut dem geben wie einem anderen Valutageier.« Ich schob den mottenzerfressenen Vorhang zurück, der an Stelle der Tür vor dem Eingang hing, und war nun einigermaßen überrascht von der kosmopolitischen Zusammensetzung des Publikums. In allen Farbenmustern waren sie hier vertreten, vom hellsten Weiß bis zum Zitronengelb und Schokoladenbraun, und einige waren darunter, die schwarz waren wie chinesische Tusche. Ein dicker Geruch von schlechtem Rotwein und billigem Tabak lag schwer in der Luft. Im Halbdunkeln standen die Fässer, die den Gästen als Sitzgelegenheit dienten. Ganz im Hintergrund, mehr zu hören als zu sehen, hatte sich eine Gesellschaft von Italienern niedergelassen, die sich über ihr Lottospiel beugten, während ein alter Bursche von einigen siebzig Jahren, feierlich wie eine Eule, die Nummer ausrief.

»Ottantotto! Tschinkoantatschinkue! – –«

Das Geschäft ging gut, und die Kellner hatten alle Hände voll zu tun. Aber der Wirt saß unbekümmert auf einem Weinfaß und hielt ausgiebige Siesta. Ich zeigte ihm meine Scheine, die er mit den Fingerspitzen anfaßte und sogleich wieder zurückgab mit einer Miene tiefster Mißachtung.

»No vale nada!«

Sprach's und schlief gleich wieder ein.

Einige umherstehende Gäste machten ihre Bemerkungen zu dem versuchten Geldgeschäft. – »Chilenische Fetzen – gegen gute peruanische Pfunde? Que esperanza! Wo denken Sie hin, Caballero! Das hat hier keinen Wert. Das ist kaum noch gut genug als Tapete für ein peruanisches Zimmer.« Das ganze Lokal mischte sich hohnlachend in das Argument und spann das Thema immer weiter aus in immer kühneren Wendungen, die viel zu verwegen waren für Tinte, Papier und Druckerschwärze. Gewiß wäre es noch lange so weiter gegangen, wenn nicht von draußen ein dicker, schwitzender Herr hereingekommen wäre, mit einer Glatze, die im Halbdunkel des kahlen Raumes wie eine polierte Panzerplatte funkelte.

»Señor, Caballero,« sagte er mit gemessener Summe, »ich werde Ihnen das Zeug da abkaufen zum Kurs von Valparaiso. Denn wir sind Caballeros, wir Peruaner. Ich werde es behalten als Andenken an den Tag von Ancon. Ich werde es mitnehmen, wenn ich demnächst hinüberfahre nach den unerlösten Provinzen und ich werde es dort hinunterwerfen von dem Morro zu Arica.Morro von Arica, der Berg, von dem die siegreichen Chilenen angeblich die gefangenen Peruaner hinunterstürzten. Ich werde meine Zigarette damit anstecken und überhaupt – mueran los rotos!«

Nachlässig griff er in die Tasche und zählte sechs Soles auf den Schanktisch. Ich raffte den Schatz zusammen, sagte »muchas gracias!« und verschwand schleunigst durch die improvisierte Tür in die sonnenhelle Straße.

Im Augenblick wußte ich nicht genau, um wieviel ich zu kurz gekommen war bei diesem besonderen Hexeneinmaleins der Valuta. Und ich nahm mir auch nicht die Mühe, es auszurechnen. Es kam wirklich nicht mehr darauf an nach so vielem anderen. Ich setzte mich auf die Kaimauer neben meinen Seesack und schaute lange und nachdenklich auf das glitzernde Wasser und auf das Kommen und Gehen der Boote. Ich musterte die Segelschiffe, die draußen auf der Reede lagen, und wunderte mich, ob wohl eines von diesen mich demnächst nach Australien bringen würde. Denn das waren im Augenblick meine geheimsten Wünsche, und eben zu diesem Zweck hatte ich die lange Reise unternommen nach diesem Erdenwinkel. Ich war indes nicht der einzige, der hier in der Sonne saß. Kein Winkel dieser Erde ist so weltabgeschieden, als daß in ihm nicht mit zerlumpten Kleidern und hungrigen Augen die traditionelle Gestalt der gescheiterten Teerjacke einherschreite. Hier saßen ihrer eine ganze Reihe. Einer von ihnen – ein großer fetter Bursche mit wässerigen Augen und einem Sommersprossengesicht –, der auch mich in all meiner Ärmlichkeit als ein zahlungsfähiges Objekt ansehen mochte, kam auf mich zu mit der üblichen Anrede:

»Got a match, Jack?«

Ich gab ihm das gewünschte Streichholz, worauf er um den Preis eines Glases Bier und hierauf um einen Sol für ein Nachtquartier anhielt. Ich hatte Mühe, ihm auseinanderzusetzen, daß ich selbst nichts hatte, und daß, wenn ich nicht bald Arbeit fände – –

Solche Bemerkung verursachte einen Ausbruch der Entrüstung bei der gesamten hier versammelten Strandläuferschar.

