Kurt Faber
Tage und Nächte in Urwald und Sierra
Kurt Faber

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Von Puppen, Bären und Kirchtürmen

Was nun? – Ein Kapitel über gelernte und ungelernte Leute. – Seltsames Nachtquartier. – Barfuß-Jim erzählt eine Geschichte. – Ein großes Geschäft. – Ich male den Kirchturm. – Seine Eminenz, der Bischof ist mit mir nicht zufrieden. – Ungeahnte Möglichkeiten. – Ich versuche mich als Wahrer Jakob. – Von Puppen und Teddybären. – Armer Pepito!

Der Anfang in Peru war gemacht, und das war immerhin ein Trost in diesen traurigen Zeiten, wo die Tage tatenlos vergingen und Hunger und Not und die Angst vor dem Morgen mir allenthalben entgegenkam aus allen grauen Gassen. Da war freilich kein Tag, der mir nicht eine schöne Stelle vorgegaukelt hatte, aber wenn man zufassen wollte, da war sie zerronnen in nichts, und oh! nun soll ich wohl noch einmal die Geschichte wiederholen, die ich so oft schon erlebt und erzählt habe in aller Herren Ländern? Die trübe, traurige Geschichte von langen Wanderungen und bösen Enttäuschungen, von kleinen Menschen, die sich zappelnd wehren am Wegrande, während kalt und gleichgültig der große Wagen der Weltgeschichte über sie hinweggeht. Ach, es ist eine gar so alltägliche Geschichte für den, der sie liest oder hört, aber sie ist Leben und Tod, und immer nur allzu neu und interessant für den, der sie erleben muß an jedem neuen Tage.

Das Geld war fort, fast bis auf den letzten Centavo, und auf Tausende Kilometer im Umkreis war niemand, der mir auch nur einen Pfennig Kredit eingeräumt hätte.

»Bliebe noch der Konsul,« höre ich sagen.

Gewiß: aber wie sagten schon die Römer?

»Videant consules!«

So ein Herr ist gepanzert mit Mißtrauen und vorsichtig in seiner Hilfe. Und das aus guten Gründen, denn wenn er alle lieben Landsleute unterstützen wollte, so würde sich das schnell herumsprechen in ganz Südamerika. Es gäbe eine Wallfahrt zu seiner Tür, und bald müßte er selbst die Unterstützung eines Konsuls in Anspruch nehmen, um sich vor dem Armenhaus zu sichern. Und doch –

Wenn ein Engel käme und würde mich an eine maßgebende Stelle in Deutschland setzen, so würde ich zuerst das Konsulatswesen an Haupt und Gliedern reformieren, so würde ich Maßregeln ergreifen, um die reißende Flut des Blutes zu dämmen, das heute wie einst vor unseren Augen ins Ausland fließt.

Das Wandern ist ja heute eine Modesache im deutschen Vaterland. Auf allen Wegen sieht man Wandervögel, Zupfgeigen und was immer dazu gehört. Es klingt und singt an allen Enden. Man errichtet Herbergen und Arbeitsstätten, und es ist gut, daß man es tut. Wer aber kümmert sich um den wahren Wandersmann, dem kein Land zu weit, kein Meer zu groß ist, immer unterwegs und nimmer zufrieden. Ist er nicht auch ein Deutscher? Und ist nicht gerade er ein besonders typischer Vertreter des ewig unruhigen, ewig unzufriedenen Geistes unseres Volkes? Ein direkter Nachkomme jener besonderen Abart des deutschen Michels, des abenteuerlichen Simplizius Simplizissimus, der tatendurstig durch die Länder zog, aus purer Lust am Abenteuer, aus Lust am Erleben. Und findet man ihn nicht auf allen Wegen und Umwegen in aller Herren Ländern; oftmals schmutzig, oftmals zerlumpt und abgerissen, aber immer tatendurstig, in mehr als einer Hinsicht ein Sinnbild des faustischen Menschen: »Im Weiterschreiten find' er Qual und Glück, er unbefriedigt jeden Augenblick.« –

Ah, wenn andere Völker solches Aktivum hätten! Wie würden sie es einsetzen als einen Faktor in ihrer Rechnung! Wie würden sie es zusammenfassen zu einem Stoßtrupp ihrer Macht und Größe. Wir aber lassen diese überschäumende Volkskraft verkommen auf amerikanischen Landstraßen, verhungern in fremden Städten, verderben in ausländischen Tretmühlen, sterben im Wüstensand in feindlichen Fremdenlegionen, und manche unserer lieben Landsleute im Ausland liefern ihn der fremden Polizei ans Messer und tun sich noch etwas darauf zugute.

Wahrlich, es ist niemand so verlassen, wie der deutsche Wandersmann in der Fremde! Aber so war es immer gewesen, solange es Deutsche im Ausland gegeben hat. – Was aber geschieht heute mit den zwanzig Millionen: Mit den zwanzig Millionen, die wirklich zu viel sind im deutschen Vaterland? Mit den armen Abgebauten, den früheren Studenten, Offizieren, die man heute auf allen Landstraßen in Südamerika findet? Leute, an die der Staat ein Vermögen von Erziehungsgeldern auf Universitäten und sonstigen hohen Schulen gehängt hat, und die zu sammeln und zu erhalten die erste Pflicht sein müßte aller derer, die es angeht, wenn anders nicht die Erfahrungen mit den Achtundvierzigern sich wiederholen sollten.

Statt dessen –

Ich muß zur Illustration dieses »Statt dessens« etwas aus eigener Erfahrung berichten: Das war in einer großen amerikanischen Stadt. Natürlich waren die Zeiten schlecht. Natürlich hatte ich kein Geld und drohend erhob sich die Frage: Was nun? Gab es irgendwo Häuser oder Zäune anzustreichen? Suchte jemand einen Matrosen, einen Hafenarbeiter, einen Hausierer? War irgendwo ein Jahrmarktsrummel, auf dem es etwas zu verdienen gab? Wie war das alles so erbärmlich! Ich besann mich darauf, daß ich doch auch noch etwas anderes gelernt hatte und daß vielleicht auch einmal in dieser Richtung eine rettende Planke zu finden wäre. Das war natürlich eine recht seltsame Idee. Aber man hat zuweilen solche schwachen Stunden.

Eine halbe Stunde später stand ich vor dem hohen Konsul. Er schaute mich von oben bis unten an und sagte mir, er wolle sehen, was er für mich tun könne. Er selbst habe ein großes Unternehmen und Landgut und könne mir eine Stelle verschaffen, wenn ich etwas gelernt hätte. Was ich denn wäre, von Beruf?

»Doktor der Staatswissenschaften.«

»Hm. So. Sonst nichts –«

»Nein.«

»Können Sie Spanisch?«

»Ja. Und Englisch, Französisch . . .«

»So –«

Eine Weile schaute er sinnend auf die Lehne seines Klubsessels. Dann stand er auf, ging einige Schritte auf und ab, blieb wieder vor mir stehen und schaute mich an mit einer Miene des allertiefsten Mitleids.

