Kurt Faber
Tage und Nächte in Urwald und Sierra
Kurt Faber

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Länder der Tschitscha

Primitive Eisenbahnfahrt. – Don Alonso wird poetisch. – Einkehr bei Doña Theophila. – Ein mageres Nachtmahl. – Marsch in der Mondnacht. – Nächtliches Abenteuer. – Die Orgie in der Lehmhütte. – Alpine Landschaft. – Ich gelange in den Besitz eines Geldsacks. – Schwierige Handelsgeschäfte. – Pobre angelito! – Das große Tschitschafest. – Indianische Musik. – Nachtlager auf dem Musikpavillon. – Ich werde zum Compadre ernannt. – Eilige Flucht. – Hay chicha!

Von allen bolivianischen Städten ist Cochabamba die schönste. Zumal der Reisende, der eben erst von dem unwirtlichen Altiplano herunterkommt, glaubt sich in ein Paradies versetzt, wenn er unversehens in diese Umwelt von wogenden Feldern und üppigen Obstgärten kommt, umgeben von hohen Bergen, die blau in der Ferne verdämmern. In vieler Beziehung wird man an Arequipa erinnert. Beide Städte liegen auf der gleichen Meereshöhe von zirka fünfundzwanzighundert Metern und haben beide die intensive Sonne und die frische Bergluft, die immer noch dicht genug ist, um einen vor der Puna zu bewahren, die in La Paz das Leben so oft zur Qual macht. Die Eisenbahn nach Cochabamba besteht seit wenigen Jahren, aber trotz dieses ziemlich problematischen Anschlusses an die große Welt und ihren Verkehr hat die Stadt noch heute etwas von der verträumten, altspanischen Atmosphäre, die sich in so schöner Reinheit – und tausendmal besser als im Mutterlande – auf die Plätze vererbt hat, die fern von Autos und Eisenbahnen, im innersten Südamerika ihr beschauliches Dasein verträumen. Kleine Häuser und große Kathedralen. Enge, stille Gassen mit buckligem Pflaster, über das eben eine Eselkarawane klappert, oder der müde Gaul eines Fruchthändlers, der seine Ware mit weinender Stimme aussingt. Und stille Häuser und übernächtige Menschen im tiefsten Negligé. Und brütende Sonne und brennende Hitze, und über allem ein tiefblauer Himmel von fleckenloser Reinheit.

Gerade einen Tag brauchte ich, um die Wunder dieser fremden Stadt in Augenschein zu nehmen. Dann machte ich mich auf die Weiterreise. Es gibt Leute, denen die Ruhe Unruhe und die Unruhe Erholung ist. Und ich glaube, ich gehöre auch dazu.

Cochabamba liegt in einem großen, breit ausholenden Tal, durch das sich auf sechzig Kilometer Länge, in der Richtung nach Santa Cruz, eine Schmalspurbahn erstreckt. Das ist nicht eben weit, aber »every little bit helps« heißt es in dem amerikanischen Liede, und also vertraue ich mich dieser mehr als fragwürdigen Fahrgelegenheit an. Sie ist in der Tat das letzte Wort an Primitivität einer Eisenbahn. Zur Personenbeförderung dienen offene Flachwagen, wo dunkelhäutige Indianer dicht aneinandergedrängt auf rohgezimmerten Bänken hocken im Vertrauen, daß der Herr nicht regnen läßt auf die Gerechten. Sollte es trotzdem regnen, so findet man sich eben in sein Schicksal in Erwartung der lieben Sonne, die doch schließlich einmal wieder hervorkommen muß. Das umgebende Land, das jetzt noch kahl und winterlich dalag, machte einen lieblichen Eindruck nach den dürren Wüsten und den grellen Salzseen auf dem Altiplano. Überall sah man Häuser und Marktflecken, und die längs der Bahnlinie führende Straße war lebendig mit Menschen. Auffällig wirkte es, daß jeder ein oder mehrere Ferkel vor sich her trieb. Denn in jenem Lande führen die Menschen ihre Schweine spazieren wie anderwärts die Hunde.