»Was? Ar–beit? Mensch, du hast dir wohl irgendwo einen Sonnenstich geholt? Arbeiten in Peru? Hat man schon so etwas gehört?«

»Aber warum denn nicht?«

»Warum? Eben darum! So etwas tut man nicht hierzulande! Man richtet sich eben ein. Man schläft in den Beibooten und in den Leichtern am Strande, man liest die Centavos zusammen auf der Plaza, man futtert Reis bei den Chinesen, man schnürt den Gürtet enger, wenn man hungrig ist, man sitzt auf der Bank und wartet bis ein Dummer kommt, man wartet, wartet, wartet, bis man auf irgendeinem Kasten wieder hinausschlüpfen kann aus diesem Loch, aber arbeiten – Mensch! Willst du denn die ganze Zunft blamieren? Zwei Soles zahlen sie hier für ein Tagewerk, und wenn sie ganz gnädig sind, so sind es deren drei, und damit kannst du zur Not noch Kost und Logis bekommen mit Reis und Regenwürmern: bei einem Hundesohn von einem Chinesen. Wenn du lebst wie ein Nigger und nie ein Glas Whisky trinkst, so kannst du dabei in einem Jahr genug sparen, um ein Paar Pantoffel aus Segeltuch zu kaufen. Vom nächsten Neujahr an mußt du dann beizeiten mit dem Sparen wieder anfangen, wenn es zu Silvester für eine Mütze langen soll, und bei der Zeit sind die Pantoffel wieder zerrissen, und es geht wieder von vorne an. – Ja, Arbeiten!«

Er schüttelte sich ordentlich bei dem Gedanken, und die anderen, die dabei standen, schüttelten sich auch. Einer von den Burschen – ein etwa dreißig- bis fünfunddreißigjähriger Mann mit Namen August – war ein deutscher Landsmann und bot sich mir als Cicerone an für den Rest des Tages. Wir gingen zusammen durch die Stadt, vorbei an schmutzigen Häusern, über schlecht gepflasterte Straßen, weite Plätze unter brütender Sonne und durch ganz enge, getäfelte, an Venedig erinnernde Gänge, die zu beiden Seiten von Wirtshäusern nur so überquollen. Von überall kam der Lärm von schreienden Grammophonen, betrunkenen Matrosen und weinenden Leierkasten, und über allem anderen Lärm ertönten die gellenden Rufe der Lotterieverkäufer.

»Hunderttausend Soles – Para hoy!«

Während all dieser Zeit wurde August nicht müde, mir seine amerikanische Leidensgeschichte zu erzählen. Was er vorbrachte, war ziemlich konfus, aber auch das, was man verstehen konnte, war genug, um einen mit blassem Neid zu erfüllen vor solcher Vielseitigkeit. Er war Schiffszimmermann von Beruf und vor zehn Jahren in Punta Arenas von einem »Kosmoskasten« weggelaufen, und seither hatte er sich in mehr Berufen betätigt, als es Hafenstädte an der pazifischen Küste gibt. Bis wir auf der Plaza San Martin waren, hatte er deren schon zwanzig aufgezählt, und noch immer ging es weiter wie eine Sintflut. Als er eben dabei war, von seinen Abenteuern als Gummibaron in den bolivianischen Sümpfen zu berichten, waren wir dort angelangt, wo es den Wandersmann schon immer von selbst hinzieht: zwischen den Docks und Kais, inmitten des lärmenden Lebens am Hafen. Wir gingen vorbei an qualmenden Dampfern und schlanken Schonern, an zwei bewachsenen Brückenpfeilern, auf deren Köpfen kriegerisch ausschauende Kormorane saßen. August, der offenbar schon länger hier am Strande lag, als er wahrhaben wollte, kannte jedes einzelne Schiff und seine Mannschaft und hielt mir über jedes einen Vortrag. Vor einer hölzernen Dreimastbark, die wohl um die Mitte des vorigen Jahrhunderts schon zur See gefahren war, blieb er stehen und betrachtete sie lange und andächtig.

»Guter alter Kasten!« sagte er wehmütig. »Manche Reise habe ich auf ihm gemacht, immer mit einer Ladung Zucker von Payta und zurück mit Guano von den Inseln. Der Kapitän ist ein fixer Junge aus Schulau an der Elbe. Eine hübsche Stange Geld hat er sich schon verdient mit dem Kokainschmuggel. Auf mich ist er nicht mehr gut zu sprechen, seitdem ich in Guayaquil die Seide an Land brachte und er dafür bestraft wurde von den Zollbehörden, weil der Chinese nicht dicht gehalten hatte. – Aber Smutje, der Koch, ist noch immer mein Freund. Er ist ein Hamburger Jung und paßt zu der peruanischen Flagge hier am Heck wie ein Hering zu einer Makrele.«

Während er noch so redete, waren wir schon das Gangplank hinaufgegangen und standen vor der Kombüse, wo Smutje erschien in seiner behäbigen Gestalt, die die ganze Türöffnung ausfüllte.

»Det ward all Tid!« sagte er ungeduldig. »Nächstens muß man euch noch eine Einladungskarte schicken.«

Wir setzten uns an den blanken, weißgescheuerten Küchentisch, wo Smutje uns je einen Emailteller vorsetzte, den er aus einem großen, dampfenden Kessel bis zum Rande anfüllte mit einem gewissen Etwas, das zwar ganz gut schmeckte, für das ich aber keinen Namen finden konnte, bis mir August erklärte, daß das gehackter Tintenfisch mit Süßkartoffeln war. Solches Gericht hatte ich noch nie gegessen, aber wie gesagt, es schmeckte gut und das, zusammen mit einer großen Mug voll jener dunklen Flüssigkeit, die man in den Mannschaftslogis der Schiffe aller Nationen mit einiger Kühnheit als Tee zu bezeichnen pflegt, trug sehr dazu bei, meine Meinung über das Land Peru und meine Hoffnungen in bezug auf meine Zukunftsaussichten unter dieser heißen Sonne erheblich heraufzusetzen.