»Das ist schwierig. Was fängt man mit Ihnen an? Haben Sie denn gar – nichts – gelernt?«

Nichts gelernt! Das ist das böse Wort, über das drüben jeder mit einer höheren Schulbildung versehene Anfänger stolpert. Ein tüchtiger, ein gelernter Mann ist zum Beispiel einer, der drei Jahre bei Schulzens im Kontor war und hochachtungsvolle Mahnbriefe zu schreiben versteht, ein Mann, der zum Beispiel ordentlich die Fässer übereinanderstellen kann in einer Bierbrauerei. Bist du ein gelernter Barbier, ein Zimmermann, so bist du ein tüchtiger Mann; bist du aber ein Kaufmann, so bist du ein Laufmann, warst du Student, Assessor, so bist du ein Nichts, warst du ein Offizier, so bist du ein Tagedieb. Man wirft dir ein Almosen hin, wenn du hungrig bist – vielleicht, aber das, um dessentwillen du die weite Reise unternommen hast, Arbeit, tüchtige, anständige Arbeit gibt man dir nicht. Man duckt und kuscht dich, wo man kann, und findet eine Art Sport in solchem Tun. – Ja, und wenn dann so ein armes Menschenkind zuletzt zerrieben wird von der harten, ungewohnten Arbeit, wenn seine Kleider verdreckt und verlaust sind, ohne die Möglichkeit der Anschaffung von Ersatz, und das und tausend andere an sich lächerliche Kleinigkeiten ihn hinabziehen in den Sumpf und ewig dort festhalten, dann gibt es gewisse »deutsche« Kreise, die sich in den Sesseln räkeln im Klub von Buenos Aires, die sich nicht genug tun können an moralischer Entrüstung über die »schlechte Qualität der derzeitigen Einwanderer«. Und es sind genug in der alten Heimat, die das kritiklos nachbeten. – – –

Doch was wollte ich eben noch erzählen? Dieser Ausflug ins allgemeine Gebiet der sozialen Frage und der Auswandererfürsorge hat mich unversehens weit entführt von der Erzählung meiner eigenen kleinen Erlebnisse, und so muß ich wohl oder übel wieder zurückkehren zu dem Zeitpunkte, wo ich mich verlassen habe, selbst so ein armer, unruhiger, ausgeplünderter Vertreter der zwanzig Millionen, die wir zuviel haben in Deutschland. Mißmutig ging ich noch einmal über die weite Plaza, auf der ich längst schon jeden Stein vom anderen kannte, und jedes Blättchen der Palmen, die da kümmerlich vegetierten in der heißen Sonne.

Natürlich war es eine Plaza Grau! Wie konnte es anders sein in Peru? Es ist eine eigenartige Erscheinung, daß die sonst so phantasiebegabten Südamerikaner so wenig von dieser Eigenschaft verraten in der Benennung der Straßen und Plätze ihrer Städte. In Argentinien gruppiert sich jedes kleinste Pueblo unweigerlich um die Plaza San Martin, in Brasilien besorgt das die Praça Ypirenga, in Chile und Peru gibt es keinen noch so unbedeutenden Ort ohne das Denkmal eines Seehelden in allen erdenklichen Positionen. Nur mit dem Unterschied, daß er hier den Admiral Grau und dort den Kapitän Prat darstellt. Was hat es nun auf sich mit Prat und Grau? Grau war der Mann, der mit seinem Panzerschiffe den chilenischen Kreuzer Esmeralda versenkte, dessen Kommandant, der Kapitän Prat, mit Ehren unterging bei wehenden Flaggen. So kamen beide – Sieger und Besiegter – zu ihrem Denkmale und zu ihrer Plaza.

Wie dem auch sei: abgesehen von den Namen gleichen sich die Plazas wie die Hammel in der Herde. Aber die Plaza Grau hat doch noch eine besondere Note. Wohl nirgendwo auf dieser Erde – selbst nicht in Liverpool und Buenos Aires – gibt es eine Stadt, die so viele gestrandete Seeleute beherbergt, wie Callao. Sie ist geradezu die Hauptstadt, das Emporium der Strandläufer. Es ist schwer zu sagen, was diesen Platz besonders anziehend macht für diese besondere Abart des Lumpazivagabundus. Ist es der blaue Himmel unter der strahlenden Tropensonne? Ist es das Fehlen aller ernsthaften Niederschläge, die einen unter anderen Himmelsstrichen nächtlicherweile überraschen könnten wie der Teufel beim Gebet, wenn man eine »Platte reißt« in einer Tür-Nische oder in einem Beiboot am Strande? Oder ist es nur deshalb, weil die Milde der Natur abgefärbt hat auf die Polizei in diesem freien Lande, wo alles erlaubt ist, was gefällt und der Begriff des Polizeiwidrigen so dehnbar ist wie das Gewissen eines intendente auf der municipalidad? Wer kann es wissen? Jedenfalls sind sie in ganzen Heerscharen vertreten und geben der Plaza Relief und Charakter. Sie sitzen auf den Bänken und strecken ihre Glieder in der warmen Sonne, sie liegen über den Kaimauern und schauen nach den Schiffen, die von San Lorenzo herüberkommen, sie lungern in den Wirtschaften, sie folgen als echte Landhaie dem Kielwasser der abgemusterten Matrosen, denen sie ein Streichholz, eine Pfeife Tabak und dann ein Glas Pisco abbetteln, und da ist kein Tag im Jahre, der sie nicht drei Strich im Winde unter Alkohol sieht.

Manche von diesen haben geradezu einen Weltruf erlangt unter den Matrosen der südamerikanischen Westküste, zumal der König der Strandläufer – den sie barfooted Jimmy nannten. Barfuß-Jim, der schon seit Menschengedenken auf der obersten Treppe, unter dem Portal der Kathedrale, zu nächtigen pflegte. Schon in Buenos Aires und Valparaiso hatte ich von ihm gehört, und ihn mir eigentlich ganz so vorgestellt, wie ich ihn jetzt vor mir sah: ein kleiner, buckliger, mehr malerisch als vertrauenerweckend aussehender Bursche mit einem großen, grauen, verfilzten Bart und hornhäutigen Barfüßen, und alles in allem eine der vollkommensten menschlichen Ruinen, die mir je begegnet sind. Er sprach mit einer dünnen, piepsigen, bemitleidenswert schwachen Stimme, aber in sehr gewählten Sätzen, denn – noblesse oblige – Barfuß-Jim hatte schon bessere Zeiten erlebt. Er war Schiffskapitän gewesen, ehe er sein Patent verloren hatte.

Wie das kam?

Wie kommt so etwas im Leben!

Es ist indes kein Mensch so miserabel, so ganz hilflos und verlassen, als daß er nicht auch einmal einem Mitmenschen behilflich sein könnte. Und Barfuß-Jim kam gerade im rechten Augenblick wie ein rettender Engel an dem Tage, von dem ich hier erzähle. Es war spät in der Nacht, und ein kalter, klebriger Nebel lag dick auf der Plaza. Ich setzte mich auf eine Bank und fror wie ein Schneider. Da kam aus Nacht und Nebel eine murmelnde Gestalt, die vor mir stehenblieb. Es war niemand anders als Barfuß-Jim.

»Hallo sonny,« sagte er gnädig.

»Hallo!«

»Hast du ein Streichholz?«

»Nein.«

»Und ein Nachtquartier auch nicht? Ganz und gar gestrandet, wie ich kalkuliere?«

»Jawohl.«

»Dann komm mit!«

Wir gingen zusammen durch den dicken Nebel hinunter zum Strand, wo wir in der ägyptischen Finsternis alle Augenblicke über Fischergeräte stolperten und uns in ausgespannte Netze verstrickten. Die überall umherliegenden zerbrochenen Flaschen waren ein Attentat auf die Stiefel. Wie es Jimmy machte, daß er seine Barfüße heil hindurch balancierte, weiß ich nicht. Jedenfalls kannte er den Liegeplatz jeder einzelnen. Zeit genug zu solchem Studium hatte er ja gehabt in den zwanzig oder dreißig Jahren, die er hier schon am Strande lag. Wir gingen in einer Vertiefung längs einem stinkenden Abzugskanal, in dem die Speisereste von einigen Generationen verfaulten. Schließlich standen wir vor einer Tür, die Jimmy ohne Umstände aufstieß. Dann ging er geradeaus weiter wie einer, der sich auskennt in der Umgegend. Es war hier noch dunkler als draußen in der trüben, nebelverhangenen Nacht. Dennoch brauchte man kein Sherlock Holmes zu sein, um zu merken, daß man in einer Küche war, denn es roch recht aufdringlich nach abgestandenen Speisen und schlampigen Chinesenköchen.

