Kurt Faber
Tage und Nächte in Urwald und Sierra
Kurt Faber

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Das Land Santa Cruz

Gespräch mit dem amerikanischen Botschafter. – Ankunft in Samaipata. – »Servus, Landsmann!« –Beschauliche Arbeit. – Hohe Politik. – Der »Kaiser von Belgien« und das verkannte Elsaß-Lothringen. – Hochwürden beendet den Streit. – Wenn man Orangen kauft. – Endlich Santa Cruz! – Die Hauptstadt der Gummibarone. – Allerlei Abenteuer. – Ich kaufe mir einen Reitochsen. – Nachtmarsch im Tropengewitter. – Muchos bárbaros!

Am anderen Tage machte ich mich auf den Weg vor der Sonne und ich hatte auch alle Ursache dazu, denn die Tagereise, die vor mir lag, war lang und führte über eine Cuesta, die höher war wie alle anderen und mit ihrem Kammgipfel bis in die Wolken ragte. Einige zehn Leguas gleich fünfzig Kilometer sollten es sein bis zum nächsten Dorfe, und die wollten marschiert sein auf dem schlechten Wege. Langsam marschierte ich durch den tiefen Sand der Straße, die mindestens einmal in jeder Stunde durch einen Wildbach führte. Heiß und sengend brannte schon die Sonne, obwohl sie eben erst hinter der hohen Cuesta vorgekommen war, die schwarz und drohend vor mir stand. Um eine Wegbiegung tauchte ein Reiter auf, dem man an seinem weißen Anzug und dem Tropenhelm schon von weitem den Gringo ansah. Wer konnte das anders sein als Seine Exzellenz, der amerikanische Botschafter in La Paz? Gönnerhaft schaute er herab von der Höhe seines lammfrommen Maultieres, und sein breites, glattrasiertes Gesicht strahlte von Frömmigkeit wie das eines Methodistenpfarrers. Bewaffnet war er bis an die Zähne, ganz im Gegensatz zu seinem Landsmann, dem Tanzmeister, der keine andere Waffe mit sich führte, als die Blume, die er im Knopfloch trug. Hinter ihm trottete ein Gefolge von wohlbepackten Mauleseln, damit Seine Exzellenz die hotcakes nicht beim Frühstück vermisse, damit es an ham und eggs nicht fehle, damit man abends sein corned beef and cabbage und sein porkchop habe. Am Schwanzende trottete verdrossen der Führer auf seinem Maultier.

»Good morning,« sagte Seine Exzellenz.

»Good morning,« antwortete ich.

Dabei gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Fünf Dollars wäre er wert, hatte der Tanzmeister gesagt. Das wären gerade etwa zwölf bis dreizehn Bolivianos, und das war viel in diesem Lande. – Und von Detroit in Michigan war er? Noch nie in meinem Leben war ich dort gewesen. Vielleicht täte Texas auch die Dienste. Oder San Franzisko oder so etwas Ähnliches. Aber Amerika –!

»Wo, zum Teufel, kommen denn Sie her?« fragte Seine Exzellenz.

»Germany!«

»German? Now, das hätte ich mir schon denken können! Eine sehr unternehmende Nation, die Germans. Santa Cruz ist voll davon. Und wenn einer nach dem Mond geht, so wird er sicher auch eine ganze Kolonie davon finden.«

Nun lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema.

»Lovely morning, is'nt it?«

»Lovely morning, indeed,« sagte ich und ging weiter. Du hast gut reden auf deinem Maultier, dachte ich mir.

 

Der Weg nach dem Mekka meiner Träume, Santa Cruz, war nun nicht mehr allzu weit. Etwa vier Tagereisen. Vorher sollte man aber noch eine andere größere Stadt mit Namen Samaipata antreffen. Als eine kleine Weltstadt war sie mir geschildert worden, wenn sie sich auch nachher etwas bescheidener entpuppte, als eine Illustration zu dem Sprichwort, daß im Reiche der Blinden der Einäugige König ist. In einer pechschwarzen, mondlosen Nacht, in der es ringsum wetterleuchtete von Gewittern, geriet ich in eine Ansammlung von Lehmhütten, zwischen denen eine Schar von halbwilden Hunden ein steinerweichendes Konzert vollführte. Irgendwo vor einer Hütte brannte ein trübes Licht, hinter dem einer der in allen Gegenden Südamerikas so verbreiteten arabischen Halsabschneider auf den Schätzen seines Basares thronte.

Wie weit es noch nach Samaipata wäre?

»Ja, Amigo, Sie sind ja in Samaipata.«

Müde und enttäuscht setzte ich mich auf eine umherstehende Kiste und versuchte meinen Kummer zu ertränken in einem großen Glase Zuckerrohrschnaps. Der Fondero wurde indes nicht müde mich auszufragen mit der ganzen Neugierigkeit seines Gewerbes. Woher ich komme, wohin ich gehe, ob ich verheiratet wäre, was ich in meinem Rucksack habe, ob ich damit Handel treibe, und tausend andere Fragen. – Nein, Hotels gäbe es keine in dieser aufblühenden Stadt, aber in seinem Nachbarhause wohne ein Gringo, ein Deutscher. Der würde mir gewiß ein Unterkommen gewähren für die Nacht.

So machte ich mich denn auf den Weg und fand ihn endlich in seiner Hütte, zwischen Hunden, Hühnern, Schweinen und kleinen ungewaschenen Kindern. Vor heller Begeisterung fiel er mir fast um den Hals mit einem kräftigen »Servus, Landsmann!« Denn er war ein Österreicher. Auf mich, so sagte er, hätte er gerade gewartet, denn er habe heute einen Kontrakt unterzeichnet für einen Neubau, und da könne er viele Arbeitskräfte anstellen. An Essen und Trinken solle es mir nicht fehlen und schon gar nicht an barem Geld.

Am anderen Morgen machten wir uns an die Arbeit.

Natürlich war es ein Musikpavillon, an dem wir bauten. Was sonst sollte es zu bauen geben in solcher Stadt? Ganz allein stand er in der grellen Sonne auf der endlos weiten Plaza, die wie eine kümmerliche Viehweide aussah mit ihren braungebrannten Gräsern und den Resten eines Stacheldrahtzaunes, der sie einmal eingefaßt hatte. Nicht immer, so erklärte mir der Österreicher, sei das so gewesen. Noch vor zwei Jahren habe es hier stattliche Anlagen gegeben mit vielen liebevoll gepflegten Blumenbeeten. Aber dann hätten sie die Dorfbewohner als Weide für die Schweine benutzt. Die Ziegen hätten die Blumen gefressen und als letzter Rest vergangener Hoffärtigkeiten war nur noch der Musikpavillon übriggeblieben. Auch dessen Bau war schon seit einem Jahr im Gange, mit langen Pausen, die auf den chronischen Geldmangel der Stadtverwaltung zurückzuführen waren. Nun aber stand die Krönung dieser Schöpfung in nächster Aussicht. Von morgens bis abends umstanden die Honoratioren des Städtchens den Bauplatz und schauten uns zu bei der Arbeit und machten in Lokalpolitik und auch in hoher und höchster Weltpolitik, von der sie recht eigenartige Vorstellungen hatten. Da ich vor noch nicht langer Zeit aus Deutschland gekommen war, erregte ich eine Art Sensation. Ein Trommelfeuer von Fragen mußte ich aushalten während des ganzen Tages.

Ah, und ist es wahr, daß sie dort Mäuse gegessen haben? Und Hunde und Katzen und kleine Kinder? Und daß sie Margarine aus Leichenfett fabrizierten, und wie das wohl schmecke? – Aber er sieht nicht verhungert aus, caramba! – Und ob der Kaiser von Belgien eine größere Armee gehabt hätte wie der von Deutschland? Aber der Bürgermeister – ein stattlicher Herr, der immer komplett und elegant angezogen war, trotz der großen Hitze – kannte sich aus und belehrte die anderen.

»Belgien? Wo denken Sie hin, Caballeros! Belgien ist ein kleines Land von armen Bauern am Mittelländischen Meere. Die überfiel der Kaiser mit seiner Flotte, weil er die dort entdeckten Goldminen wollte. Aber dann besiegten ihn die Belgier in einer großen Seeschlacht. Und der Präsident von Frankreich hat in der Schlacht von Verdun den deutschen Kronprinzen vom Pferde gehauen und gefangengenommen. – Und Elsaß-Lothringen – ein Land? Nein, Señores, das ist ein Stadtteil von Paris!«

Noch lange hätte er so weitergeredet, wenn nicht ein Kaplan sich in das Argument gemischt hätte.