Nachdem wir sattgegessen hatten, holte Smutje eine große Buddel Rum aus dem Schranke, und mit dem heißen Wasser im Teekessel braute er einen steifen Grog, wie man ihn in der solidesten Schifferkneipe am Schaarmarkt oder am Großen Neumarkt in Hamburg auch nicht besser bekommen könnte. Dann sprachen wir von Geschäften. Smutje hatte ein Ding ausfindig gemacht, das uns alle miteinander zu Millionären machen sollte. An der Küste, nordwärts von Callao, lag hoch und trocken am Strande das herrenlose Wrack eines Küstenschoners. Wer hinderte uns daran, es in Besitz zu nehmen? August war ein gelernter Schiffszimmermann, Hein Jürgens, der schon draußen war, verstand etwas von der Schlosserei, und ich könne mich da und dort nützlich machen. In zwei bis drei Monaten hätten wir den Kasten nagelneu hergerichtet, mit einigen Walzen als Laufbahn und mit einer großen Talje werde man ihn flott machen und schon seien wir alle Reeder und Eigentümer und Kapitän. Man braucht es nur zu wollen. Das eben habe von jeher die reichen Menschen gemacht, daß sie die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. So redeten sie eine Weile weiter, und ich hörte nur halb zu, aber wie gesagt – der Grog war »stief« und begann mir ein wenig in den Kopf zu steigen. Das Unternehmen schien nicht ganz aussichtslos. Es schmeckte nach Abenteuern. Es war einmal etwas anderes in der nimmer endenden Tretmühle des ewig gleichen Kampfes ums Dasein. Und warum sollte ich mich nicht an dem Geschäfte beteiligen, ich, der ich nichts zu verlieren hatte als einen leeren Magen?

So kam es, daß wir beide – August und ich – uns auf den Weg machten nach der fernen Arbeitsstätte, als eben die Sonne glutrot hinter den schwarzen Hügeln der Insel San Lorenzo versank. August, der der Ansicht war, daß man zur Arbeit immer noch früh genug komme, nahm einen Umweg über sämtliche Wirtshäuser am Wege, wo meine Tasche leichter und mein Kopf um so schwerer wurde. Beim letzten Haus hatte sich auch mein letzter Sol in Centavos verflüchtigt, und es blieb uns nun nichts mehr übrig, als tapfer auszuschreiten, wenn wir für die Nacht noch ein Quartier haben wollten. Es war eine klare Nacht. Der Schein des Vollmonds lag taghell über dem Lande, und das war gut so, denn die Nachwirkungen der vielen Getränke lagen mir dumpf im Kopfe und mein neuer Kamerad ging vollends »drei Strich im Winde«. Die letzten Häuser der Stadt hatten wir schon lange hinter uns gelassen und stampften nun mühsam durch den losen Sand zwischen hohen Dünen, die weiß wie Schnee im Mondlichte leuchteten, während in den Falten die Schatten so schwarz wie Tinte hockten. An einer steilen Stelle blieb August stehen und wühlte mit seinem Stock im Sande. »Paß auf!« rief er plötzlich.

Schon kollerte etwas Rundes den Hang herunter. Ich bückte mich, um es aufzuheben, aber schnell ließ ich es wieder fahren. Es war ein Menschenschädel. »Vorwärts!« rief August. »Wir deutsche Jungs haben keine Angst vor den Toten!«

Wieder blieb er stehen. Wieder wühlte er mit dem Stock im Sande. Nun rollten sie polternd von allen Dünen, wie so viele Kegelkugeln. So viele Kugeln, so viele Köpfe. Mir lief es kalt über den Rücken. Ich wollte umkehren, aber August marschierte weiter mit großen Schritten. »Bange machen gilt nicht! Wir deutsche Jungs . . .«

Und immer kollerten noch mehr Schädel von den Dünen. Wohin man sah, schauten sie grinsend aus dem Sand, wohin man ging, trat man auf zerstreute Knochen, die bleich unter dem bleichen Mondlicht lagen. August marschierte taumelnd voraus und ich immer hinterher, derweilen in meinem Kopfe ein Vers aus Dantes Hölle summte:

»Und wie bei Pola, nahe dem Guarnero,
Der Welschland schließt und seine Grenzen netzet,
Der Grund uneben ist von lauter Gräbern –«

Erst später erfuhr ich, was es auf sich hatte mit diesem Geisterspuk. Wir waren mitten über den Schauplatz der Schlacht von Chorillos gekommen, die im Januar 1881 die Tore frei machte zur Eroberung Limas und damit den blutigen Krieg entschied, den die Chilenen stolz den pazifischen nennen. So wie sie damals gefallen sind, so liegen sie auch heute noch auf dem blutgetränkten Felde, doch in dem treibenden Sande der Dünen gibt es keine ruhige Stätte für die Toten. Rotos und Cholos liegen hier wild durcheinander, so wie sie sich kurz zuvor im Leben noch bekämpft hatten. Alles andere ist längst schon gestohlen von den Hyänen des Schlachtfeldes. Die letzte Mütze, der letzte Uniformknopf, das Bajonett, das die blutige Arbeit tat. Ringsum ist alles still und tot. Man hört nur das Summen des Windes in den Telegraphendrähten, das Heulen der Schakale zwischen den Dünen und in der Ferne das Donnern der Brandung, die das ewig unruhige Meer gegen die Küste wirft. – Ich bin, weiß Gott, kein Pazifist, aber hierher möchte man doch manchen der befrackten Diplomaten wünschen, ehe er auf glattem Parkett die Minen springen läßt für seine »petite guerre«.