Gegen Mittag kamen wir in dem Dorf Arami, dem Endpunkt der Bahnlinie, an. Von hier aus mußte es unerbittlich auf Schusters Rappen weitergehen, und damit man gleich einen richtigen Begriff bekommt von dem, was einem bevorsteht, zieht sich hier ein mühseliger Berghang quer zu der Marschrichtung nach Santa Cruz. Mißmutig betrachtete ich mir die Bescherung, denn bisher hatte ich stets geglaubt, daß der Weg von hier so langsam bergab führe, bis man allmählich ins Land der Palmen und Bananen komme.

Hier also begann der lange Weg nach dem Rio Paraguay. Er ist tausend und einige Kilometer lang, und von dem, was dazwischen liegt, hatte ich nur eine sehr unbestimmte Ahnung. Viel mehr als eine heulende Wildnis konnte es nicht sein. Aber das eben war das Schöne. Ich schulterte mein Bündel und machte mich auf den Weg. Es war um die Mittagsstunde, und der steinige Berghang glühte wie ein Backofen in der Sonne. Aber ich sah keine Sonne und spürte keine Hitze. Ich dachte nur an die zu fressenden Kilometer, ich sah nur das Abenteuer, das gaukelnd über den Bergen stand. Stundenlang stieg ich weiter an dem Bergrücken, der wohl tausend Meter über der Talsohle stand und eine weite Aussicht eröffnete auf das umgebende Land. Eine Weile mußte ich stehen bleiben, um den Anblick zu genießen, während Land und Himmel immer feuriger glühten in den Farben des Abends.

»O Lust vom Berg zu schauen
Weit über Wald und Strom,
Hoch über sich den blauen
Tiefklaren Himmelsdom.«

Die Häuser und Kirchen der Dörfer standen winzig klein, wie Spielzeuge in der Ebene und immer noch ging es bergauf ohne Unterlaß. Nach einer Weile überholte ich einen alten Indianer, der, wie ein biblischer Heiliger, in gemütlicher Beschaulichkeit seinen Esel vor sich her trieb. Er schien offenbar erfreut über die Reisegesellschaft und unterhielt mich im Gehen in einer Sprache, bei der das Spanisch sich wie Kitschua anhörte und das Kitschua einem spanisch vorkam. Immerhin konnte ich ausmachen, daß sein Gespräch sich um die verschiedenen Qualitäten der in den einzelnen Gegenden des Landes gebrauten Tschitscha drehte. Spät am Nachmittag hatten wir die Höhe erreicht, wo mein Reisegefährte, der offenbar ein Naturschwärmer war, sich auf einen Stein setzte und lange und andächtig dem Spiel der Farben im brechenden Lichte des Abends zusah. Es war in der Tat ein Schauspiel wert des Genießens. Tief unten in der Talsohle lagen schon die Schatten der Nacht, und ringsum auf den hohen Bergspitzen, die sich vom dunkelblauen Abendhimmel abhoben, da glühte und funkelte es in feurigem Rot und leuchtendem Blau.

Nachdem wir eine Weile dagesessen und gedankenlos in die untergehende Sonne geschaut hatten, setzten wir unseren Weg fort in das weite Land, das eben noch von den letzten Sonnenstrahlen berührt wurde.

Eigentlich hatte ich es mir anders vorgestellt. Ein wenig romantischer und lustiger, mit wehenden Palmen und bunten Schmetterlingen, direkt hinter dem hohen Berge, der überhaupt nur da stand als Schutz gegen Wind und Wetter der Hochebene, damit die Jaguare, von denen ich träumte, keine nassen Füße bekamen. Aber ach, es ist etwas Grausames um die Gabe der Phantasie! Hier war nichts zu sehen als dürre, graubraune Hochebene unter dem weiten Himmel. Nirgendwo war ein Lama zu sehen und von Menschen und ihren Spuren war nichts zu bemerken als ein paar Lehmhütten in der offenen Pampa und irgendwo ein roter Farbenklecks, der sich als ein Indianer entpuppte hinter einem vorsündflutlichen hölzernen Pflug, der kaum den Boden ritzte. Don Alonso – so hieß der Indianer, der mir Gesellschaft leistete – strahlte über das ganze Gesicht, als er die Hütten bemerkte. Dort unten wohne Doña Theophila, seine Comadre, die die beste Tschitscha im ganzen Lande braue. Auch sonst verstehe sie sich aufs Kochen und für ein Nachtquartier wolle er schon sorgen. Die Aussicht auf solche Genüsse beflügelte unsere Schritte. Verlockend winkte die kleine weiße Fahne aus dem Fenster, die es weithin verkündete:

»Hay chicha!«

Es war dunkle Nacht, als wir vor der Hütte anlangten, wo uns ein halbes Dutzend Wolfshunde einen ungnädigen Empfang bereiteten. Und die Señora war auch nicht viel gnädiger wie ihre Hunde. Erst auf längeres Zureden meines Reisegefährten hatte sie ein Einsehen und lud uns in das Innere der Hütte, das aus kahlen Lehmwänden und einem Fußboden aus gestampftem Lehm bestand. Das Dach war eine Illusion, durch die der Mond hindurchschien. Und es war gut, daß dem so war, denn so hatte wenigstens der dicke, beißende Rauch einen Weg, durch den er hindurchschlüpfen konnte. Das einzige Mobiliar im Hause war ein mächtig großer Tschitschakessel. Vor diesem saßen die beiden ponchoumhüllten Gestalten und tranken immer ein Glas um das andere und unterhielten sich dazu in ihrer sonderbaren Kitschuasprache, derweilen der flackernde Schein des Feuers auf ihren kupferbraunen Gesichtern spielte. Und dann tranken sie immer noch mehr Tschitscha, denn die ist ihnen Leben und Inhalt, und ohne sie können sie nicht auskommen, so wenig wie ein Böblinger Bauer ohne Most. Nachdem ich es eine Stunde lang mitangesehen hatte, wurde ich ungeduldig und fragte nach Kost und Logis. »Hay chicha!« antworteten sie wie aus einem Munde. Das empfand ich als die grimmigste aller Verhöhnungen. Seit dem frühen Morgen hatte ich nichts mehr gegessen und mein Magen knurrte wie draußen die Wolfshunde. Nur um mich loszuwerden, nannten sie mir die Adresse eines Gasthauses, das eine Viertellegua weiter ostwärts am Wege liegen sollte. Natürlich glaubte ich alles aufs Wort. Ich nahm mein Bündel und ging in die Nacht hinaus, die still und tot und geisterhaft weiß unter dem frostigen Mondlicht lag.

Aber der Weg war länger, als man mir gesagt hatte. Kilometer auf Kilometer ging vorbei. Aus der Viertellegua wurde eine ganze und noch immer war keine menschliche Behausung zu sehen in der weiten Runde. Ich merkte den Betrug und grämte mich darüber mehr als nötig. Der Mond verschwand hinter den Hügeln und es wurde so dunkel wie in einem Faß. Die Nacht war lebendig von krächzenden Raben und schwirrenden Fledermäusen. Aber ich achtete kaum noch darauf. Stumpfsinnig tappte ich durch die tiefe Finsternis, und meine Gedanken waren finsterer als die umgebende Nacht.

Endlich – es war wohl schon eine halbe Ewigkeit darüber hingegangen – tauchten schwarz und schattenhaft die Lehmhütten zu beiden Seiten des Weges auf. Da und dort reckten sich die breiten Äste der Feigenbäume, wie große, huschende Gespenster, über die Mauern hinweg in die breite Straße. Still und regungslos war die Nacht. Wie ausgestorben lag das Dorf am Wegrand. Die Kühe murrten zuweilen, und die Esel scharrten verschlafen in den Höfen. Nicht einmal die Hunde bellten. Nur weit draußen, fast im letzten Hause des Ortes, schimmerte ein anheimelndes Licht und lustiger, wenn auch etwas verworrener Gesang kam durch die offene Tür der Hütte.