Paris – das sei die Stadt der Gottlosen und Abtrünnigen, die nicht an die Heiligen und die Hostie glauben, England ein Land der Ketzer, in Amerika glaubten sie nur an den Dollar, und neben Spanien sei Deutschland das einzige anständige Land.

Sprach's und schritt davon ohne ein weiteres Wort. Roma locuta, causa finita.. Fortan redeten sie nicht mehr über Politik, wenigstens nicht solange Hochwürden in der Nähe war. –

Denn in Samaipata gilt noch nicht die Klage aus der Frommen Helene: »Ach, man hört auch hier schon wieder nicht mehr auf die Geistlichkeit!« Kirchliche Feiertage gibt es mehr wie Werktage. Und das ist weiter kein Unglück, denn ob Werk- oder Feiertag, es tut ohnehin kein Mensch etwas. Die meisten dieser Feiertage kommen auf das Konto der Schutzheiligen in den Hütten, die nur dann Wert und Wirkung bekommen, wenn sie die offizielle Weihung in der Kirche erhalten haben. So sieht man denn alltäglich Männlein und Weiblein und was sonst Beine im Dorfe hat, in feierlicher Prozession zur Kirche ziehen. Voran die lärmende Musik und ganz an der Spitze der Heilige in seiner kahlen, noch ungeweihten Nüchternheit. Eine Weile ist es drinnen lebendig von Musik, und schon erscheint der Heilige wieder mit Schleier und Blumen.

Aber die Fiesta ist damit noch lange nicht vorbei. Die Musik zieht lärmend durch die Gassen und musiziert drei Tage und Nächte lang fast ununterbrochen, während die ganze Einwohnerschaft des Dorfes vor der Türe sitzt und Tschitscha trinkt auf Kosten des Patrons. So ist das Leben in Samaipata im Grunde genommen nur ein einziger Rausch von Tschitscha und Musik.

Was soll ich weiter von Samaipata erzählen? Ach, es ist am Ende doch nur ein trauriger Erdenwinkel! Tot, müde, alt, ruinenhaft verfallen ist hier alles, von der letzten Lehmhütte bis zu dem leeren Laufbrunnen auf der Plaza. Hitze, Sonne, Staub und brütende Langeweile in den leeren Gassen. Hunde, die sich die hors d'œuvre in den Hinterhöfen sichern, und kümmerliche, halb verhungerte Schweine, die in den Kehrichthaufen wühlen. Denk' ich an Samaipata, so steigen mir in der Erinnerung noch jetzt die Düfte auf, die noch kein Dichter besungen.

Und doch – welches Land! Blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Weiche, schmeichelnde, italienische Luft, die sanft und wohlgefällig, wie der Frühling selber, über Täler und Höhen zieht. Da könnte man wohl – wenn man nur Zeit dazu hätte – tagaus, tagein am Wegrand hocken und der lieben Sonne zusehen, wie in der hellen Bergluft ihre Strahlen sich tausendfach brechen und wie sie allabendlich hinter den dunkelblauen Bergen versinkt in einem sprühenden Regen von leuchtendem Gold. Zeit und Stunde, Leben und Tod könnte man vergessen hier über dem Spiele der Farben.

Ich möchte hingehen wie das Abendrot,
Und wie der Tag in seinen letzten Gluten.

Welcher Boden! Reichtum und Überfluß könnten hier sein; das gelobte Land, von dem die Kinder Israels träumten, wenn – ja, wenn es keine Indianer und keine Tschitscha gäbe. Da kam vor einigen Jahren ein Italiener in die Gegend; ein Mann mit viel Unternehmungsgeist und wenig Dollars. Abseits von den anderen, in einem öden Tal, baute er seine Hütte. Damals war dort nichts zu sehen als staubiger Dornbusch auf steinigem Boden. Heute lacht es einem nur so entgegen von Feigen, Mandeln und Orangen aus den dunklen Bäumen zwischen dem glitzernden Wasser in den weitgedehnten Bewässerungsgräben. Kastanien, Mandarinen, aber auch Äpfel, Birnen, Pflaumen, die Früchte beider Zonen gedeihen hier bunt durcheinander in gleicher Üppigkeit. Kindskopfgroße Melonen und Kürbisse, so groß wie Wagenräder, leuchten goldgelb aus dem wogenden Meere der reifenden Maisfelder. Vor dem freundlichen weißgetünchten Hause ziehen sich Weinlauben, wo dicke, schwarze Portugiesertrauben einladend herunterschauen aus dem dichten Blätterdach, das da und dort blutrot schimmert im Abendrot. – Ganz ein kleines Oberitalien unter amerikanischer Sonne.

Und wie hier, könnte es überall sein in den Weiten dieser endlosen Wälder, die nun schon seit undenkbaren Zeiten in dämmernder Wildheit der Axt harren. Überall schreit das Land nach Menschen, Menschen. –

Freilich, Menschen müssen es schon sein, und keine sauren Tschitschaköpfe, wie man sie dortzulande findet. Arbeitsame italienische oder spanische Bauern mit harten Fäusten und wenig Ansprüchen an das bißchen Leben. Oder – aber das wird ja wohl immer eine Illusion bleiben! – wenn es Schwaben oder Rheinländer wären, oder Pfälzer Weinbauern! Wie würden da gar bald die weißen Häuschen aus den dunklen Obstgärten leuchten, wie würde der Sonnenschein über den Maisfeldern tanzen und Äpfel und Apfelsinen in schönster Eintracht an den murmelnden Bergwassern wachsen. Zu hungern braucht hier keiner, und für bares Geld wäre auch gesorgt, denn drunten in der Ebene, in der nur vier Tagereisen entfernten Stadt Santa Cruz, gibt es viele reiche deutsche Kaufleute, die willig ein tüchtiges Stück Geld hergeben würden für einen ordentlichen Apfel, für eine Flasche Landwein oder gar eine richtiggehende deutsche Kartoffel! Und wenn nun gar – doch nein! Ich komme ins Träumen und Phantasieren. Ich wollte doch von meinem derzeitigen Arbeitgeber, dem Österreicher, erzählen, und der ist ein wesentlich prosaischeres Kapitel.

Drei Tage lang stand ich im Dienste jenes Ehrenmannes, und je mehr ich es überdachte, je mehr wurde mir klar, daß ich nimmermehr einen Heller bekommen würde für meine Bemühungen am Pavillon. Denn »wo nichts ist«, sagt das Sprichwort, »hat der Kaiser das Recht verloren«. Hätte man ihn auf den Kopf gestellt, so wäre sicherlich kein Medio aus seinen Taschen herausgefallen. Überhaupt war er so ziemlich das unglücklichste Geschöpf in ganz Samaipata, und das hatte seine ganz bestimmten Gründe.

»Cherchez la femme!«

Er war eine wandelnde und warnende Illustration zu dem unter den Deutschen Südamerikas so oft erörterten Kapitel: »Seine hiesige Frau.« In einer schwachen Stunde hatte er sich verleiten lassen, eine ortsansässige Bella zu heiraten, zusammen mit einem ungeheuren Anhang von Vettern, Basen, Tanten, cuñados, compadres und was sonst noch zu einem richtigen südamerikanischen Ehestand gehört. Die saßen nun alle von morgens bis abends in seinem Lehmhaus, spielten Karten, aßen dulce con leche und lebten sorglos wie die Lilien auf dem Felde auf Kosten des Gringo. Alle führten das Kommando in seinem Hause. Nur er selbst litt unter einem bedauerlichen Mangel an Autorität. Zu allem Überfluß hielt sie ihn auch noch auf kurzen Rationen. Mittags gab es eine dicke Fariñasuppe, abends noch einmal, und dann hieß es den Schmachtriemen enger ziehen bis zum kommenden Tage. Oftmals wunderte ich mich, wie ein sonst so fescher und aufgeweckter Österreicher sich so weit hatte ducken lassen. Das war wohl mit den Jahren so gekommen. Tropfenweise hatten sie sich Rechte um Rechte angemaßt, ohne daß es ihm selbst zum Bewußtsein gekommen wäre. Sie hatten ihm die Hölle heiß gemacht, ihm, dem einzigen Gringo auf Hunderte von Meilen in der Runde, bis er willenlos sein Schicksal hinnahm als eine gottgewollte Abhängigkeit.