Endlich hatten wir den Spuk hinter uns gelassen und kamen in eine stachelige Baumwollplantage, wo man trotz des hellen Mondlichtes alle Augenblick in das faule Wasser eines Bewässerungsgrabens stolperte. Die Nacht war schon weit vorgeschritten, als wir endlich am Ziel unserer Reise angelangt waren. Mehr wie halbwegs aus dem Wasser lag hier ein Schoner von der Art, wie man ihn vielfach im Kleinverkehr an der pazifischen Küste sehen kann. Mit dem Heck nach vorne war er gestrandet, mit einer starken Schlagseite nach Backbord. Sonst aber war er noch auffallend gut erhalten, mit beiden Masten und sogar einem Teil des Tauwerks, soweit man sehen konnte in der Dunkelheit, denn der Mond stand schon tief und hüllte die Schattenseite des Fahrzeuges in pechschwarze Nacht. August, der sich auskannte, faßte ein herunterhängendes Tau und schlüpfte durch ein Bullauge. Ich folgte ihm nach und schon stand ich in einem der seltsamsten Schlafräume, die ich je gesehen hatte, und das will schon etwas heißen. In manchen sonderbaren Schlafgelegenheiten hatte ich schon das Dunkel der Nacht überdauert. In Urwäldern und Eiswüsten, in verlassenen Winkeln heimatloser Großstädte und einmal sogar auf hoher See auf einem toten Walfisch, aber noch niemals in einem Raume, der halbwegs auf dem Kopfe stand. An so etwas mußte man sich erst gewöhnen. In einer Koje, die wie ein Schwalbennest an der schiefen Bordwand klebte, streckte ich meine Glieder aus und versuchte etwas zu schlafen. Aber es blieb bei dem Versuch. Der düstere Raum in der ägyptischen Finsternis, das Knacken und Krachen im Holze und draußen das ewige, nimmer endende Spiel der Brandung, die polternd anrannte und rauschend und gurgelnd sich wieder verlief, das alles verursachte ein dumpfes, bedrückendes Gefühl. Unmerklich fiel ich in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem ich plötzlich aufschreckte und plumps! aus der Koje fiel.

Da mochte ich es nicht mehr aushalten in der Höhle. Ich verstaute meinen Zeugsack in einer Ecke und ging an Deck, als eben der junge Tag aus dem Meere heraufgestiegen kam. Es war ein klarer, wolkenloser, glorreich schöner, aber auch ein recht stürmischer Tag mit einem steifen Nordost, der die Gischt der Brandung über das ganze Verdeck hinjagte. Vor dem Ruder stand ein stämmiger Mann mit einem Gesicht wie ein Hamburger Hafenlöwe, offenbar Hein Jürgens, der Schlosser. Wie er es machte, daß er aufrecht stehen konnte auf dem schiefen Verdeck, wußte ich nicht. Jedenfalls fand er dabei noch Zeit und Muße, sich eine Pfeife zu stopfen. Nicht im geringsten schien er erstaunt über meine Anwesenheit. »Da bist du ja!« sagte er gemütlich. »Es wird höchste Zeit. Wir haben schon lange keine Abwechslung mehr gehabt. Der letzte hat's drei Tage lang ausgehalten und das war schon ein Rekord unter fünfundzwanzig.«

Und wie lange denn die anderen dageblieben wären? fragte ich.

»Nun ja,« sagte er, »manche sind einen ganzen Tag geblieben, manche sogar zwei. Die meisten aber hatten schon mit drei oder vier Stunden genug. Denn wenn du hier arbeiten willst, so mußt du Schwimmhäute haben, und das ist nicht jedermanns Sache. Heute wird es überhaupt nichts werden mit der Arbeit, ehe nicht der Nordostwind abgeflaut hat, und das kann vierzehn Tage dauern.«

»Vierzehn Tage?«

»Und manchmal noch viel länger.«

Das war nun allerdings eine Offenbarung, die die Illusionen der vergangenen Nacht erheblich herabsetzte. Ganz so kurz wie ich mir ihn gedacht hatte, war der Weg denn doch nicht zum Kapitän und Reeder. Eine ganze Weile saß ich stumm auf der Luke, an die man sich fest anklammern mußte, um nicht hinunterzurutschen zur Leeward, über der die schäumende Gischt der Brandung brodelte. Ich schaute auf die Sturzseen, die polternd über die Back hereinbrachen, ich spürte den feinen Wasserstaub, der scharf und salzig in alle Poren drang. Je länger ich da saß, je kälter und frostiger wurde mir zumute. – Nein, es hatte wohl keinen Zweck. Ich ging hinunter zur Koje, holte meinen Seesack und verschwand ohne Abschied. Denn erstens war mir dieser Weg zum Reichtum zu lang und zu riskant, und zweitens hatte ich keine Schwimmhäute. –

Am hellen Nachmittag kam ich wieder in Callao an. Denselben Weg, den wir kurz zuvor gekommen waren, war ich wieder zurückgegangen, durch die stacheligen Baumwollfelder, durch die hohen Dünen mit ihren grausigen Reliquien, die jetzt am hellen Tage nicht mehr halb so unheimlich aussahen wie zuvor im Mondlicht, aber der Weg schien noch einmal so lang und der lose Sand noch einmal so tief in der Glut des heißen Tages. Endlich war ich wieder in der Stadt und wäre doch lieber wo anders gewesen. Es war keine schöne Gegend, durch die ich kam. Die Häuser waren schmutzig und die Leute nicht weniger. Schlampige Frauenspersonen standen frech an den Straßenecken. Betrunkene Matrosen schwankten schwer über die Gasse. Wo Matrosen verkehren, da ist es immer lebendig, denn immer ist irgendeine Schiffsmannschaft eben abbezahlt oder angemustert und immer muß irgendwo und irgendwie ein Theater aufgeführt werden, um sie zu angeln. Und immer ist da auch das Heer der Schmarotzer, das sich an ihre Rockschöße hängt, doch ganz so schlimm, wie der Laie es sich vorstellt, ist es nicht mit dem ach so dummen und gutmütigen, ewig ausgebeuteten Seemann.