Wieder standen wir vor einer Tür, die Jimmy aufstieß mit der gleichen Kühnheit wie die vorhergehende, und schon waren wir in einem weiten Raum mit grünen Tischen und Klubsesseln, die kaum zu erkennen waren im matten Lichte einer abgeblendeten Lampe.

»Das ist der Klub,« sagte Jimmy. »Es ist heute keine Sitzung, Da habe ich mich hier eingeladen. Seit zwanzig Jahren bin ich schon Ehrenmitglied sozusagen.«

Ohne weitere Umstände rückte er je einen Klubsessel zurecht für uns beide und fing an, mich zu unterhalten auf seine Weise.

»Ja,« sagte er, »das ist gerade so eine Nacht wie damals, als ich erster Offizier war an Bord der ›Oroma‹ und ein Argument hatte mit Mister Vanderbilt. – Mister William K. Vanderbilt! Habe ich dir das schon einmal erzählt?«

»Nein.«

»Ah, das war eine Geschichte! Ich stehe auf der Brücke und herauf kommt Mister Vanderbilt. ›Jim,‹ sagt er, oder vielmehr Herr Jim, ›wollen Sie mit mir im Salon einen Whisky trinken?‹ – ›Nein,‹ sage ich, ›ich bin im Dienst.‹ – Sagt Mister Vanderbilt: ›Tun Sie mir den Gefallen, Herr Jim, und trinken Sie mit mir.‹ – ›Nein,‹ sag' ich, ›ich bin hier auf der Brücke im Dienst.‹ – Worauf Mister Vanderbilt: ›Bitte, Herr Jim.‹ – Worauf ich –«

So ging es weiter in endlosen Variationen. – »Sag' ich – sagt Mister Vanderbilt.« Den Rest hörte ich nicht mehr, denn ehe er noch viel weiter gekommen war in der interessanten Geschichte, war ich fest eingeschlafen in meinem schönen weichen Klubsessel.

Am anderen Morgen machte ich mich wieder auf den Weg, vor der Sonne. Es war ein trüber Morgen, der ganz zu meiner Stimmung paßte. – –

Doch diese Geschichte würde viel zu lang, wenn ich in dieser Weise weiter erzählen wollte von den großen Mühen und den kleinen Geschäften der nächsten vierzehn Tage. In Peru spielen sie noch mehr Lotterie wie anderswo. Kein Tag vergeht ohne Ziehung, keinen Schritt kann man über die Straße machen, ohne daß es einem in den Ohren gellt: »Hunderttausend Soles – para hoy!« Alle spielen, und es gibt wohl auch manche, die gewinnen. Sicherlich sind es nicht die, die mit den Losen auf den Straßen hausieren und sich die Seele matt und die Kehle heiser schreien, wie Schreiber dieser Zeilen. Es war die traurigste aller Tretmühlen, in denen ich mich je versucht habe, und noch heute, wenn ich daran zurückdenke, scheint es mir das beste, wenn ich das ohne ein weiteres Wort übergehe.

Es war nur ein Glück, daß in jenen Tagen die kommende große Jahrhundertfeier ihre Schatten vorauswarf. Wenn die braven Bürgersleute sich amüsieren, fällt zumeist auch etwas ab für die, die am Rande der bürgerlichen Gesellschaft ihr Leben vom Augenblicke erhaschen. Es wird gezimmert und gemalt, man baut Tribünen, errichtet Fahnenstangen, die Häuser bekommen einen festlichen Anstrich, die Löhne steigen, und auf einmal sind sie alle da, die phantastischen, aufs Nichts gestellten Vertreter des großen Heeres der Heimatlosen, das Kipling besungen:

»The ends of the earth are our portion
The ocean at large is our share,
There was never a skirmish to windward,
But the beaderless legion was there!
«

Es tat sich was in Lima und Callao, und die Aussichten stiegen sprunghaft. Häuser hatte ich schon angemalt in aller Herren Ländern, und da mußte es doch mit Wunderdingen zugehen, wenn ich auch hier nicht den Weg zum alten Handwerk fand, jetzt, wo hier jeder dritte Mensch mit einem Farbtopf herumlief. Und in der Tat kannte ich mich schon am nächsten Tage kaum wieder in meiner Eigenschaft als Unternehmer, der im Auftrage seiner Eminenz des Bischofs der alten Iglesia Madriz einen neuen Anstrich geben sollte. Allein hätte ich mir so etwas niemals zugetraut; aber da war ein junger Yankee mit Namen Charley. Der hatte sich den Sekretär des Bischofs vorgenommen und ihm Berge und Wunder erzählt von seiner mit eigenem Apparat und eigener Mannschaft direkt aus Gottesland gekommenen konkurrenzlosen Anstreicherkolonne. Und der Herr Sekretär hatte alles wörtlich genommen. Denn in Peru ist es heute nicht anders wie anderswo. Vor den Amerikanern und vor den Dollars ziehen sie alle den Hut, bis zu den Bischöfen und den geistlichen Räten.

So machten wir uns an die Arbeit; Charley und ich und ein irländischer Gastwirt mit Namen O'Brien, der bis zur ersten Abzahlung die Farben und einige recht baufällige Leitern als seinen Anteil an dem Geschäfte einbrachte, denn selbst mochte er keine Leiter besteigen und das aus guten Gründen, denn er wog gut und gern zwei und einen halben Zentner.

So waren wir allem Anschein nach wieder einmal auf der sonnigen Seite in diesem Karussell des Lebens. Vor meinen Augen öffneten sich Horizonte von ungeahnten Möglichkeiten. Mit wahrem Feuereifer ging ich von Kneipe zu Kneipe, von Bank zu Bank an der Plaza und trommelte alle Strandläufer zusammen als amerikanische Mannschaft für das große Geschäft. Abends hatten wir sie alle zusammen in O'Briens Bar, wo jeder einen Whisky bekam. Es war nicht eben ein erfreulicher Anblick. Eine müdere Gesellschaft hatte sich jedenfalls noch nie zusammengefunden als Kirchenmaler.

Am anderen Morgen, als es wirklich zur Arbeit gehen sollte, war nur noch die Hälfte da, und von dieser trennte sich noch einmal die Hälfte ab, als man ihnen einen Farbpott in die Hand drückte. Am schlimmsten benahm sich ein dicker Däne mit einem wahren Urwald von einem Barte. »Arbeiten?« sagte er mit einer Stimme, die förmlich zitterte ob der Schmach, die man ihm antun wollte. »Arbeiten? Das habe ich zu Hause nicht getan. Wo werde ich damit hier anfangen in diesem Affenlande?«

Er gab dem Pott einen Tritt, so daß sein Inhalt weit hinauf spritzte an der schmutzigen Hauswand, und schritt davon, jeder Zoll ein beleidigter Gentleman.

Den noch übrigbleibenden Rest der Mannschaft teilte Charley in kluger Voraussicht der kommenden Dinge in zwei Schichten, denn wenn Abends Zahltag war für die einen, überließen sie sich solchem Bacchanal, daß sie am nächsten Tag zu nichts mehr zu gebrauchen waren, worauf dann automatisch die nächste Schicht in Tätigkeit trat. So wurde Schicht um Schicht die alte Iglesia Madriz an der Plaza San Martin zu Callao langsam mit einem neuen Anstrich versehen. – –

Dennoch war es ein schlechtes Geschäft, dessen Einnahmen sich trotz des großen Umsatzes Null für Null multiplizierten und das schließlich ein vorzeitiges Ende in Unfrieden nahm. Das war an dem Tage, da ich das Kreuz auf der Turmspitze strich. Fünf Pfund sollte ich dafür extra bekommen, und wahrlich, es war wenig genug für die Akrobatenkünste auf dem morschen Gebälk, das stellenweise zu Staub zerfiel unter jedem Fußtritt. Mehr schlecht als recht, wie ich gerne zugeben will, beendete ich die Arbeit. Ich war der Ansicht, daß ich ein schweres Tagewerk vollbracht hatte, aber der bischöfliche Sekretär – je nun, ich hatte nicht erwartet, daß er mir das päpstliche Komturkreuz verleihen würde, aber daß er sich so wenig achtungsvoll aussprach über meine Leistungen, empfand ich als die bitterste aller Kränkungen, und als er mir als Schlußfolgerung seiner verschiedenen Ausstellungen eröffnete, daß er mir statt der versprochenen fünf Pfund nur deren drei zahlen könne, gab mir ein Gott zu sagen was ich litt. Ich sagte etwas von den Wucherern im Weinberge. Er aber zahlte die drei Pfunde und tat mir nicht einmal den Gefallen, sich zu ärgern.