Der Krug geht jedoch so lange zum Wasser, bis er bricht. Am Abend des dritten Tages meiner Anwesenheit fiel es der Señora ein, uns gar nichts zum Nachtessen zu geben. Das war das comble! Irgendein Gevatter feierte heute sein cumpleaños. Da hatte sie das Haus voll Besuch und keine Zeit zu kochen für die Gringos. Schon saßen wir stundenlang auf der Bank vor dem Hause mit knurrendem Magen und knirschenden Zähnen und warteten auf das Belieben der Señora. Es wurde dunkler und immer dunkler. Schon funkelten die Sterne – die großen flimmernden Sterne des Hochlandes – am Nachthimmel. Drinnen rumorten und schwatzten die Geburtstagsgäste. Sie rauchten Zigaretten, sie löffelten das dulce con leche, und kein Mensch dachte an die geduldigen Gringos vor der Türe. In mir begann es zu kochen, und ich war der Ansicht, daß man zur Wahrung der Gringo-Ehre einmal mit Gewalt Remedur schaffen müsse, aber der »Hausherr« seufzte nur resigniert und war fürs Schlafengehen.

Noch waren wir uns nicht schlüssig geworden über die zu ergreifenden Maßnahmen, als eine schwer bepackte Maultierkarawane die Straße entlang getrottet kam unter Führung eines von einem mächtigen Panamahut beschatteten Europäers, den mein »Gastgeber« schon von weitem ausmachte als einen ihm bekannten jungen Deutschen, der im Auftrage einer deutschen Firma in Santa Cruz mit Tuchmustern und dergleichen über Land zog.

»Servus, Landsmann!«

Es gab eine umfangreiche Begrüßung und langes Palaver, das sich bis in die Mitternachtsstunde ausdehnte. Nach Deutschland wanderten die Gedanken und vergaßen darüber für ein paar glückliche Stunden die cuñados und compadres, die drinnen immer lauter lärmten, und das ganze traurige Leben im Lande Bolivien. Am nächsten Morgen in aller Frühe – so sagte der »Musterreiter« – wolle er weiterreisen nach Santa Cruz. Er stelle mir sogar ein Pferd zur Verfügung, wenn ich mit ihm gehen wollte. Für Gesellschaft sei man immer dankbar, denn das Reisen sei im Grunde ein langweiliges Geschäft in diesen Gegenden. Das Angebot kam wie ein Gottesgeschenk. »Ein Königreich für ein Pferd!« Man soll doch auch den Tag nicht vor dem Abend schelten, selbst wenn einmal die Señora die Suppe nicht ausschenkt.

Am nächsten Morgen, als die Hähne verschlafen auf den Bäumen und den Hausdächern krähten und die Schatten der Nacht noch in allen Ecken hockten, machten wir uns auf die Weiterreise.

Die Karawane war inzwischen erheblich angeschwollen. Ein kleiner, etwa zehnjähriger Indianerjunge, der weiß Gott woher geschneit kam, tippelte hinter uns her, ohne daß ihn jemand gefragt hätte, als ob das so sein müsse. Der »Mozo«, der als Führer und Eseltreiber diente, hatte seine Señora mitgebracht, nebst deren drei Monate altem Sprößling, den sie auf ihren Armen, hoch zu Roß, über Berge und Täler durch alle Schluchten und Abgründe des wilden Gebirges, tragen wollte, um ihn der Verwandtschaft in Santa Cruz zu zeigen. Denn Bolivien ist ein merkwürdiges Land. Der Musterreiter machte ein saures Gesicht beim Anblick der Bescherung. Denn mit den Mozos ist es nicht anders wie mit den Stützen, den Fräuleins, den Dienstmädchen und anderen Perlen bei uns zu Hause. Sie sind zerbrechliche Geschöpfe und wollen vorsichtig behandelt sein . . .

In flottem Tempo ging es vorwärts, und als der helle Tag rot und feurig hinter den Buschwäldern im Osten heraufgezogen kam, lag Samaipata schon weit hinter uns.

*   *   *

Wenn man von Samaipata weiterwandert in der Richtung nach Santa Cruz, so kommt man in eine Gegend, die sich in vieler Beziehung unterscheidet von der, die man bisher durchwandert hat. Sie ist wilder, zerklüfteter, romantischer. Nicht als ob das vorher nicht auch schon der Fall gewesen wäre. Schon gleich hinter Cochabamba beginnt sich das hohe Altiplano zu zersplittern in zahllose Bergstöcke und Gebirgszüge. Aber es ist trotz allem noch eine gewisse Regelmäßigkeit in dem Chaos, und man hat an jedem neuen Tage sein Reiseprogramm vorgeschrieben in Gestalt eines hohen schwarzen Bergmassivs, nach dessen Überwindung man sich drunten im jenseitigen Tal an Eiern und Tschitscha gütlich tun kann. Hier aber ist das anders. Alle Ordnung löst sich in ein sinnverwirrendes Durcheinander von Klüften, Schluchten, Bergkegeln und Felswänden auf. Auf und ab führt der Weg, vorbei an schwindelnden Abgründen und wieder hinunter in finstere, dichtbewaldete Täler, in denen die Wildbäche rauschen. Dann steht man wieder ganz plötzlich und unvermittelt vor einer viele hundert Meter hohen Felswand, die man mühsam umgehen muß auf endlosen Umwegen. Die Dornen und Hecken des grauen Buschwaldes liegen hinter uns. Der Pflanzenwuchs wird frischer, üppiger, tropischer mit jedem Tage. Da stehen merkwürdige, wild verwachsene knorrige Bäume, die ihre Äste gespensterhaft über die Straße recken; schlanke Laubbäume mit silberweißen Stämmen und hohe Palmen scharf und schwarz in der sinkenden Sonne. Dicht verwachsen ist das Unterholz mit wuchernden Lianen und allerlei anderen dicken, fleischigen, breitblätterigen Schlingpflanzen.

Blumen schauen aus dem Dickicht; große, helle, leuchtende Blumen in allen Farben des Regenbogens. Es schreit und grunzt und zirpt und quiekt im Dämmerdunkel der Dschungel. Kleine, flinke, buntgefleckte Kolibris schwirren munter von Zweig zu Zweig. Große, häßliche, rabenartige Vögel mit schwarzem, stahlblau schimmerndem Gefieder und riesigen Nasen wiegen sich gravitätisch auf den Ästen, und immer noch zeigt sich anderes Federvieh.

Wald, Wald überall! In Tälern und auf Höhen, in Schluchten und Abgründen, und kaum irgendwo die Spur einer menschlichen Ansiedlung. Wald, Busch und Wasser, das in den Tälern rauscht und kristallhell über die Felsen springt, und über dem allen die Schauer der Wildnis in ihrer drückenden Schwere. – Weit bin ich herumgekommen in einem Leben der Wanderungen und Abenteuer, aber selten nur habe ich ein Land gesehen, so wild, so romantisch und doch so lieblich wie dieses! . . .

So einsam und menschenleer nun auch das umgebende Land ist, so belebt ist die Straße, auf der man wandert. Man merkt es an allen Anzeichen, daß man sich einer Stadt oder doch einer größeren Ansiedlung nähert. Immer von Zeit zu Zeit begegnet man einem größeren Trupp von Maultieren und Packeseln, der langsam und bedächtig seine Straße zieht; hinterher ein finsterer Indianer in rotem Poncho mit langem, schwarzem Haarschopf und tückischen Augen. Gleichmütig trotten sie über die harte, steinige Straße bis zur nächsten Hütte, wo es Tschitscha gibt.

Doch da sind wir glücklich wieder beim »Thema« angelangt! Wer von seinen Erlebnissen in Bolivien berichtet, der kommt in großen Kreisen immer wieder zur Tschitscha zurück. Droben auf dem Altiplano war sie ein rauhes, saures Gebräu von einer glorreich berauschenden Wirkung; hier ist es ein bläulichweißes, widerlich-süßes, milchähnliches Getränk, das durch eine gewisse Unwägbarkeit im Geschmack an Haarpomade erinnert. Mein derzeitiger deutscher Reisegefährte war ein erklärter Liebhaber dieser Tschitscha. Kaum hatten wir eine Hütte hinter uns gelassen, so lechzte er schon wieder nach dem Gewässer in der folgenden, wie er denn überhaupt nur lobende Worte hatte für alle Dinge und Personen dieses »cruzenischen« Landes. Total »verhiesigt« war er bereits, trotzdem er erst vor wenig mehr als Jahresfrist den Staub der Straßen von Berlin-Schöneberg von seinen Füßen geschüttelt hatte.