Nicht einen Schritt mehr wollte ich weitergehen. Ich ging in die erste beste oder schlechteste Wirtschaft und setzte mich in die hinterste und dunkelste Ecke und schaute auf das wilde Leben, das die schrille Stimme eines Phonographen übertönte, ohne etwas anderes zu sehen als ein verworrenes Chaos, das vor meinen Augen flimmerte wie eine Fieberphantasie. Und das war kein Wunder, denn seit meiner Landung auf peruanischem Boden hatte ich kaum mehr geschlafen, und seither hatte ich doch schon allerlei erlebt. Und hungrig war ich auch. Ich fing an zu rechnen. Zu einem ordentlichen Nachtessen reichte es noch und für alles weitere würde wohl der gute, brave, stets hilfsbereite Schutzgeist der Vagabunden sorgen.

Es war schon lange nach Mitternacht, als der Wirt die Stühle auf den Tisch stellte und ich mich hinausschlich in die frostige Nacht.

Ach, das Leben ist immer nur ein Rechenexempel! Lange hatte ich es mir überlegt. Sollte ich die Nacht in einem Bett verbringen und morgens keinen Kaffee trinken? Oder sollte ich es nicht lieber umgekehrt machen? Ich entschied mich für letzteres. Ein knurrender Magen ist ein aufdringlicher Begleiter, aber für die müden Glieder findet sich immer noch ein Plätzchen in solch südlichem Lande, wo ohnehin jedermann die Gasse als eine Verlängerung seines Schlafzimmers ansieht.

Im spärlichen Licht der Laternen fand ich bald einen leeren Packwagen, der einladend auf den Schienen stand. Ich stieg hinein und schlief wie ein Sack bis zum dämmernden Morgen.

Mit steifen Gliedern machte ich mich auf den Weg nach einer Kaffeestube, deren hell erleuchtete Fenster durch das neblige Halbdunkel schimmerten. Gerade noch fünfzig Centavos hatte ich in der Tasche. Manch einer hat sich schon nach einem Strick umgesehen mit doppelt so viel. Aber das war sicher kein gelernter Wandersmann.

In dem kleinen Lokale, wo eilige Hafenarbeiter beim letzten Lichte der elektrischen Lampen ihren Imbiß einnahmen, gab ich, wie gesagt, meinen letzten Centavo aus für Kaffee und Kuchen und war nun wirklich neugierig, was weiter werden sollte. Ich klagte mein Leid einem neben mir sitzenden jungen französischen Matrosen, der, wie er mir gleich mitteilte, François mit Vornamen hieß. Seinen Familiennamen habe ich nie erfahren und bezweifle auch, ob er gleich den richtigen gefunden hätte, wenn man ihn danach fragte.

»Et toi un Al–sa–cien!« rief er aus in seinem sonderbaren Gemisch von Französisch und Spanisch. »Und dann kannst du hier keine Stelle finden?«

»Wie sollte ich denn?« sagte ich trostlos.

»Ich werde dir gleich den Weg dazu zeigen.«

Wir gingen nach dem Hafen, bis zum großen Gebäude der Verwaltung, von dessen Dach eine mächtige Trikolore wehte.

»Voilà!« sagte François, »da sind wir. Gehe hinauf und frag' nach Monsieur Boursot.«

Einen Augenblick blieb ich stehen. Ich schaute hinauf zu dem blau-weiß-roten Tuche, das herausfordernd im Winde wehte. Ich dachte daran, daß ich es vor noch nicht allzu langer Zeit auf einer Rheinbrücke flattern sah, und es wurde mir unbehaglich zumute. Ich wandte mich zum Gehen, aber François faßte mich bei den Rockschößen.

»Ho là, là!« rief er entrüstet. »Bist du aber grün! Warte, ich gehe mit, wenn du willst, und mich haben sie doch schon mehr wie dreimal hinausgeworfen.«

»Wenn ich aber doch kein Franzose bin –«

»Als ob's darauf ankäme! Franzos, Deutscher, Engländer, Chinese, Cholo – qu'est ce qu´ça m'fiche! – Franzos! nom d'un chien. Wir sind hier alle eine einzige Nation vom leeren Geldbeutel und vom hungrigen Magen, und alle anderen sind unsere Feinde. Oder meinst du, daß deine Landsleute dir etwas geben? Dir nicht, wenn du keinen vollen Geldbeutel hast!«

Das Argument war einleuchtend. Noch einen Augenblick blieb ich stehen, mit den Händen tief in den leeren Taschen. Dann ging ich schnell die Treppe hinauf.