Wir leben indes in einer sonderbaren Welt, die neue Erwerbsmöglichkeiten enthüllt an jedem neuen Tage, wenn sie auch nicht alle so unerwartet sind, wie die, die mir am nächsten Morgen über den Weg gelaufen kam. Wie stets, wenn ich nichts zu tun hatte, ging ich am Hafen hin, zusammen mit Francis, dem Matrosen. Ziemlich gleichgültig schlenderten wir durch das bunte Leben, als plötzlich Francis, der früher einmal Clown in einem Zirkus gewesen war und deshalb Augen für so etwas hatte, ganz betroffen stehen blieb: »Ho là là! Mais ça, c'est du cirque!« Wir eilten herbei, um uns den Zauber aus der Nähe anzusehen. Da lagen sie wirklich alle ausgebreitet am Kai, die Puppen, die Luftschaukeln, die Karussellpferde und all der andere Firlefanz, der vor Zeiten, ach, so lang! – ein Märchen, eine Zauberwelt auch für uns gewesen war. Immer neue Schätze wurden aus den Leichtern herausgeschafft, unter Aufsicht von dürren Yankees in Gamaschen, Reithosen, Gummimänteln, Sportmützen und mit kurzen Pfeifen in den smarten Gesichtern. Es war allenthalben ein großes Durcheinander und eine babylonische Sprachverwirrung, weil die einen eine Sprache redeten, die den anderen Spanisch vorkam. Ein dicker, glattrasierter Mann, dem die Schweißtropfen auf der Stirn standen, versuchte seine spanischen Brocken an den Mann zu bringen.

»It's hell, when you got to talk this language!« sagte er zu sich selbst mit tiefem Seufzer. »Es ist schlimm, wenn man so eine Sprache sprechen muß!«

Wieder war meine Gelegenheit gekommen.

»How is chances for a job, boss?« wandte ich mich an ihn in meinem schönsten Yankee-Englisch.

Einen Augenblick schaute er mich ungläubig an.

»Kannst du Spanisch?«

»Jawohl.«

»Dann zieh' mal gleich deinen Rock aus, jump in! Spring hinein! Mach' ihnen die Hölle heiß, ehe ich wahnsinnig werde!«

Ich tat wie mir geheißen, und im Augenblick war ich Herr und Meister über eine Arbeiterkolonne.

Es war kein beschauliches Geschäft, in das ich da so unerwartet hineingesprungen war. Niemand arbeitet mit solchem Überschwang wie Zirkus- und Schaubudenmenschen, wenn es die Lage erfordert. So machten wir auch hier einen Vierundzwanzigstundentag. Den Plunder, der sich am Kai aufgehäuft hatte, luden wir in Lastautos und schafften ihn nach Lima. Über Nacht entstand der Rummelplatz mitten im Zoologischen Garten. Zwischen Büschen und Schlinggewächsen, zwischen seltsamen Vögeln und exotischen Blumen, unter himmelhohen Königspalmen, wo die Löwen aus purer Langeweile in den Tag hinein brüllten, bauten wir die Schießstände, die Jahrmarktsbuden, die Luftschaukeln und all den anderen Humbug, vor dem die dunkelhäutigen Cholos die Augen aufrissen.

Nach zweimal vierundzwanzig Stunden stand die große Zauberstadt im Glanze ihrer strahlenden Schönheit, und von Rechts wegen wäre nun meine kurzlebige Karriere zu Ende gekommen, ebenso wie die der Cholos, die da vor der Bude des Zahlmeisters standen und auf ihre drei oder vier Soles warteten. Aber der Boß, dem ich bekümmert meine Resignation einreichte, hatte offenbar noch größeres vor mit meinen Talenten. Wir gingen nach dem »midway« einer von Buden umsäumten Straße, die ganz wie eine Jahrmarktstraße bei uns ausgesehen hätte, wenn nicht die hohen Palmen gewesen wären, die zu beiden Seiten standen. Wir hielten vor einer großen Bude, aus der von langen Galerien unzählige Puppen und Teddybären herunterschauten. Das war das große Puppenrad, der Angelpunkt, der Clou der ganzen Veranstaltung.

»Da sind wir,« sagte der Boß, »geh' hinein und sag's ihnen!«

»Aber was soll ich denn sagen?« fragte ich ratlos.

»Was? Woher soll ich das wissen? Sag' ihnen, daß das hier ein Heiratsbureau ist, sag' ihnen, daß die Teddybären aus den Rocky Mountains kommen, sag' ihnen, daß Miß Vanderbilt hier einen Foxtrott tanzen wird. Ganz einerlei, was du ihnen sagst. Nur laut mußt du es sagen. Es kann gar nicht laut genug sein. Und wenn Billy dort drüben von der schmierigen Konkurrenz sich bemerklich macht, so mußt du eben noch lauter schreien. Und wer am lautesten schreit, der macht das Geschäft.«

Und so begann die Tretmühle.

Wenn ich zurückdenke an die Zeiten, da ich selber vor Jahrmarktsbuden gestanden habe, mit brennenden Augen und hungrigem Herzen! Wie anders war es damals! Ist's die Welt, die seither anders geworden ist, oder sind's die Menschen? Ach, die Welt wird kälter mit jedem Tage, und was wir einst gekannt, geliebt und vergöttert haben mit der ganzen Inbrunst einer Kinderseele, das ist heute alles nur noch Schein und Trug und Äußerlichkeit.

Wenn ich an die Puppen von damals denke! Die Puppen, die morgens aufstanden und abends schlafen gingen, die Puppen, die in Puppenstuben wohnten und in Puppenküchen kochten, die Puppen, die große Wäsche abhielten und einander Kaffeevisiten abstatteten, die mit uns Kindern lachen und weinen konnten und uns jede Freude und jedes Leid von den Augen ablasen. Die Puppen von damals! Die sind nicht mehr. Denn die Harmlosigkeit ist aus der Welt gewichen. Die Phantasie ist nicht mehr bei der altklugen Jugend von heute, und vor allem nicht mehr die große, schöne Kunst, zu spielen. –

Die Puppen von heutzutage sind ganz anders wie die, die wir gekannt. Viel vornehmer, viel gesetzter, viel teurer. Große Damen, die man nicht rauh anfassen darf, ohne daß sie Schaden nehmen an ihrer Gesundheit. Die tragen seidene Kleider und glanzlederne Schuhe, die haben ondulierte Haare und vornehme Schleier über den leblosen Gesichtern mit den großen, schwarzen, putzigen Augen. Spielen! Wer würde wagen zu spielen mit so etwas! Höchstens sind sie gut als Aussatz für ein Teeservice oder als Kissen für die Hutnadeln der vornehmen Damen.

Und erst die Puppenspieler! Auch an denen ist nicht mehr allzu viel übriggeblieben vom »wahren Jakob«, der gleichfalls ein Stück unserer Kindheitserinnerungen ist. Hemdsärmlig standen sie in den Buden, jeder Zoll ein amerikanischer Gentleman. Geschrei machten sie genug, und dennoch waren sie so stumm wie die Fische, denn kaum einer von ihnen konnte mehr als zwei spanische Worte: »muñecas,« (= Puppen) und »cinco reales«. War es da ein Wunder, daß das hochgeehrte Publikum sich vor meinem Zelte staute, wo man ihm wenigstens einen verständlichen Unsinn vorplapperte?