Am Nachmittag des zweiten Reisetages von Samaipata kamen wir an ein mächtiges schwarzes Bergmassiv, das sich quer zur Marschrichtung erstreckte. – Die berüchtigte cuesta negra. Durch dunkle Wälder arbeiteten wir uns bergauf auf steilen, steinigen Wegen, wo kaum die Maulesel Fuß fassen konnten. Es war später Abend, als wir auf dem Kamme ankamen. Der Mozo war für das Übernachten an Ort und Stelle, zumal dort eine Hütte stand, in der Tschitscha feilgeboten wurde. Aber der deutsche Musterreiter war anderer Ansicht, und so ging es denn wieder hinein in den Buschwald, in dem schon die Nachtschatten spukten. Es wurde dunkler und dunkler; eine finstere, mondlose Nacht. Bald war kein Weg, kein Steg mehr zu sehen. Mühsam tasteten wir uns weiter bergabwärts, zwischen hohen, weißleuchtenden Baumstämmen. Der Mozo hatte das Baby in seine Obhut genommen, und wie er das arme Würmchen glücklich über alle Gefahren hinweglotste, das ist eines der vielen ungelösten Rätsel, die mir das Land Bolivien aufgegeben hat.

Endlich – es mochte wohl schon gegen Mitternacht gewesen sein – gelangten wir in ein enges, von hohen Bergen dicht umschlossenes Tal, wo es auf ebenen Wegen weiterging durch einen majestätischen Hochwald, in dem zahllose Glühwürmchen das Dunkel durchgeisterten. Dann kamen Hütten, Hundegebell und Hähnekrähen. Der Patron der Hütte, wo wir einkehrten, schien nicht eben erbaut über den Besuch der Mahalla, die ihn zur mitternächtigen Stunde überfiel. Eier – so sagte er – habe er nicht vorrätig, und für einen Braten brauchten wir uns den Mund nicht lecker zu machen, denn die Hühner pflegten alle weit drinnen im Busch auf den Bäumen zu nächtigen. Noch standen wir beisammen und berieten über die Sachlage, als eben eine dicke, runde, fette, ganz ungeheuer große Ente des Weges gewatschelt kam. Im Nu hatte der Mozo sie beim Kragen. Im Nu war sie gerupft und geputzt. Schon schmorte sie im Kochtopf. Der Spaß kostete fünfzig Centavos . . .

Die cuesta negra ist gewissermaßen das letzte Aufbäumen des Hochgebirges vor seinem Abfall in die Ebene, die plötzlich durch eine Lichtung im Dickicht tief unten sichtbar wird.

Die Ebene! Das große, unendliche Flachland, das sich unermeßlich ausbreitet über das östliche Bolivien, bis zum Paraguay, nach Brasilien, nach dem wilden Matto Grosso und immer noch weiter! Lange stand ich wie festgewurzelt an der Stelle und mir wurde gar fröhlich und hoffnungsvoll zumute bei dem Anblick. Nicht satt sehen konnte ich mich an dem Bilde. Keine Täler, keine Cuestas, keine steinigen Pfade an steilen Abgründen mehr! Nach all dem Wirrwarr von Berg und Tal, von Schluchten und Klüften mußte es doch ein Kinderspiel sein, über dieses Flachland zu eilen; nach dem Paraguay, nach Brasilien, nach São Paulo, nach Santos – nach Hause! – Wenn ich gewußt hätte!

Noch am selben Tage ging es spät abends Hals über Kopf in Schutt und Geröll auf steil abschüssigen Pfaden hinunter und immer weiter hinunter. Schon standen wir am Rande der Ebene.

Es ist eine andere Welt, in der man nun wandert. Zwar ist auch hier das ewige Einerlei des endlosen Waldes; aber es ist anders. Andere Bäume, andere Palmen, andere Schlinggewächse. Höher, mächtiger, majestätischer, aber zugleich auch finsterer und unheimlicher. Aus dem Dickicht tönt die wilde, ungereimte Musik des Urwaldes. Wie anders ist es doch hier, als in der stillen Feierlichkeit eines deutschen Hochwaldes. Das schreit und grunzt und quiekt und blökt in der Dschungel. Sind's Affen, sind's Vögel, die den Lärm auf dem Gewissen haben? Kenn' sich der Teufel aus in diesem sinnverwirrenden Chaos der Töne!

Da ist ein Vogel – oder ist es ein Affe? – der immer von Zeit zu Zeit ganz plötzlich und unvermittelt seinen Ruf ertönen läßt, der sich anhört wie das Schnarren einer Kuckucksuhr. Da ist ein anderes Wesen – weiß der Kuckuck ob es auf zwei oder vier Beinen oder auf vier Händen läuft – das ab und zu seine Stimme ertönen läßt gleich einer heulenden Dampfsirene; eine schaurige, mißtönende Stimme, die dem Neuling das Blut in den Adern gerinnen läßt. Für einen Augenblick verstummt dann selbst das Brüllen der Affen und das Lärmen der Papageien, um dann mit um so mehr Temperament wieder einzusetzen. Welch seltsame Kostgänger hat doch die Natur! Man möchte sie alle kennen, man möchte alles wissen, und steht doch nur immer wieder vor dem Abgrund seiner eigenen Unwissenheit!

Zuweilen – in Abständen von Leguas – kommt man an Rodungen vorbei, wo unternehmende Kulturpioniere den jungen Boden bebauen. – Primitive Landwirtschaft! Nichts von Düngung, nichts von Fruchtfolge und dergleichen Schikanen! Da werden die größten und dicksten Bäume abgeschlagen. Der Busch wird niedergebrannt und auf Ruß und Asche, zwischen Stummeln und halbverkohlten Baumstämmen auf oberflächlich beackertem Boden der Reis gesät und die Maiskörner gesteckt. Und wie sie wachsen! Gibt es auf der weiten Erde noch einen Boden, der fruchtbarer wäre, wie der dieses cruzenischen Landes? Reis, Mais, Manioka, Bananen wachsen hier im Überfluß. Sie mästen die wunderbarsten Schweine. Sie bauen ihren eigenen Zucker. Der Kaffee wächst wild in den Wäldern. Hühner, Gänse, Enten und anderes Federvieh lungern in Scharen um die Hütten. Ein lächerlich kleiner Flecken Landes genügt hier schon, um eine ansehnliche Familie mit allem Nötigen im Überfluß zu versorgen.

Weiter in der Richtung nach der Stadt Santa Cruz, wo die Farmen schon älter und ausgebauter sind, sind die Apfelsinen zu Hause. Über und über sind die Bäume bedeckt mit den großen, goldgelb schimmernden Früchten. Wunderschöne, kindskopfgroße Früchte liegen achtlos auf der Erde; eine Beute der Schweine. Vor einer Hütte, die um eine Schattierung anspruchsvoller aussah wie die anderen, war ein wahrer Berg von Apfelsinen aufgetürmt. Der Anblick war zu viel für mich, und ich fragte deshalb die alte, verwitterte Doña des Hauses, ob sie mir etwas verkaufen wollte von ihren Schätzen. Verwundert betrachtete sie mich aus einem Augenwinkel wie eine Offenbarung aus einer anderen Welt. Da war einer, der wollte Apfelsinen kaufen!

»Und wieviele wünschen der Caballero?«

»Für einen Medio – fünf Centavos.«

Da schickte sie den kleinen, halbnackten Jungen, der bisher an ihrem Rockschöße gehangen hatte, fort, damit er den Auftrag besorge.

»Apúrate, Manuelito!«

Er verschwand im Hause und erschien bald wieder mit einem großen Korb voll Apfelsinen, die die Señora sorgfältig vor mir aufzählte.

»Dos, quatro, seis . . . quatorce . . .«

»Hören Sie auf!«

Und immer zählte sie noch weiter, unbekümmert um meinen Protest. Als sie bei Nummer fünfundzwanzig angelangt war, war sie am Boden des Korbes angelangt und schickte den Jungen fort, daß er noch mehr hole. Fassungslos schaute ich dem Beginnen zu. Ich kam mir vor wie ein kleiner Junge, der auf der Straße den Leitungshahn aufgedreht hatte und nun das Schließen nicht mehr fertigbringt. Oder wie der Zauberlehrling in dem Gedichte: »Die ich rief, die Geister . . .«

»Aber wie? – was? Für einen Medio möchte ich haben!«

»Como no! Natürlich! Das ist so der Preis. Für einen Medio kann man hier einen ganzen Schweinestall satt bekommen. – Aber Apfelsinen kaufen? Warum tun der Caballero dieses?«

Wohl oder übel mußte ich einen Teil der erstandenen Schätze zurücklassen. Was ich konnte, stopfte ich in mein Bündel und setzte dann befriedigt die Reise fort. Eins war gewiß: Verhungern würde ich nicht im Lande Santa Cruz.

Neugestärkt ging ich weiter.