In dem großen, sehr anspruchsvoll aufgemachten Privatkontor, wo das Bild des père de la victoire (Clemenceau) neben dem der Jungfrau von Orleans von den Wänden herabschaute, saßen drei Herren am grünen Tisch. Der eine – ein dicker Mann mit braunem Vollbart – war ein Belgier. Man konnte ihm den Antiboche schon von den Augen ablesen. Der andere war ein kleiner, quecksilberiger Südfranzose, und schließlich saß da noch ein großer, stattlicher Herr mit dem roten Band der Ehrenlegion im Knopfloch. Man brauchte nicht erst zu fragen, um zu wissen, daß er Monsieur le directeur général und französischer Konsul war.

»Eh bien,« sagte er mit einem ungeduldigen Blick auf die große Wanduhr. Ich gab meinem Herzen einen Stoß und fing an, ihm den Fall auseinanderzusetzen.

»Parfaitement,« meinte der Belgier, aber Monsieur mit der Ehrenlegion war nicht so schnell zufriedengestellt. Ganz unangenehm wurde er mit seinen Fragen über Stand und Herkommen und über meine wirkliche und vermeintliche Tätigkeit vor, während und nach dem Kriege. Endlich schien er zu einem Entschluß gekommen zu sein. Fragend schaute er die beiden anderen an, und da sie beide zustimmend nickten, war die Sache bald perfekt. So kam ich zu einer Stelle als employé der Großen Nation. Es war nicht gerade eine ruhmreiche Geschichte, aber wer noch nie hungrig und arbeitslos in fremden Straßen gelegen, der sitze darüber zu Gericht. –

Die Stelle, die ich mir auf solche Weise erschlichen hatte, war recht angenehm. Die Arbeit bestand im wesentlichen im Spazierengehen. Freilich war das Honorar auch dementsprechend. Mit meinen vier Soles pro Tag konnte ich mich gerade über Wasser halten, bis eines Tages meine Aussichten sprunghaft zu steigen begannen wie eine Valutaaktie bei uns zu Hause. Unvermutet wurde ich zum Portier ernannt über das Tor eines großen Hofes im Arsenal, wo ein Neubau aufgeführt wurde. Von allen den vielen Berufen, die ich je ausgeübt habe, ist der eines Portiers derjenige, für den ich mich am wenigsten eignete. Denn erstens, zweitens, und überhaupt – Pünktlichkeit war meine starke Seite nie, und auch sonst fehlen mir – wie ich auch heute noch glaube – verschiedene grundlegende Eigenschaften zum Ritter ohne Furcht und Tadel vor einem Hoftor. Zudem war das Tor eine Illusion. Denn die Mauer war voller Löcher, durch die es aus- und einging wie in einem Taubenschlag. Wenn man einen hinausjagte, kamen drei andere zu einem anderen Loch wieder herein. Schließlich gab ich es auf in Verzweiflung und zog mich grollend zurück in den Schatten meiner Amtsstube. Schwer litt ich unter meiner Machtlosigkeit. Ich kann es nunmehr begreifen, warum Portiers fast immer Menschenfeinde sind. Ich selbst war auf dem besten Wege dazu. Stundenlang konnte ich auf demselben Flecke sitzen und in den hellen Hof hineinstarren. Nicht weit von meiner Hütte stand ein stattlicher Baum mit kleinen, birnenartigen Früchten, die man dort Guayavas nennt. Diese hatten die Aufmerksamkeit der ganzen Nachbarschaft auf sich gezogen. Alle Augenblicke erschien in irgendeiner Mauerlücke ein dunkles Chologesicht und verdrehte die großen, lackglänzenden Augen, derweilen der Mund vor Lüsternheit wässerte.

»Mistah!«

Ich warf ihn hinaus. Schon kam ein anderer.

»Mistah! All right.«

Dieser kam mit einem Zehncentavosstück. Da wußte ich Bescheid. Einmal wenigstens zeigte ich mich auf der Höhe der Situation. Das Leben, das eben noch so fade und zwecklos erschienen war, hatte auf einmal wieder Inhalt bekommen. Ich stieg auf den Baum und schüttelte einen ganzen Vorrat, den ich neben meiner Behausung aufstapelte und noch am selben Abend schlank verkaufte an die Arbeiter, die nach Feierabend durch das Tor kamen. An jenem Abend und an noch verschiedenen anderen, die meine Taschen überquellen ließen mit Centavosstücken. Nur wenig litt ich unter Gewissensbissen über diesen Mißbrauch meiner Amtsgewalt, und das Wenige, was übriggeblieben war, zerstreute François, der nur bedauerte, daß er nicht dabei sein konnte.

»Das da,« sagte er, »das werden sie alles aufs Reparationskonto schreiben.«

Mehr als fünf oder zehn Centavos pro Mann waren jedoch aus keinem herauszubekommen. Denn woher nehmen und nicht stehlen? In diesem an Naturschätzen so reichen Lande Peru herrscht die Armut wie in kaum einem anderen Lande. Kein unterwürfigeres, bedürfnisloseres Geschöpf kann man sich denken, als den dortigen Mann aus dem Volke, den Cholo, eine seltsame Mischung von weißem, Neger- und Indianerblut, mit einer ganz kleinen Beimischung aus dem himmlischen Reiche. Gewiß, der Arbeitsmann des benachbarten Chile ist auch kein Millionär. Zumeist nennt er kein ganzes Hemd sein eigen, und wenn er es besäße, so würde er es so schnell wie möglich in vino tinto umsetzen. Aber er ist trotz allem stolz und unbändig, von wildem Freiheitsdrang und heißer Vaterlandsliebe, ein stets auf Erlebnisse bedachter Abenteurer, der einem aus einer Tasche den Geldbeutel stiehlt und ihn wieder in die andere hineinsteckt, aus purer Lust am Schenken. Und vor allem: er ist über die Maßen selbstbewußt und stolz auf seine Klasse.