»A cinco reales, señores . . .«

So ging es unaufhörlich von drei Uhr mittags an durch die ganze lange, lichtumflutete Nacht, bis um drei Uhr morgens die schweren Tautropfen von den Palmen fielen und die letzten betrunkenen Gestalten zum Tor hinaus wankten. Denn das ist gerade die Kunst. Man muß einen so weit interessieren, daß er sich zum Stehenbleiben veranlaßt sieht. Ganz gewiß kommen dann zwei andere, um sich nach dem Grunde des Stehenbleibens zu erkundigen. Nun kommen neun, die durch die drei angezogen werden, und einundachtzig durch die neun. Es wächst der Strom in geometrischen Proportionen. Nun stehen sie Kopf an Kopf, nun hast du sie hier. Nun schreie, brülle, dreh' das Rad, mach' irgend etwas, um sie festzuhalten. Es gibt keinen größeren Tyrannen wie das Publikum.

»Aqui estan las lindas muchachas americanas . . .«

»Hier sind die schönen amerikanischen Mädchen, die nicht schreien, die nicht weinen, die Damen der Dollars, jede einzelne eine gute Parti–i–ie! Hier ist Miß Wilson aus Washington, hier Miß Ben Bold aus Missouri . . .« Und immer gerade wenn ich im besten Tun war und die Puppen der Reihe nach aufpflanzte vor den schaulustigen Augen und die Soles so langsam aus den Taschen kamen, da kam von drüben Billys Stimme. Billy war eine alte Hand in diesem Geschäft. Er hatte eine Stimme wie ein Löwe und sprach Spanisch wie ein Wasserfall. Ich haßte ihn wie eine Schlange. Man mußte es mit angesehen haben, wie sich seine Stimme plötzlich erhob wie ein Erdbeben über dem verworrenen Lärm des Jahrmarktrummels und alles von Taumel ergriffen hinüberstürzte zu seinem Zelte:

»Hier, hier, hier ist Miß Pickpocket, die große Hochstaplerin von Chikago!«

Das war so gut wie ein Theater. Leider aber nicht für mich und die mir anvertraute Kasse. »So mußt du noch lauter schreien!« hatte der Boß gesagt. Aber da hatte man gut schreien. Sie kamen nicht wieder. In Stunden und Stunden kamen sie nicht, obwohl ich wie ein Papagei mein Sprüchlein immer wieder sagte, obwohl ich lange Reden hielt mit glatten Worten, ohne etwas dabei zu denken, wie ein Minister auf einem Festbankett. Immer größer wurde der Menschenstrom mit dem Fortschreiten des Tages. Er floß vorbei und staute sich wieder. Man meinte, man müßte ihn festhalten, aber vorbei, vorbei ging das Getriebe. Zuweilen, wenn es so gar nicht gehen wollte mit dem Geschäft, dann versagte sogar die ewig plappernde Zunge ihre Dienste.

Unsicher schweiften die Augen über das Meer von Köpfen, das da unruhig brandend und ein wenig schwabbelig durch den weiten Garten wogte. Ich hörte das Schreien der Jazzband, das ewige Gedudel der vielfachen Musik, ich schaute in die flimmernde Hitze, die brütend wie ein Ungeheuer über allem lag. Alles ging mir wirr im Kopfe, und ich fing an mich selbst zu schelten: Was willst du hier, du Narr?

Und dann blieb unversehens einer stehen und gleich kamen wieder die drei und die neun und die einundachtzig, und die Pfunde sprangen wieder über den Tisch und alles Denken hatte ein Ende. Denn wie sagt doch Shakespeare?

»Public means, that public manners breed!«

Bald gab es in ganz Lima keinen Menschen mehr, der nicht mindestens einmal an meiner Bude vorbeidefiliert wäre, keinen, der mich nicht kannte. Wenn immer ich über die »Plaza de Annas« ging, kamen auch die kleinen Jungen zutraulich auf mich zu: »Como te vas, Pepito!« »Wie geht's, Pepito?«

Armer Pepito! Es war ihm trotz aller erzwungenen Lustigkeit nicht gar so lustig zumute. Immer habe ich eine Passion gehabt für Messen und Jahrmärkte und all den grellen Firlefanz, der sich in Buden spreizt und auf den Landstraßen verkommt. Es ist ein angeborenes Faible, für das ich nichts kann, aber seitdem ich selbst einen so intimen Umgang mit Puppen und Bären gepflegt habe, ist diese unbedingte Freude doch erheblich angekränkelt von der Blässe des Gedankens. Wenn ich heute einem Wahren Jakob zusehe, so ist es mir immer, als ob ich einen trüben Ausdruck in seinem Gesichte sehe, wenn das Herz vor Müdigkeit zu versinken droht, während der Mund immer weiter plappert, wenn er in einer Pause zwischen zwei Spässen vielleicht an Frau und Kinder denkt, vielleicht an den Braten, den er nicht hat. Armer Wahrer Jakob! Du mußt dich redlich plagen um dein Dasein! Pepito hat's auch einmal gemußt. –

Man muß indes die Feste feiern, wie sie fallen. Ein ordentliches südamerikanisches Fest dauert gewöhnlich acht Tage. Ist es da ein Wunder, wenn eine Jahrhundertfeier sechs Wochen in Anspruch nimmt? Sechs Wochen lang wurde illuminiert, bankettiert, paradiert. Neue Reden wurden gehalten an jedem neuen Tage, Delegationen kamen aus aller Herren Ländern, und es war kein Ende der Denkmalseinweihungen. Die große, grüne, mit sechs stolzen Pferden bespannte, an die Zeit der Pompadour erinnernde Staatskutsche rasselte unermüdlich durch die Straßen, umschwärmt von einem Troß Kürassiere in blitzender Montur, in roten Hosen, Stulpstiefeln und kriegerischen Buschhelmen, die irgendeiner Sondergesandtschaft das Geleite gaben, jedesmal stürmisch begrüßt von der Menge, die sich in den Straßen staute. Heute war es vive la France, morgen viva España! In der nächsten Stunde ließen sie den Mikado hochleben.

Ja, und dann kam eines Tages, zu gleicher Zeit mit der des chinesischen Reiches, noch eine andere Sondergesandtschaft zugereist. Die mußte ich mir ansehen. Eigens zu der Gelegenheit ging ich in die Stadt. Sie kam wie die anderen in der großen, schönen Staatskutsche von Anno dazumal, begleitet von den französisch ausschauenden Kürassieren. Am Eingang des Regierungspalastes präsentierten die Soldaten. Die Musik spielte »Deutschland über alles«. – Das mag ihr schwer gefallen sein! – In der Tür des Palastes standen ein paar wohlgenährte Deputierte, glatzköpfige Senatoren, würdig ausschauende Minister und Bischöfe, die nach Weihrauch dufteten. Es wurde eine Rede gehalten, von der man zuweilen ein Wort verstand. Man hörte kein »Hoch«, kein »viva«. Das Ganze verlief ziemlich unbemerkt, und es war auch wohl besser so. Ich hörte die Clairons, die auf der Plaza de Armas ertönten, ich sah die Soldaten, die auf französisch präsentierten, ich sah den Spuk der welschen Kürassiere, die wir – ach, so gut! – aus den Bildern von Wörth und Reichshofen kennen und mußte an Deutschland denken und ging nach Hause. – – –

Inzwischen waren die Hauptfesttage herangekommen, und für diese hatte der Boß besondere Anstrengungen gemacht. In den Abendstunden, wenn die Menschenflut ihren höchsten Stand erreichte, spielten wir Lotterie, und das war wahrlich ein Beruf, der seinen Mann ernährte. Wie schon gesagt, konnte er kein Spanisch. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – unterhielt er sich ganz ausgezeichnet mit der Menge, nach dem Prinzip: »Laut mußt du es ihnen sagen. Es kann gar nicht laut genug sein.« Zu Anfang der großen Lotterie holte er sich Verstärkung durch einige besonders stimmkräftige Yankees aus den anderen Buden, die sich nun alle auf die Brüstung des Zeltes stellten und das erstaunte Publikum mit einem markerschütternden Indianergeheul begrüßten. Hierauf apostrophierte es der Boß in einer Phantasiesprache, die ebensogut chinesisch wie spanisch sein konnte. Darauf neues Indianergeheul, in das die unten versammelte Menge begeistert einstimmte, bis die direkt hinter dem Zelt befindlichen Löwen aus ihrer Siesta in ihrem Käfig aufwachten und mit einstimmten in das vielstimmige Konzert, das sie dennoch nicht überbrüllen konnten. Plötzlich hob der Boß die Hand. Totenstille herrschte im Kreise.