Der Musterreiter war vorausgeritten mit seiner Karawane, und ich ging allein auf der langen Landstraße. Der hohe Wald war zu einem Busch geworden, der grau und staubig in der grellen Sonne stand. Stellenweise dehnte sich offene Pampa mit Viehherden, die scheu davonrannten. Da und dort stand eine Hütte, die sich mit ihrem Dache aus Palmblättern kaum von der Landschaft abhob. Schnurgerade ging der Weg durch das schattenlose Land. Immer wieder zogen sich quer über die Straße die sumpfigen Wasserpfützen, über denen die Moskitos summten. Eintönig quakten die Frösche in der regungslosen Stille. – Mich fröstelte selbst in der brütenden Hitze dieses tropischen Tages!

Von ferne grüßten die Türme der großen Kathedrale wie ein Märchen aus einer anderen Welt. In der Hitze des heißen Nachmittags waren sie schon aufgetaucht weit draußen am Ende der endlosen Straße, und nun schienen sie noch nicht näher gekommen, obwohl die Nacht schon aus den Wäldern kam und das unsichere Licht der Dämmerung sich wie ein Schleier über die Ferne legte. Weiter und weiter tappte ich durch die sinkende Nacht.

Wie lang sind die Wege in Bolivien!

Bald hatte die Nacht alle Formen und Gestalten verschluckt in ihrem schwarzen Rachen. Immer zahlreicher tauchten hinter den Büschen die niedrigen, mit breiten Palmblättern bedeckten Hütten auf, vor denen die unruhigen Feuer brannten und die dunklen Orangenbäume mit ihren leuchtenden Früchten im zuckenden Scheine der Flammen wie Weihnachtsbäume standen. Melancholisch bellten die Hunde und die Schweine grunzten zufrieden im Dickicht. Nur die Grillen verursachten einen betäubenden Lärm in der lauen Nacht. So ist es. Die Tiere sind stets zufrieden, aber die Menschen und die Grillen finden nirgendwo Ruh.

Schon verzweigte sich die große Landstraße in die Gassen und Gäßchen der Vorstadt, wo hohe Büsche mit leuchtenden Blumen über die Mauern ragten und ein süßer Duft auf der Straße lag. Alles war still und tot. Nur ab und zu sah man eine vorüberhuschende Gestalt im unsicheren Licht der trüben Öllampen. Es war, als ob im nächsten Augenblick ein Nachtwächter mit Horn und Laterne um die Ecke kommen müßte.

»Hört, ihr Herren, und laßt euch sagen – –«

Eine südamerikanische Eigentümlichkeit, die in Santa Cruz noch besonders ausgeprägt erscheint, ist das Kampieren auf der Straße. Jedermann scheint das Stück des Bürgersteigs vor seinem Hause als eine Art Allonge zu seinem Schlafzimmer anzusehen, und so blockieren sie den Weg mit Stühlen und Korbsesseln, auf denen sie im tiefsten Negligé die Schwüle des Abends verträumen.

»Buenas noches, caballeros.«

»Buenas noches« kommt es schläfrig zurück.

Dann starren sie dich an wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Fremde Menschen sind offenbar keine Alltäglichkeit in diesen glücklichen Gefilden.

Wo es nach der Plaza geht?

»Quien sabe?«

Dann folgt ein eifriges Getuschel und Gekicher, derweilen du weiter schreitest durch lange, dunkle Gassen und immer nachdenklicher den Kopf schüttelst. – Eine südamerikanische Stadt ohne Plaza? Das wäre doch das Neueste vom Neuen!

Langsam aber kommt man aus der dämmernden Beschaulichkeit der Vorstadt heraus in das Zentrum. Man sieht wirklich Leute auf der Straße und in den Bolichen an den Ecken wimmelt es geradezu von zwei, drei oder gar noch mehr Personen.

Und auf einmal steht man auf der Plaza; einer stolzen, geräumigen Plaza, wie sie sich die meisten südamerikanischen Städte nur in ihren Träumen leisten können. Kathedrale, Denkmal, stattliche Regierungspaläste, prunkvolle Hotels, eine »Municipalidad« und dicht daneben ein licht- und farbensprühendes Kinotheater. Tom Mix und Charley Chaplin und Baby Daniels und Asta Nielsen am Rande der Wildnis. Denn das gehört sich so. Wozu sind wir auch zivilisiert? Hell schimmert das elektrische Licht durch die Baumkronen. Auf den weiten, getäfelten Wegen wimmelt es von bunten Kleidern und schwarzen Mantillas, von funkelnden Ringen und blitzenden Steinen. Es riecht nach Parfüm. Laut und herausfordernd lärmt die Musik in der lauen, regungslosen Nacht.

»Das ist die Liebe, die dumme Liebe – – –.«

Müde wie ich war, versuchte ich in den umliegenden Hotels und Gasthäusern ein Unterkommen für die Nacht zu finden, aber überall in diesen Zeiten, und ob man auch wanderte an die Enden der Erde, verfolgt einen das Gespenst der Wohnungsnot.

»Pieza? cama?«

»Nada, nada, señor! Ocupado!« »Alles besetzt.«

Und also mußte ich bei Mutter Grün logieren.

Das war nun keineswegs eine neue Erfahrung. Auf allerlei Plätzen hatte ich schon übernachtet in den letzten Tagen und Wochen. Aber es ist doch etwas anderes, wenn einem so etwas passiert inmitten der großen Stadt, wo alle anderen gut bürgerlich in einem Bette schlafen und selbst der Ärmste irgendeine Art von Häuslichkeit sein eigen nennt. Dann erfaßt selbst den abgebrühtesten Ritter der Landstraße ein Gefühl von hoffnungsloser Verlassenheit und die graue Müdigkeit beginnt den Rücken herab zu kriechen wie ein lastendes Gespenst. Mürrisch setzte ich mich auf eine der Bänke neben ein moschusduftendes Liebespärchen und hörte auf die immer gleiche Leier der lärmenden Musik.

»Das ist die Liebe . . .«

Unaufhörlich flutete der Menschenstrom vorüber auf dem breiten Wege rings um die Plaza. Es wurde geliebt, getuschelt und getändelt.

Ach, wie war das widerwärtig!

Langsam begann der Schwarm sich zu verlaufen. Die Musik verstummte, und bald war nichts mehr zu hören als das Zirpen der Grillen über der leeren Plaza. Dröhnend schlug die Turmuhr die zehnte Stunde.

Wie lang war die Nacht!

Halb und halb war ich schon eingeschlafen auf meiner Bank, als im Lichtkreis der Laterne ein Kerl auftauchte, der mir bekannt vorkam. Ganz südamerikanisch war er gekleidet, mit weißem Leinenanzug und buntem Pañuelo, wie es dort die Leute aus dem Volke tragen, aber das spitze Gassenbubengesicht unter der verschossenen Matrosenmütze hatte ich gewiß schon irgendwo einmal gesehen. Der mochte wohl das gleiche von mir denken, denn als er schon vorüber war, drehte er sich plötzlich um.

»Hallo!«

»Que se sirve, señor?«

»Hab' dich mal nicht so! Das habe ich dir doch auf die ganze Länge der Plaza angesehen, daß du gerade von der Küste kommst. – Und gesehen haben wir uns dort unten auch. Vielleicht auf der Plaza Prat in Valparaiso, vielleicht bei Vater Kühne in Callao, vielleicht bei Rost in Antofagasta.«

Langsam begann es mir zu dämmern. In Antofagasta . . .

»Und nun bist du wohl ganz kapores?« fuhr der andere fort, »keinen Centavo? He? – Nein, nur keine Geschichten! Wenn du hier sitzen bleibst, so werden dich die Grillen in den Schlaf singen und morgens wirst du auf dem Polizeihof bei den Vigilanten aufwachen. Tätest besser daran, mit mir zu kommen. Ich habe ein Haus, eine Señora, drei Kinder und allen Zubehör. Da ist immer noch Platz für einen Kollegen.«

Und ehe ich noch recht wußte, wie mir geschah, wanderte ich an der Seite dieses bekannten Unbekannten durch die dunklen Gassen. Enger wurden die Straßen und spärlicher die Beleuchtung, und immer stapften wir noch weiter. »Ja, ja,« meinte mein neugefundener »Kollege«. »Ich weiß, wie es so zugeht im Leben! Ich habe Klinken geputzt und Platten gerissen und Kohldampf geschoben wie nur einer. Dabei muß man viel arbeiten und hat vielen Ärger. Aber nichts arbeiten und doch leben, das ist die Kunst! Und dafür gibt es kein besseres Land als Santa Cruz. Der Kaffee wächst einem in den Mund und die Kinder spielen Fangball mit den Orangen. Eine Señora habe ich mir auch zugelegt, mit drei kleinen Kindern. Die führen das Geschäft, die verdienen das Geld, die kochen das Essen, die flicken meine Kleider, und ich bin wie ein Pascha. So gefällt es mir; und so solltest du es auch machen. Warum der Ärger, warum die Arbeit? Man lebt nur einmal im Leben.«

Während wir noch so sprachen, standen wir vor einem schmutzigen Kaufladen, wo Tuchballen, Sardinenbüchsen, Heringsfässer und alle Früchte des Landes Santa Cruz in bunter Unordnung durcheinander lagen. Durch einen dunklen Hausgang kamen wir in einen Hof, wo mein Gastgeber mir aus Schaffellen ein Lager zurecht machte.