»Soy roto chileño!«

Wie anders der Cholo! Eine müde Resignation liegt über ihm und seinem Lande. Ein Zug von Pessimismus und Unterwürfigkeit, deren Ursprung zurückführen mag in die Jahrhunderte, da die Inkas als Herren über Leben und Tod jedes Einzelnen geboten. Dieses Volk hat nie die Freiheit gekannt; nicht unter den Inkas, nicht unter Pizarro und am allerwenigsten in der heutigen Republik, wo sich eine dünne Oberschicht von reichen Familien der Staatsmaschine bemächtigt hat. Denn die hohen Staatsgeschäfte werden dort seit über hundert Jahren en famille ausgeübt. Von einigen Notabeln. In diesem in der Theorie und nach dem Wortlaut der Verfassung so überaus demokratischen Lande ist der Begriff der menschlichen Gesellschaft sehr eng gezogen. Es gibt nur eine »Gesellschaft«, die mit ihren Wünschen und Ansprüchen für die Öffentlichkeit allein vorhanden ist und über deren Tun und Lassen alle Zeitungen in langen Spalten endlos berichten in blumenreichster Sprache. Man lese zum Beispiel nur diese Mitteilung aus der in Lima erscheinenden Zeitung »La Prensa«:

»Vermählung. – Die tugendhafte und engelgleiche Señorita Fulano hat sich heute für immer mit dem perfekten Gentleman Sutano vereinigt. In Anbetracht der hohen Qualitäten eines so sympathischen Paares kann es nicht ausbleiben, daß über ihrem Herde alle Tage der Stern des Glückes strahle, umweht von dem christlichen Hauche einer reinen und jungfräulichen Liebe im Herzen der geistreichen Frau. Daß diese Sonne des Glückes immer scheinen möge aus dem blauen Himmel über ihr, ist der heißeste Wunsch derer, die sich voll Freuden und Entzücken unterzeichnen als ihre Freunde.«

In jedem anderen, nicht südamerikanischen Lande hätte das Papier revoltiert gegen solchen Schwulst. Nicht so in Peru. So etwas steht so und ähnlich seitenlang in der Zeitung an jedem neuen Tage. Und was das sonderbarste ist: es wird auch gelesen! Freilich nicht von dem Cholo, denn das Lesen und Schreiben ist dessen starke Seite nicht.

Doch das sind alles Betrachtungen, die mich weit abführen von dem Gange meiner kleinen Erlebnisse. –

Nach einigen Wochen nahm meine Beamtentätigkeit ein plötzliches und wenig erfreuliches Ende, und schuld daran war wieder einmal die hohe Politik. Das große »Centennario«, die Jahrhundertfeier der Peruanischen Republik, war in nächste Nähe gerückt, und schon zeigten sich auf der Reede die Kriegsschiffe der fremden Nationen, die von den Enden der Erde gekommen waren, um ihre Aufwartung zu machen. Einer nach dem anderen kamen die grauen Kolosse und ankerten im Hafen. Landfeine Matrosen aus fremden Ländern begannen über die Straßen zu steigen, und den Gastwirten, Heuerbasen und sonstigen Hafenratten lief das Wasser im Munde zusammen, wenn sie den Rebbach errechneten, der hier zu machen war. In allen Arten war hier die Beute vertreten. Englische Tommies mit unwahrscheinlich weiten Hosen, amerikanische Marinesoldaten mit weißen Tellermützen, die ihnen in etwas das Aussehen von Zuckerbäckern verliehen. Am populärsten jedoch waren die Matrosen des französischen Kreuzers »Jules Michelet« mit ihren weißen Mützen und roten Quasten. Denn ein bißchen Französisch, das macht sich so schön, auch in Peru. Wer aber beschreibt mein Erstaunen, als ich eines Abends – es war wohl schon mehr gegen Mitternacht – eine Schar dieser bemühten und bequasteten Jünglinge Arm in Arm über die Straße schwanken sah, während die stillen Häuser von dem schönen Liede widerhallten:

»Siegreich wollen wir –
Ich derfs nit sagen!«

Der Fall war interessant genug für eine nähere Untersuchung. Ich ging auf sie zu und erkundigte mich nach dem Woher und Wohin und nach dem Zusammenhang dieser doch recht seltsamen Dinge. In etwas war mir ja die Erkenntnis schon aufgedämmert.

»Sin ihr ebbe von Milhüse,« fragte ich in meinem schönsten Elsässer Deutsch. Nein, von Mülhausen kamen sie nicht, aber von Buchsweiler, von Sennheim und von Wattweiler. Und sehr erfreut waren sie, einen Landsmann zu treffen in so fernem Lande. Obwohl sie bereits des Guten zuviel getan hatten, gingen wir dennoch in eine benachbarte Kneipe, wo sie nicht müde wurden, von ihren Abenteuern an Bord des »Jules Michelet« zu erzählen, wohin man sie gebracht hatte, um aller Welt kund zu tun, welch gute und waschechte Franzosen doch die Elsässer waren, und wie schön sie Französisch sprächen. Aber das Leben an Bord des »Jules Michelet« war anscheinend doch nicht ganz so herrlich gewesen, trotz der schönen weißen Mütze mit der roten Quaste. Im Elsaß – so sagten sie – sei das Leben jetzt nur noch eine halbe Freude, aber auf dem »Jules Michelet« sei es die Hölle. Eine Hölle mit dem contre maître als Teufel und mit harten, wassergekochten Bohnen, die man täglich dreimal zu essen bekomme. Am Weihnachtsabend wollten sie ihnen nicht einmal ein Bäumchen gönnen, weil das eine Bochesitte wäre. Darauf wollten sie Weihnachtslieder singen.