»Sag's ihnen, Charley!«

So stieg ich auf die Brüstung und verkündete die neue Entschließung.

»Diesmal, Senjores, gibt es eine Puppe zu fünf Reales die Nummer.«

Es war wie bei der Verkündigung des heiligen Geistes. Das Wort war noch nicht recht aus dem Munde, und schon setzte der Sturm auf die Bude ein.

»A cinco reales el numero . . .«

Schneller konnte man die Billette nicht verschenken, als sie hier verkauft wurden für teure fünfzig Centavos. So wie sie ausgegeben wurden, waren sie auch schon wieder ausgelost und neue Zettel flatterten über die Menge.

»A cinco reales el numero . . .«

Und immer wieder schrie der Boß mit seiner gellenden Summe, immer lauter lärmte die Menge, immer wilder brüllten die Löwen. Es regnete Pfunde und Soles. Man mochte vier Hände und noch einmal so viele Augen haben, um all den Segen einzuheimsen. Die Puppen selbst, die vorher so vornehm im Hintergrund gestanden hatten, schienen mit einemmal lebendig zu werden, und es war, als ob ihre Augen leuchteten über dem großen Busineß. Alles kann man aus der Bestie Publikum herausholen, wenn man nur versteht, sie zu amüsieren. Niemand verstand sich besser darauf wie der Boß, der das Interesse wachzuhalten wußte in immer neuen und immer kühneren Kombinationen. Das Gedränge wurde lebensgefährlich, als er die Nummern verdoppelte und mehrere Puppen auf einmal ausspielte. Der große Moment aber kam erst, als ich auf die Brüstung trat und mit Bedacht und Würde die überraschendste der Kombinationen verkündete.

»Señores!«

»Silencio! Hört den Gringo

»Heute abend, Senjores, ist der Patron bei guter Laune und das muß man wahrnehmen, denn so etwas kommt nicht alle Tage vor. Ich weiß es, denn ich kenne ihn schon lange. Und weil heute der glorreiche Jahrhunderttag ist, weil das Geschäft schlecht geht, weil er die Puppen nicht mit zurücknehmen will nach Amerika und er sie überhaupt nicht mehr sehen mag– eh bueno, señores! Aus allen diesen Gründen verschenkt er euch den ganzen Plunder und gibt noch jedem Gewinner als Dreingabe ein ganzes peruanisches Pfund.«

Ein Murmeln des Erstaunens ging durch die Menge.

»Una libra?«

»Si señores!« sagte ich mit der Miene eines Mannes, der ein Königreich zu verschenken hat.

»Una libra –« wiederholten sie unten kopfschüttelnd. »Sind die Gringos verrückt geworden?« Das Wort pflanzte sich fort von Mund zu Mund. Wie ein Wildfeuer ging es über den ganzen Rummelplatz. In Scharen strömten sie herbei vom Karussell, von der Jazzband, der Schiffschaukel. Bald standen sie wie die Mauern. Jeder nahm gleich drei oder vier Lose auf einmal. Der Boß aber gab für das »verschenkte« Pfund Lose aus für deren zwei und so kam er doch noch recht gut auf seine Kosten, denn die Wohltätigkeit beginnt bekanntlich zu Hause. Nachdem der Trick mit dem einen Pfund so gut gelungen war, steigerte sich das Geschenk auf zwei, auf vier, auf zehn Pfund, ohne dem Nutzen Abbruch zu tun. Je höher die Zahl, je wilder wurde der Andrang der Menschen. Aus der Puppenbude war im Handumdrehen eine Spielhölle geworden, vor der der Veitstanz der Pfunde bis zum dämmernden Morgen dauerte.

Es war wahrlich eine Nacht, an die ich immer denken werde!

Der Rausch der Pfunde erfaßte auch mich, wenn ich auf den Kasten sah, der jeden Augenblick bis obenan mit Geldscheinen gefüllt war, die dann der Boß mit einer großen Miene der Selbstverständlichkeit in alle Taschen steckte. Mehr als einmal gab er mir auch so eine Handvoll Scheine, als ob es so viele Papierfetzen gewesen wären.

»Here you are, Charley – –«

Immer wieder wurde der Kasten geleert und immer wieder war er voll im Handumdrehen, wie irgend so ein verhextes Ding, von dem man im Märchen lesen kann. Und niemand schien sich sonderlich darum zu kümmern, ob er leer war oder voll. Einmal, als dieses Kommen und Gehen der Pfunde noch den Reiz der Neuheit für mich hatte, konnte ich nicht umhin, sie zu zählen. Da drohte der Boß mit sofortiger Entlassung.

»Nicht zählen!« schrie er entsetzt, »das könnte gerade noch fehlen! Du verdirbst uns das Glück für die ganze Saison.«

Nie wieder bin ich unter Menschen gewesen, die das Geld so gierig gesucht und doch so sehr verachtet haben. Hundert und zweihundert Pfund waren die Reineinnahmen einer einzigen Nacht. – Wo sie geblieben sind? Es ging alles davon für Wein, Weib, und vor allem im Pokerspiel. In diesem waren sie unermüdlich. Oftmals, wenn ich mich nach getaner Arbeit mitten zwischen den Puppen niedergelegt hatte für ein paar Stunden Schlaf, die ich so sehr nötig hatte, da sah ich noch im Einschlafen, wie sie hinter dem Vorhang des Zeltes auf der Kiste saßen und mit halblauter Stimme ihrem Spiele nachgingen.

»Three kings! – full house!«

Und wenn ich Mittags aufgeweckt wurde von den Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der undichten Bude hereinfielen, da waren sie immer noch dabei, obwohl die übernächtigen Augen wie Feuer brannten und die müden Hände kaum mehr die Karten zu halten vermochten. So kam es, daß der eine alles und die andern gar nichts und am Ende keiner mehr etwas hatte, denn so geht es immer beim Spiel auf irgendeine Art und Weise. Ich selbst aber war sparsam wie ein Neger. Ich tat etwas, was ich noch nie getan hatte in meinem ganzen Leben: ich fing an, das Geld zu zählen. Ein Pfund legte ich zum anderen, und je mehr ihrer wurden, je mehr erfaßte mich eine Art Millionenrausch. Die Pfunde setzten sich in Meilen um und wanderten bis an die Enden der Erde. Mehr Pfunde, mehr Meilen. Unbegrenzte Reisemöglichkeiten taten sich auf.