Soweit war es ein ganz erträgliches Nachtquartier. Der wilde Jasmin, der den Brunnen fast überdeckte, erfüllte die Atmosphäre mit einem wunderbar süßen Duft, der sich angenehm mischte mit dem würzigen Geruch einer weißen, geißblattartigen Blüte, die an den Mauern wucherte. Weiß schimmerte das Mondlicht durch das dunkle Laub eines riesengroßen, mit Früchten schwer beladenen Orangenbaumes. Sonst aber war es nicht gerade die Umwelt, die zum Schlafen einlud. – Ein Hof? Es war eine Menagerie! Da blökten die Schafe, da meckerten die Ziegen, da grunzten die Schweine, da summten die Moskitos. Irgendein unbeschreibliches Tier, halb Hund, halb Wolf, lag knurrend in der Mitte des Hofes, wie der Zerberus vor der Hölle, und verwandte keinen Blick seiner funkelnden Raubtieraugen von dem verdächtigen Fremdling. Bei der geringsten Bewegung kam es knurrend herangeschossen. Ich kam mir vor wie Alice im Wunderland. Lange wälzte ich mich hin und her auf dem schmutzigen Schaffell, ohne auch nur eine Minute Schlaf zu finden in der endlosen Nacht. Schließlich kletterte ich über die Mauer des Hinterhofes hinweg in eine enge, übelriechende Gasse, als eben der erste blasse Schimmer des hereinbrechenden Tages über die flachen Hausdächer gekrochen kam.

Während des ganzen Morgens lief ich ziellos umher in der Hitze der heißen Straßen und besah mir eingehend die Stadt. Und das war schon der Mühe wert. Wer einmal sich zurückversetzen möchte in die Zeiten von Anno dazumal, da noch keine dampf- und benzinschnaubenden Tiere die beschauliche Ruhe unserer Urgroßväter störten, der komme nach Santa Cruz de la Sierra. Nichts von Autos, nichts von Eisenbahnen. Nur Packesel und Maultiere und schwerfällige Ochsenkarren mit riesengroßen Wagenrädern, die mit eintönig singendem Geräusch wie Mühlsteine durch den tiefen Sand der Straßen pflügen. An allen Straßenkreuzungen sind starke Pfähle quer über die Straße eingerammt, damit der Fußgänger sich darauf von einem Bürgersteig zum anderen balancieren kann, falls in der Regenzeit die Straßen unter Wasser stehen. Still ist es hier am Morgen und Abend und in der Mittagshitze regt sich kein Mensch von der Stelle. Es ist hier offenbar ein Platz, wo sie spät aufstehen und früh schlafen gehen und obendrein noch lange Siesta schlafen.

Und doch hat auch diese Stadt der anspruchslosen Beschaulichkeit schon einmal eine große Zeit erlebt. Das war vor etwa zehn bis fünfzehn Jahren, als hier der Gummi König war. Da rollten die Ochsenwagen bei Tag und Nacht in endlosen Reihen durch die Straßen, da lärmten die »Gomeros« und sonst noch allerlei abenteuerndes Volk aus aller Herren Ländern in den Wirtschaften und Tanzlokalen, und die goldenen Pfundstücke rollten über die Ladentische, wie anderwärts die Pfennige. Damals – da war noch etwas zu holen! Aber es ist nun einmal das Geschick von uns Nachgeborenen, daß wir überall um eine Nasenlänge zu spät kommen. Die Gummikonjunktur ist längst vorüber, seitdem der Wettbewerb der großen malaiischen Plantagen den Preis auf einen Tiefstand heruntergedrückt hat, der die Unkosten für das planlose Sammeln in den bolivianischen und brasilianischen Urwäldern nicht mehr lohnt. Schnell wie es gekommen, war es auch wieder vorbei mit dem wilden Leben. Die Raddampfer rosten in den Flußhäfen des Rio Beni, die große Straße nach Paraguay, die noch vor wenigen Jahren vom Lärm der Karawanen widerhallte, liegt still und verödet da, und alles ist wieder in die altgewohnte schläfrige Atmosphäre zurückgesunken, als ob es nie eine Gummikonjunktur gegeben. Eine Welt für sich, gleich einer Insel im Meere; eine Oase in der endlosen Waldwüste; Hunderte von Kilometern von dem äußersten Punkte der letzten Eisenbahnlinie.

Hier ist alles anders wie anderswo. Jede Stadt, und sei sie die sonderbarste, hat irgendwo ein Gegenstück auf dieser Erde. Aber Santa Cruz de la Sierra hat keines. Hier gibt es eine Universität und einen Bischof, hier gibt es ein Postamt, in dem man sogar zweimal in der Woche Briefmarken bekommen kann, und eine Telegraphenleitung, die zuweilen funktioniert, wenn nicht eben die wilden Ochsen in der Pampa ihr Mütchen daran gekühlt haben. Hier entwickelt sich allabendlich auf der Plaza bei schmelzender Musik ein mondänes Treiben von der letzten, beziehungsweise vorletzten Eleganz, und dennoch gibt es kein Straßenpflaster, an Autos gar nicht zu denken. Ja, nicht einmal eine Wasserleitung ist vorhanden. Auch das Graben von Brunnen ist schwierig und kostspielig in diesem sandigen Gelände, und also ist man auf das Regenwasser angewiesen, das in Zisternen gesammelt wird. In dieser Stadt, die von den Früchten der Tropen nur so überquillt, ist seltsamerweise das Trinkwasser ein Luxusartikel, der von Straßenhändlern verkauft und teuer bezahlt wird.

Auch Santa Cruz hat seine Calle Florida. Sie ist nicht so elegant wie jene berühmte Straße in Buenos Aires, aber sie ist mindestens ebenso malerisch. Man schlendert über den hohen, mit Ziegelsteinen gepflasterten Gehsteig und schaut hinunter auf das Gewimmel in der Straße, die zu beiden Seiten überfüllt ist mit den Schätzen des Landes Santa Cruz. Orangen sind zwar nicht mehr ganz so billig wie draußen, aber dennoch erstand ich bei einer dicken Señora so viele für einen Medio, daß ich mir ein laufendes Konto einrichten konnte, von dem ich nach Bedarf abhob. Und neben den Orangen liegen Bananen, Mangos, Chirimoyas, Ananas und noch viele andere Früchte, für die meine Kenntnisse nicht ausreichen.

In der Straße ist es immer lebendig von seltsam fremdartigen und manchmal wildromantischen Gestalten. Stolze Indianer mit hohen Hüten und grelleuchtenden Ponchos, gebückte Cholos, die ihr ganzes Hab und Gut in einem Taschentuche mit sich tragen, und dann wieder unternehmend aussehende Gauchos und bunt aufgeputzte Arrieros auf wilden Pferden. In einem fort ist es ein Kommen und Gehen von Wagenzügen und von Maultierkarawanen, die schellenklingelnd vorüberziehen. Und überall flattern im Winde die weißen Fahnen, die es lockend verkünden: »Hay chicha!« Es ist alles wie ein Kapitel aus Tausendundeiner Nacht.

Es ist eine angenehme Eigenschaft der Hausdächer von Santa Cruz, daß sie über den ganzen Gehsteig hinwegreichen und einem so Gelegenheit geben, die Auslagen der Geschäfte in schattiger Bequemlichkeit zu betrachten. Alles, was ein zivilisiertes Herz nur wünschen mag, ist hier vertreten, von Stiefeln und Tuchballen bis zum feinsten Parfüm und den edelsten Weinen. Und alles das, bis zur letzten Fensterscheibe, unter Mühen und Gefahren, durch Sümpfe und Urwälder, über himmelhohe Berge auf schwindligen Wegen auf dem Rücken der Maultiere hierher geschafft. Man muß sich wundern, wie das alles bezahlt wird, seitdem der Gummi nicht mehr rentiert, denn, reich wie das Land Santa Cruz ist, so hat man doch in den Jahrhunderten europäischer Besetzung kaum einen Anfang zur Ausbeutung seiner Bodenschätze gemacht. In dem Lande vom doppelten Umfang des Deutschen Reiches gibt es nur wenige Dampfmaschinen. Ackerbau wird nur im kleinen betrieben für den eigenen Gebrauch der Ansiedler. Im übrigen ist alles wilder Urwald und endlose Pampa, auf der das wilde Rindvieh sich zu Hunderttausenden herumtreibt. Das einzige Ausfuhrprodukt ist der auf den Zuckerplantagen gewonnene Alkohol, der in Blechbüchsen gefüllt und von Mauleseln nach Cochabamba geschafft wird.