»Silence! pas d'chansons Boches!«

Da stimmten sie aus Trotz »Heil dir im Siegerkranz« an, ein Unterfangen, das wider Erwarten glücklich ablief, da der contre maître das Lied für die englische Nationalhymne hielt und der erste Offizier sie zum Lohne dafür mit einer Flasche Schnaps beschenkte.

Während wir noch dasaßen und von alten Zeiten plauderten, kamen noch weitere elsässische Matrosen herein und setzten sich zu uns. Es war in einer deutschen Wirtschaft, in der hauptsächlich Deutsche verkehrten. Einer von diesen, der eben von den Bergwerken heruntergekommen war und deshalb das Geld lose sitzen hatte, hielt das ganze Haus frei. So wurde die Stimmung immer angeregter und die Lieder immer lauter. Sie fingen an mit dem »Brunnen vor dem Tore«; dann kamen Soldatenlieder an die Reihe.

»Drum Mädchen weine nicht,
Sei auch nicht traurig,
Grad weil ein Infanterist
Ins Feld muß ziehn. –«

Auf einmal, als die Orgie auf ihrem Höhepunkt angelangt war, sprang einer von den »Franzosen« auf den Tisch, schüttelte das lange Haar aus dem weingeröteten Gesicht und schwenkte die weiße Mütze:

»Jetzt hän mir alles gsunge. Jetzt singe mer au noch Deutschland über alles.«

Und so taten sie. Stehend sangen sie mit großer Andacht das Lied zu Ende, und die umherstehenden Peruaner standen auch auf und summten mit, weil sie in ihrer franzosenfreundlichen Einfalt sich einbildeten, es sei die Marseillaise.

So war es alles in allem ein recht erhebender Abend. Welches unangenehme Nachspiel er gehabt haben mochte für die sangeslustigen Matrosen weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er üble Folgen hatte für einen anderen derzeitigen Mußfranzosen mit Namen Kurt Faber.

Am anderen Tage begab es sich nämlich, daß ich gedankenlos durch die Hauptstraße von Lima schlenderte, gerade dort, wo ein gewisser Monsieur Boursot – eben jener kleine Südfranzose vom grünen Tisch im Bureau der Hafenverwaltung – einen Kramladen mit allerlei Spielwaren und kleineren Haushaltungsgegenständen betrieb. Es war ein bekanntes, fashionables Geschäft und hieß »La petite ménagerie« – die kleine Menagerie –. Ich war eben vorübergegangen, als der junge Mann des Geschäfts atemlos hinter mir hergelaufen kam.

»Monsieur Faber! Monsieur Fabe–e–er!«

– – ?

»Monsieur Boursot wünscht Sie zu sprechen!«

Monsieur Boursot? Was konnte der von mir wollen? Zögernd und mit einem bösen Gewissen folgte ich ihm in den Laden, wo Monsieur mich schon an der Schwelle empfing.

»Est ce que vous êtes Français ou Boche?«

»Monsieur Boursot –«

»Nichts da! Keine Ausflüchte! Français ou Boche?«

»Wenn Sie mich einmal zu Wort kommen ließen –«

»Ah, nom d´un chien! Sie haben lange genug geredet. Ich weiß genug. – Espèce d´un imposteur! Ich habe es aus Ihrem eigenen Munde. Sie sind ein Boche!«

»Monsieur Boursot –«

»Nix, Monsieur Boursot! Wagen Sie es, mich anzureden, mich einen Franzosen! Sie sind ein Boche, Boche, Boche! – Tonnerre de Dieu! Sie sind ein su – per – boche!«

»Und Sie Monsieur Boursot –«

»Kein Wort weiter! Hinaus aus meinem Laden! Boche!«

»Langsam, Monsieur Boursot! Ich gehe auch so schon. Aber ich wollte es mal doch sagen: Vous êtes le plus gros chameau de la petite ménagerie.«

Unnütz zu sagen, daß es am anderen Tage zu Ende war mit meiner Stellung als employé der Hafenverwaltung. Mir war das nicht unlieb, denn meine Haupteinnahmequelle, der Guayavabaum, war inzwischen restlos geplündert, und was übrig geblieben war von meinem fortlaufenden Gehalt verlockte nicht zu einer Lebensstellung, auch bei bescheidenen Ansprüchen.

Der Kassierer händigte mir meinen noch fälligen Wochenlohn aus und versäumte nicht, ihn mit einigen nicht eben wohlwollenden französischen Segenssprüchen zu begleiten. Aber ich trug nicht schwer unter der Schande. Ich ging nach dem Hafen und betrachtete die große Schar der arbeitslosen Kavaliere, die da mehr malerisch als vertrauenerweckend auf der Mole saßen, und sah das glitzernde Wasser im hellen Sonnenschein und die unternehmenden Schiffe, die qualmend vorüberzogen, und die Möwen, die mit ihnen flogen, und träumte einmal wieder den alten Traum von großen Reisen und von fernen Meeren und war mit mir und aller Welt vollauf zufrieden. Aller Anfang ist schwer.

Der Anfang in Peru war gemacht!

 


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