Jedoch –

Man spielt nicht ungestraft mit amerikanischen Puppen. Diese wenigstens waren so schön wie sie giftig waren; ganz rein american made, ohne die verruchten Anilinfarben, die die Hunnen fabrizieren. – Und was soll ich sagen? Kleine Ursache, große Wirkung. Ein winziger Riß im Finger war genug für dieses amerikanische Gift. Allmählich schwoll er an zu einem unförmigen Etwas. Anderen Tages war die Hand ebenso dick. Das Gift hämmerte mir im Blute. Es summte im Kopfe. Wild ging alles vor mir im Kreise, die Menschen, die Zelte, die Palmen im Garten, während ich mechanisch das Sprüchlein immer weiter plapperte:

»A cinco reales, señores . . .«

Dann war auf einmal alles dunkle Nacht, und als ich wieder zu mir kam, da lag ich in einem schönen weißen Bett im Spital. –

Soweit war alles schön und gut. In einem ordentlichen Bett hatte ich schon lange nicht mehr gelegen, und ein paar Tage der Siesta mochten mir wohltun nach all den Abenteuern und Aufregungen. Aber aus den Tagen wurden Wochen, in denen die Pfunde dahinschwanden, fast so schnell wie sie gekommen. Aus war es mit den schönen Reiseplänen. Aus mit den Pfunden im Kasten.

Aber es ist ein schlechter Wind, der niemand zuliebe bläst. Zu etwas war auch dieses Unglück gut. Hätte ich nie eine Blutvergiftung gehabt, so hätte ich niemals Lima gesehen. Nun, da ich als armer Invalider durch die Straßen schlich, die ich vor wenigen Tagen noch achtlos durcheilt hatte als wilder, vielgehetzter Abenteurer, wurde mir erst bewußt, an wie vielen Dingen ich vorbeigegangen war, ohne sie zu sehen. Denn die Mutter aller Entdeckungen und Wahrnehmungen war doch immer noch die Zeit. –

Wenn man sich daran macht, die Sehenswürdigkeiten einer südamerikanischen Stadt in Augenschein zu nehmen, so zieht es einen mit magischer Gewalt immer wieder nach der Plaza. In Lima ist das nicht anders wie anderswo. Wer die Plaza de Armas gesehen hat, hat Lima gesehen und wer Lima gesehen hat, weiß noch nichts von Peru. Von allen Plazas, die ich je gesehen habe, ist die Plaza de Armas am Rio Rimac die schönste. Lima war jahrhundertelang die Hauptstadt Südamerikas, la ciudad de los reyes, die Residenz der allmächtigen spanischen Vizekönige, und demgemäß geht es auch noch wie ein Hauch der vergangenen besseren Zeiten durch die engen, verträumten Gassen. Wo aber wäre das mehr der Fall, als auf der Plaza de Armas? Vornehm verschlafen, wie sie damals gewesen sein mochte, sieht sie auch heute noch aus. Abgesehen von den Abendstunden, in denen sich die bessere Gesellschaft hier in der kühlen Luft ergeht, die von den nahen Bergen herunter kommt, liegt immer eine Siestastimmung über dem Ganzen. Durch die Stämme der hohen Palmen, die regungslos in der Sonne stehen, sieht man die alte Kathedrale mit den beiden Türmen, um deren Spitzen die heiße Luft wie eine dunkelblaue Glocke liegt. Man sieht die vornehmen Häuser mit ihren geschnitzten, vielfach verschnörkelten Holzbalkonen, man sieht an der einen Seite den Regierungspalast, der trotz seiner einstöckigen Niedrigkeit einen imponierenden Eindruck macht mit seinen reichen Ornamenten, die altspanische Baukunst in spielerischer Laune darüber ausgestreut hat, und vor dem Palast die Marmorplatte, die den Ort bezeichnet, wo Franz Pizarro das Zeichen des Kreuzes mit seinem eigenen Blute machte, als er niedergeschlagen wurde von den Waffen seiner Mörder. Man sieht das alles, und würde sich gar nicht wundern, wenn plötzlich der Geist eines alten spanischen Ritters mit Helm und Degen um die Ecke käme. Es paßte so gut in dieses ritterlich-klösterlich-spanisch-andalusische Milieu.

Und Lima besteht aus vielen kleinen Plazas de Armas. Lima, die Stadt der Könige, der Traum aller Abenteurer, ein Stück der alten Zeit, eine Insel der Seligen im hysterischen Weltgetriebe, wenn man so will. Es gibt zwar auch hier elektrische Straßenbahnen, die Autos sausen über das Asphaltpflaster der Calle Espaderas – es ist die einzige modern gepflasterte – aber im übrigen ist alles noch so, wie es die Spanier verlassen haben. Viele Kirchen, prunkvolle Kathedralen, Pfaffen, Mönche, Nonnen, schwarzgekleidete Frauen aus dem Volke mit schwarzen Mantillas, die morgens früh zur Messe rennen. Das alles war wohl auch nicht anders gewesen zur Zeit der Vizekönige.

So ziemlich jeder dritte Tag ist ein Feiertag. Heute ist es die Santa Rosa, morgen der heilige Thomas, in der nächsten Woche kommen Peter und Paul an die Reihe, und so geht es weiter in alle Ewigkeit, von Fest zu Fest, von Feiertag zu Feiertag. Dann sieht man noch mehr Priester, Mönche, Nonnen auf der Straße, dann laufen die Leute noch mehr zur Messe und die Glocken läuten unermüdlich von allen Kirchtürmen, von denen es nicht weniger als siebenundsiebzig in Lima gibt. Aber es sind nicht die Glocken, die wir lieben und die unsere Dichter besangen.

Und wie der Klang im Ohr vergehet,
Der mächtig tönend ihr entschallt –

Die Glocken von Lima! O Friedrich Schiller! Aufreizende Lärminstrumente sind es, die mit seelenloser Gleichmäßigkeit in den Tag hinein bimmeln mit einem stumpfen Ton, der sich anhört, wie wenn jemand mit einem Löffel an einen Kochtopf schlägt.

Genau so eigenartig wie die Glocken sind auch die Straßen dieser altertümlichen Stadt. Eng beieinander stehende niedrige Häuser mit flachen Dächern, holperiges Pflaster – ah, diese runden, spitzen, zackigen, vom Meeresstrande aufgelesenen fußmarternden Pflastersteine des Limapflasters! Am schönsten – ich möchte sagen am limensischsten – sind diese Straßen zur heißen Mittagsstunde, wenn alle Türen fest verrammelt sind gegen die Hitze und niemand sich im Freien blicken läßt, als die unvermeidlichen Fruchtverkäufer, die mit ihren Waren auf dem Kopf langsam durch die Stille des heißen Tages geschritten kommen und dabei wie heulende Derwische ihre Schätze mit kläglich weinendem Gewinsel anpreisen. Und wohl mögen sie Ursache dazu haben, denn in all den langen Wochen, die ich in Lima zugebracht habe, habe ich nie jemand gesehen, der ihnen etwas abgekauft hätte.

Diese schöne alte Stadt wäre jedoch zu vollkommen, wenn sie nicht auch ihre fortschrittlichen Anwandlungen hätte, die sie nach dem hier allein maßgebenden Vorbild in die Tat umgesetzt hat in der Anlage von Boulevards, bei deren Anblick man sich fragen muß: wozu? Einige sind ganz leidlich, während die meisten trüb und traurig daliegen unter der grellen Sonne, deren Strahlen kaum abgewehrt werden von den kümmerlichen Bäumchen, denen die umherirrenden Ziegen immer wieder das Lebensmark abknappern. Ringsum liegen leere Hausplätze; ein Tummelplatz verwilderter Hunde. Lima wäre schöner, wenn es keine Boulevards hätte.