Die Mehrzahl der Bewohner dieses Landes sind keine Indianer, sondern reinblütige Spanier, die sich etwas auf ihre Rasse zugute tun. »Cruceños« nennen sie sich und fühlen sich als solche in erster Linie und nicht als Bolivianer. Die Töchter dieses Landes, die »Cruceñas«, gelten auch im übrigen Bolivien als besondere Schönheiten. – Nun ja, über den Geschmack läßt sich nicht streiten. Auf alle Fälle sind sie eine problematische Rasse, über deren endgültige politische Zugehörigkeit das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Wahrscheinlich werden sie einmal dem Staate zufallen, der ihnen die erste Eisenbahn baut, denn davon hängt alles ab. Darauf ist auch die nicht wegzuleugnende Trägheit der Bewohner zurückzuführen. Denn was nützt aller Fleiß und aller Unternehmungsgeist, wenn er immer wieder an der Klippe der schlechten Verkehrsverhältnisse zerschellt? Reichtum für alle könnte hier wie ein artesischer Brunnen in der verdurstenden Wüste aufspringen, wenn – ja wenn –

Noch nie habe ich soviel von Eisenbahnen reden hören wie dort in der Waldwüste, fern von der Eisenbahn. In allen Häusern, allen Wirtschaften reden sie nur Eisenbahn. So haben es schon ihre Väter und Großväter gehalten und so werden es wohl auch noch ihre Enkel tun, es sei denn, daß Mister John Rockefeller oder sonst ein nordamerikanischer Petroleumkönig sich dafür interessiere. Und das Thermometer solcher Hoffnungen war jetzt gerade wieder zur Siedehitze gestiegen, seitdem der amerikanische Botschafter in eigener Person in die Gegend gekommen war.

Vorerst aber ist der ganze Handel jenes weltabgeschiedenen Landes eine Domäne der Deutschen. Als Deutscher fühlt man sich heimatlich berührt von den zahlreichen Müller, Schulze und so weiter, die auf den Firmenschildern stehen. Eine einzige deutsche Firma – das Haus Zeller & Villinger – besitzt mehr als eine Million Hektar Land mit zahlreichen Zuckerplantagen, Reismühlen und Alkoholfabriken. »Deutsch« und »reich« sind in jener Gegend noch gleichbedeutende Begriffe. Ziemlich groß ist auch die Zahl der deutschen Handwerker, die im Lauf der Zeit über das Gebirge »gewalzt« kamen und es dort zu Wohlstand und Ansehen brachten.

So fand auch ich verschiedentlich einträgliche Arbeit, sodaß ich mir schon nach wenigen Wochen einen tüchtigen Reisebatzen verdient hatte. Eines Tages machte ich die Bekanntschaft eines ehrsamen Schneidermeisters. Er war entschieden der angesehenste und eleganteste Künstler am Platze und baute Gesellschaftsanzüge für die Advokaten und Uniformen für die Offiziere, ganz nach Vorschrift der Potsdamer Wachtparade. »Sastreria Alemana« stand auf dem Schilde und bis auf die Straße hinaus drang das Gemauschel, bald auf schwäbisch, bald auf jiddisch. – »Was moinet Sie! I bin do nit vo Böblingen!« – »Werd ich Ihne mache a äußerster Preis! Solle Sie habe kulante Konditione!«

Nur der Wissenschaft halber ging ich hinein, um einen Knopf zu kaufen. »Ha no, das ischt a so a Sach,« meinte der kleine Schwab. Dann holte er aus dem Ladentisch eine Flasche hervor, die offenbar für derartige Zwecke bereit lag, und füllte für jeden ein großes Glas mit dem starken Zuckerrohrschnaps. Überdem kam seine Frau herein. »Jetzt kann i nimmer!« sagte sie, indem sie die nassen Hände an der Schürze abwischte. Ich sollte heute Mittag dableiben und ihnen etwas erzählen von Reutlingen, Metzingen, Betzingen und so weiter. Und sie hätten heute Spätzle zum Mittagessen.

Ja, das brauchte sie mir nicht zweimal zu sagen!

Der Mann aus Galizien, der sich bisher im Hintergrunde gehalten und den strittigen Tuchballen gestreichelt hatte, mischte sich nun auch ins Gespräch.

»Und woher mag der Herr nu kommen?«

»Von Cochabamba.«

»Cochabamba! A feiner Platz! A nobler Platz! Besonders für die Tuchbranche! – Und wo werden Sie jetzt hingehen?«

»Nach Brasilien.«

Eine Weile versank er in tiefes Nachdenken. »So, so – ja, ja – un derf mer frage: warum reist der Herr nach Brasilien?«

Darauf konnte ich nun keine genügende Antwort geben, denn wenn ich es mir genau überlegte, so wußte ich es selbst nicht recht. Der Mann aus Galizien schien auch gar keine Antwort zu erwarten. Leise nur schüttelte er die pechschwarzen Haare.

»Sind Sie nicht der einzige, der ist gegangen nach Brasilien oder gekommen von da. Sind Sie aber der einzige, wo ist gekommen allein. Immer sind sie drei oder vier compañeros, immer sind sie daitsche Leut und nie können sie sagen, warum sie sind unterwegs auf der Straße. – Gott, was sind for Menschen die daitsche Leut!«

Da ich für den Augenblick nichts Passendes darauf zu antworten wußte, hüllte ich mich eine Weile in nachdenkliches Schweigen, während der andere weiter argumentierte mit der Beredsamkeit eines alttestamentlichen Heiligen.

Santa Cruz! Das sei das einzig wahre Land der Zukunft. Mit dem Gummi sei es ja nichts mehr heutzutage. Um so schlimmer für uns alle. Aber nun fange es mit dem Petroleum an. Nun kommen die Amerikaner. Nun kommt die Eisenbahn. Dagegen Brasilien! Nur die Dummen gehen nach Brasilien. – »Werde Sie komme durch einen großen Wald voll Tiger und Klapperschlangen. Werde Sie sehen Menschenfresser. Werde Sie verdürsten in den Sandstrecken. Wird jetzt kommen die Regenzeit, und wenn Sie nicht haben a Tier für zum Tragen durch die Sümpfe, werde Sie nicht komme ans andere Ende. – Werd' ich Ihne verkäfe a Ochs.«

Auf dieser Höhe des Gesprächs kam ein Kunde herein und lenkte die Unterhaltung auf ein anderes Gebiet. Aber es hatte schon seine Richtigkeit mit den Spätzle. Wohl gesättigt und vollauf befriedigt mit der Welt und den Menschen wanderte ich am Nachmittag durch die heißen Straßen. Es war ja alles so schön und gut. Der Himmel hing voller Abenteuer, und was er mir da erzählte von Tigern und Klapperschlangen – ja, hätte er von Autos und Eisenbahnen berichtet! Dann vielleicht! Vielleicht hätte ich es mir noch einmal überlegt. Ein Reittier mußte ich allerdings haben für die lange Reise. Das war klar. Und also machte ich mich auf die Suche nach dem mir so bereitwillig angebotenen Ochsen.

Da stand er in einem Korral mitten unter anderen Ochsen, Eseln und sonstigen Reit- und Lasttieren und mitten drin mein Freund von heute morgen. »Werd' ich Ihnen mache a Freundschaftspreis,« sagte er zu mir, »werd' ich Ihnen verkäfe der Ochs mit der Montura für fünfzig Bolivianos. So gut wie geschenkt.«

Das war in der Tat billig. Schnell wurden wir handelseinig und ich zog stolz davon mit meinem Schatze.

Wer aber Vieh besitzt, der ist auch der Sklave seines Viehes. Alles drehte sich jetzt nur noch um den Ochsen und sein Wohlbefinden. Für ihn mußte ich fortan auch noch Pension bezahlen in dem Tambo. Er würde mich – ah, das sah ich schon kommen! – er würde mich mit seinem gesegneten Appetit um Hab und Gut bringen, wenn ich mich nicht bald wieder auf die Strümpfe machte nach den wilden Gegenden, wo man nichts von Bolivianos und Centavos weiß und Menschen und Ochsen wie die Lilien auf dem Felde leben. Ich beschloß also, schon am nächsten Tage weiterzureisen, obwohl mir die Müdigkeit noch wie Blei in allen Gliedern lag.

Eine Hoffärtigkeit kommt selten allein. Da ich mir schon einen Ochsen als Tragtier geleistet hatte, geizte ich am nächsten Tage auch nicht mit der Anschaffung von allerlei Dingen, von denen mir eingefallen war, daß sie mir auf der Reise von Nutzen sein könnten. Dann machten wir uns auf den Weg – ich und der Ochs – obwohl über den vielen Geschäften der Tag sich schon zu neigen begann. Ordentlich reich kam ich mir vor beim Anblick meiner Schätze. Leichtsinnig war mir zumute, und allerlei Lieder summten mir im Kopfe.

»Wenn wir marschieren
Zum deutschen Tor hinaus –«

Ich war noch nicht weit gekommen, als plötzlich eine laute Stimme hinter mir ertönte:

»Herr Landsmann! Herr Landsmann!«

Es war niemand anders als mein israelitischer Geschäftsfreund von gestern. Ehe ich wußte wie mir geschah, hatte er mich schon mitsamt dem Ochsen in den Hinterhof eines schmutzigen Hauses gelotst, wo Hunde, Katzen und kleine Kinder unordentlich durcheinandersaßen und große schwarze Vögel in den Feigenbäumen nisteten. Eine alte, zahnlose Großmutter, die neben einem bunten Papagei unter der Laube saß, war gerade beim Kaffeekochen. Nun mußte sie noch eine Extraportion kochen. Sie mußte Eier herbeischaffen, Beefsteaks braten und zwischen Tuchballen, Nähmaschinen, Kinderwagen und Taschenspiegeln hielten wir eine glorreiche Mahlzeit. »Das wird so sein Ihre Henkersmahlzeit,« meinte der »Landsmann«, »dort drinnen im Walde werden Sie nur noch leben von gebratenen Fröschen und allerlei Wurzeln. Gott, was for a Sach!«

Derweilen füllte er meine Tasche mit Orangen und zum Abschied schenkte er mir noch eine große Flasche Zuckerrohrschnaps.

Bald lagen die letzten Häuser der Stadt schon hinter mir. Schnurgerade zog sich die breite Straße nach dem Rio Grande, über dem finstere Gewitter grollten. Die Hitze tanzte über den Staubwirbeln, die der Abendwind vor sich her fegte. Immer wieder betrachtete ich meine Herrlichkeiten: den Proviant, die Schlafdecken, die neuen Kochgeschirre und den Ochsen, der schwer und würdevoll vor mir hertrottete. Ja, nun konnte es mir nicht fehlen! Dessen war ich gewiß.

Gleich hinter den letzten Häusern der Stadt hörte auch das bißchen Zivilisation wieder auf. Die Straße wurde immer breiter und verlor sich schließlich in einem Irrgarten von Wagenspuren, die sich weithin nach allen Richtungen zogen. Denn in jenem Lande fährt jeder seine eigene Straße, und die Ochsen gehen manchmal wunderliche Wege. Nach allen Richtungen erstreckte sich das Land flach wie ein Teller, eine völlig baumlose Pampa, über der der Wind melancholisch summte. Gegen Norden war der Himmel gerötet von einem aufflackernden Steppenbrande, aber im Osten, in der Richtung nach dem Flusse, stand – wie schon gesagt – ein grollendes Gewitter, das mehr wie alles andere zur Eile mahnte, denn wenn dort drüben im großen Walde erst einmal die Regenzeit ausgebrochen war – so hatte man mir erzählt –, war überhaupt kein Durchkommen mehr.

Die kurze Dämmerung war schnell vorbei, und bald war es so dunkel, daß man Weg und Steg nicht mehr erkannte und ich alles weitere der besseren Einsicht des Ochsen überließ, der dann auch sicher und unverzagt drauflos stampfte, unbekümmert um die Herden von halbwilden Kühen und Pferden, die ab und zu mit großem Getöse aus dem Dunkel aufsprangen. Nach einer Weile kam ich in einen dicken Buschwald. Entsetzlich schwül und drückend war hier die Luft. Der Regen fiel in dicken Tropfen. Bald schüttete es wie mit Kübeln. Ein richtiges Tropengewitter. Unaufhörlich grollten die Donner. Überall schlugen die Blitze in den Busch mit betäubenden Schlägen. Solche Blitze hatte ich noch nie gesehen. Sie zerrissen die Dunkelheit in allen Richtungen, sie tanzten am Himmel wie Feuerräder. In Gedankenschnelle folgten sie aufeinander und beleuchteten mit grellweißem Licht die Straße, die im Nu zu einem rauschenden Bach geworden war. Es war als ob ein Dutzend Gewitter sich hier ein Stelldichein gegeben hätte.

Der einzige, der die Ruhe nicht verlor in dem Hexensabbat, war der Ochse. Unverdrossen tappte er weiter durch Schlamm und Wasser: Nur zuweilen schaute er sich um mit großen, und wie mir schien, vorwurfsvollen Augen. Es soll ja zuweilen vorkommen, daß die Ochsen klüger sind wie die Menschen. –

Das Gewitter ging in einen hartnäckigen Regen über, der erst gegen Morgen nachließ. Alles in allem war es eine recht unerfreuliche Nacht, und ich war froh, wie endlich das graue Tageslicht über dem Walde dämmerte, der nun allerdings kein Busch mehr war, sondern ein majestätischer Hochwald, aus dessen Dschungel die Feuchtigkeit dampfend in dicken Wolken aufstieg. Ich wunderte mich, wo ich hingeraten wäre in der Dunkelheit, als ich plötzlich einen anheimelnden Hahnenschrei vernahm. Nun antwortete es von allen Seiten mit Flügelschlagen und Hähnekrähen. Hunde fingen an zu bellen. Schon sah man die Dächer der Hütten hinter dichten Bananenhainen. Unversehens stand ich vor einer großen Hütte, die nur aus vier Pfählen und einem Dach aus Palmblättern bestand. Unter dem Dach brannte ein Feuer, um das sich eine mindestens zwanzigköpfige Familie in paradiesischer Nacktheit gruppierte. Ein grauer Papagei auf einer Stange begrüßte mich mit lautem Geschrei. Das machte die anderen aufmerksam. Sofort standen sie alle auf und räumten mir den Ehrenplatz ein. Jeder begrüßte mich mit einem feierlichen »Buenos dias,« jeder gab mir besonders die Hand, und das war kein kleines Geschäft bei der großen Familie. Dann setzten sie sich wieder alle in den Kreis und fingen an mich auszuhorchen nach allen Regeln der Kunst.

Ja, sagten sie, das sei die richtige Straße nach dem Rio Grande. Es sei nur noch eine Legua bis zum Fluß. – Aber was ich dort wollte? Durch den Wald wollte ich nach Osten.

»Durch den Wald?« riefen alle im höchsten Diskant des Erstaunens.

»Warum denn nicht?«

»Muchos bárbaros!« antworteten sie wie aus einem Munde. Das war ein Lamento, das ich nachher noch oft zu hören bekam, so daß ich schließlich nicht mehr viel darauf gab. Nun aber, wo ich es zum erstenmal hörte, machte es doch Eindruck, zumal man mir in Santa Cruz schon so ähnliches erzählt hatte.

»Wilde?« fragte ich neugierig.

»Aber gewiß, Caballero!« antwortete der Hausvater, ein alter, gebrechlicher Mann mit dünnem weißen Bart und noch dünnerer Stimme, »dort drüben ist ein unheiliges Land. Es gibt dort nur Schlangen und Jaguare. Und wo es Menschen gibt, da sind es nur solche, die nicht an die Heiligen und die Hostie glauben. Die sind schlimmer wie die Schlangen. Sie schießen mit vergifteten Pfeilen und fressen ihre Opfer auf mit Haut und Haaren, so daß nicht einmal ein Knochen übrig bleibt für ein christliches Begräbnis. – Ah muchos bárbaros!«

Und wieder stimmten alle unisono in den Klageruf ein, den ich später noch so oft zu hören bekam:

»Muchos, muchos bárbaros!«

Ich aber packte meinen Ochsen und ging mit großen Schritten in den dampfenden Morgen hinaus. Ich hatte Lust, mir diese Wilden aus der Nähe zu betrachten.

 


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