In Lima führen indes alle Wege immer wieder zurück nach der Plaza de Armas und insbesondere nach dem großen Regierungspalast, wo derzeit seine Exzellenz, der Präsident Don Agusto B. Leguia regiert nach einer Methode, die er den spanischen Vizekönigen abgesehen hat. Alles »par ordre du moufti« friedlich, schiedlich, brüderlich republikanisch. »Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.« Senat und Deputiertenkammer sind nur noch Dekorationsstücke, Don Agusto allein verkörpert die Staatsgewalt, ausführende und gesetzgebende in einer Person. L`état c`est moi. Und dort, wo es geboten scheint, ist er auch die Justiz. Wehe dem, der es wagt, seine Gottähnlichkeit in Zweifel zu ziehen! Über kurz oder lang wird er draußen auf der Insel San Lorenzo oder sonst einem düsteren Platze seine Sünden bereuen, denn Don Agusto versteht keinen Spaß. Spaß muß indes sein, selbst auf Kosten der Diktatoren. Als vor noch nicht langer Zeit eine Revolution drohte, machte er kurzen Prozeß, indem er die ganze politische Opposition – verschiedene Senatoren, zahlreiche Deputierte und sogar einen Expräsidenten – auf einem konfiszierten Kosmosdampfer nach Australien abschob. Es war eine fein ausgeklügelte Rechnung, die jedoch ein Loch hatte. Unbegreiflicherweise hatte Don Agusto vergessen, den zu deportierenden Staatsverbrechern auch das Bankkonto zu beschlagnahmen. Er ließ sie ruhig so viel Geld abheben, wie sie immer wollten, und da sich einige der reichsten Leute Perus unter der Reisegesellschaft befanden und der Kapitän – ein hungriger Franzose – nicht taub war gegen das Klingen des Goldes, stellte er sich noch dazu blind auf beiden Augen, als sie eine harmlose Meuterei auf hoher See improvisierten und statt zu den Antipoden wieder zurück nach Südamerika segelten. Sie landeten schließlich in Costa Rica, und heute sind sie längst wieder alle in ihrer peruanischen Heimat, denn auch Don Agusto in all seiner Allmacht hängt keinen, ehe er ihn hat. Wie steht es doch geschrieben in jenem englischen Liede?

»But the cat came back –«

Auch sonst ist Don Agusto ein Mann, der sich zu helfen weiß. Hierfür nur ein Beispiel: »La Prensa« nennt sich die größte in Lima erscheinende Zeitung. Sie ist fromm und regierungstreu und ganz abgestimmt auf die Losung: »Viva Leguia!« Das war nicht immer so gewesen. Noch vor kurzem hatte sich in ihren Spalten ein Rest von Opposition geregt, bis eines Tages ein Leutnant mit zehn Mann angerückt kam und die Zeitung im Namen der Regierung beschlagnahmte. Der willkürlich abgeschätzte Gegenwert des Unternehmens wurde den Besitzern in der Bank zur Verfügung gestellt, und heute gibt es, wie gesagt, kein regierungsfrommeres Blatt als die »Prensa«.

Und seither herrscht Ruhe im Staate Peru.

Unter solchen Umständen – sollte man meinen – könnte man sich füglich auch die Mühe der Wahlen ersparen. Dennoch braucht man sie als Spielzeug für die politischen Kinder, als Blitzableiter der Leidenschaften. Gerade eben fand in Callao eine Deputiertenwahl statt, die insofern ein Unikum darstellte, als niemand wählte und kein Mensch den Namen des Kandidaten kannte. Dennoch wurde eine Wahlversammlung abgehalten, in die mich der Zufall selbst hineinführte, als ich eines Tages traurig und mißmutig durch die Straßen ging. Schon von weitem hörte man einen infernalischen Lärm und eine wüste, ungereimte Musik. Vorüber schwankte ein wilder Haufen von unsagbar zerlumpten Gestalten, die sich heiser brüllten im Vorübertorkeln.

»Viva Leguia!«

Halb widerwillig folgte ich dem Spuk. Schnell ging es weiter durch viele Gassen, bis wir endlich zum Stillstand kamen vor einem kleinen, schmutzigen Hause. Die Musik spielte einen ohrenzerreißenden Tusch, und alles drängte in ein sehr kleines, niedriges Lokal, in dem es nach Tschitscha und Pisko duftete. Hinter einem Tisch, kaum sichtbar durch die Wolken von Tabaksrauch und Fuseldunst, stand der Kandidat und hielt eine Rede:

»Compañeros! Amigos! Peruanos!« rief er mit einer Stimme, die sich vielfach überschlug in dem kleinen Zimmer.

»Viva!« riefen die anderen in trunkener Begeisterung.

»Soy borracho!– ich bin betrunken!«

»Viva!«

»Sehr betrunken!«

»Viva!«

»Betrunken, meine Freunde, von Begeisterung für unsere große Sache!«

»Viva!«

»Und – carajo! – Tod den Chilenen!«

»Viva! Viva! Mueran los rotos!«

Schweißtriefend setzte er sich hin und trank ein großes Glas Pisko, während die Musik spielte, bis der exocellentissimo señor sich einen neuen Satz ausgedacht hatte. Sobald dies der Fall war, erhob er sich wieder von seinem Sitz und streckte die Hand aus mit einer Gebärde, die jedem Napoleon Ehre gemacht hätte:

»Para la música! – Still die Musik!«

Das Neue, das er hervorbrachte, war aber im wesentlichen eine Wiederholung dessen, was er schon vorher gesagt hatte, und so ging es in endloser Folge weiter bis fast zum dämmernden Morgen. Viva Leguia, muera Chile! Bis sie alle nicht mehr weiter konnten aus reiner physischer Erschöpfung und Arm in Arm in seliger Zufriedenheit nach Hause wankten. Lange ehe der Zauber zu Ende war, machte ich mich aus dem Staube. Ich atmete auf, als ich draußen die kühle Nachtluft verspürte. Eine Weile stand ich wie betäubt in dem grellen Lichtschein, der frech in die Gasse fiel. Als ich noch dastand, kam aus dem Dunkel der Nacht ein Mann, der mich in ein garstiges politisches Gespräch verwickelte. Wir standen noch mindestens eine Stunde zusammen und redeten recht vernünftig, denn er war in dieser Umgegend außer mir der einzige, der nicht betrunken war.

»Señor,« sagte er nachdenklich, »dieses ist eine böse Welt mit vielen Teufeln, aber die schlimmsten von allen sind die Politiker, zumal hier in Peru. Wer es ändern wird? Vielleicht die Gringos, vielleicht die Bolschewisten. Ich weiß es nicht, und ich kümmere mich auch nicht darum, denn unsereins kommt doch immer zu kurz bei dem Geschäft. ›Somos libre, seamoslo siempre‹, steht in unserer Nationalhymne. Sie lernen das gut in den Schulen. Es ist das einzigste, was sie lernen. Aber was– palabras! Worte! Heute ist es die Familie Benavides, die sich in den Ministersesseln breit macht, morgen Moreno, übermorgen San Fuentes. Sie kommen und gehen, ehe man sich's versieht, und alle setzen in jedem Jahre eine Null an ihr Bankkonto, wie ein Mastschwein ein Pfund Fleisch. So war es bis vor kurzem. Da sind wir dann endlich übereingekommen – wir, das peruanische Volk – und haben der Sache ein Ende gemacht. Wenn sich hundert um den Staatssäckel raufen, so kommt uns das teurer zu stehen, als wenn einer sich daran gesund macht, der aber ordentlich. Es ist billiger und es bleibt manchmal sogar noch etwas übrig, womit man zum Beispiel eine Straße pflastern kann. Darum »viva Leguia!«

Ohne ein weiteres Wort verschwand er im Dunkel der Nacht, während drinnen die Musik einsetzte und das wüste Geschrei von neuem durch das offene Fenster kam:

»Viva Leguia!«

Ich aber ging weiter und dachte mir mein Teil. Viele Stunden lang ging ich durch die verworrenen Straßen in der lauen Nacht. Ich kam an den Strand, gegen den das Meer anlief in stetem Ansturm, so unerbittlich wie ein Schicksal, so unruhig wie eine Menschenseele. Ich schaute in die Nacht und auf das Wasser und mochte gar nichts mehr denken. Was kümmerte mich das Schicksal der Gesellschaft und was die Politik? Ein Arbeitsloser ist stets ein Radikaler, und ein hungriger Magen ist immer ein Anarchist.

 


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