»Arroz con leche; me quiero casar,
Con una señorita de este lugar.
«

Dorthin lenkte ich meine Schritte, denn ich sagte mir mit dem alten Spruche:

»Wo man singt, da laß dich ruhig nieder.
Böse Menschen haben keine Lieder.«

Es war aber nicht eben eine einladende Behausung mit ihren kahlen vier Wänden und dem geflickten, windschiefen Dach, durch das die Sterne kalt und frostig hereinschauten. Genau in der Mitte des Raumes stand auf dem aus gestampftem Lehm hergestellten und mit der Zeit schon etwas rissig gewordenen Fußboden ein mit Indianerfiguren buntbemalter Topf von geradezu unmöglichen Ausmaßen. Auf den eingebauten Lehmbänken, die sich ringsum an den Wänden hinzogen, saßen rote Ponchos mit darauf gestülpten hohen, zuckerhutartigen Sombreros, richtig wie die Vogelscheuchen auf den Saatäckern. Ein scharfer, säuerlicher Geruch von Tschitscha lag schwer wie eine Wolke in dem Lokal.

»Buenas noches, señores!« sagte ich mit Aufbietung meiner ganzen Höflichkeit. Allgemeines Gemurmel war die Antwort.

Ich fragte, ob ich hier übernachten könnte, und sie schienen nicht abgeneigt, meiner Bitte zu willfahren, wenn ich auch vorerst noch nicht Kopf und Fuß machen konnte aus den verworrenen Gesten der Indianer, die da mit ihren schwarzen Haarschöpfen aus dem Einerlei von Ponchos und Sombreros hervorzuschauen begannen, und aus dem großen Palaver in Kitschua, das nun folgte. Die Sängerin von vorhin, die offenbar etwas mehr Lebensart besaß als die anderen, wandte sich an mich in einem ganz leidlichen Spanisch. Am anderen Ende des Dorfes – so meinte sie – unterhalte sie ein richtiggehendes Hotel. Federbetten seien dort vorhanden; Beefsteak mit Ei könne sie braten. Über ein kleines, wenn erst der Boden im Tschitschakruge sichtbar wäre, würde es ihr ein Vergnügen bereiten, mich mit den dort gebotenen Genüssen bekanntzumachen. Bis dahin hieß es sich gedulden, denn es war immer noch etwa ein Hektoliter Tschitscha im Kruge.

Immer lauter und ungereimter wurde indes der Gesang. Immer wilder das Toben. Todmüde, wie ich war, legte ich mich in einer Ecke auf die harte Bank und war bald fest eingeschlafen, trotz der sauren Tschitscha-Atmosphäre, trotz der rauhen Nachtluft, die scharf wie Messer durch die offene Tür hereingezogen kam.

Ja, damals! Da hatte man noch nichts gewußt von Fiebern und Schrecken, die einem die Nachtruhe verscheuchen; da konnte man sich, wenn's sein mußte, einer Rolle von Stacheldraht als Kopfkissen bedienen und im Nu die kalte, böse Welt mit ihren Tücken und Bosheiten vergessen, getreu dem Grundsatz, den schon Goethe als einen ganz gescheiten gepriesen:

»Schlafe, was willst du mehr!«

Der nächste Morgen war kalt und rauh. Die Gäste waren längst ausgeflogen, und nur der leere Tschitschakrug, der kalt und übernächtig noch immer in der Mitte des Raumes stand, erinnerte noch an die Orgie vom vergangenen Abend. Gar zu gern hätte ich mir eine Tasse Kaffee gekocht, aber da war weder Feuer, noch Kochgeschirr, noch sonst etwas in der Herberge, und also machte ich mich auf die Weiterreise auf der endlosen Straße, zwischen den braunen Sturzäckern, über denen noch die weißen Morgennebel lagen.

Und im Weitergehen kamen mir allerlei sonderbare Gedanken und Vergleiche: So wie hier – so sagte ich mir – muß es vor Zeiten auch ausgesehen haben im Heiligen Lande. Das kahle Land, das harte Licht, der grelle Sonnenschein, der auf dem Staub der Straße flimmerte, dieselben saumseligen Menschen in ihren bunten Kleidern von schreiendem Rot, die knorrigen, windzerzausten Bäume am Wegrand, die Esel, die träge vorüberziehen, ja selbst die Rebekkas, die mit dem irdenen Krug auf dem Kopfe beschaulich daherkommen, wenn nicht vom Brunnen, so doch vom Tschitschafaß.

Jedoch – es steht geschrieben, daß sie einen damals von der Straße hereinholten und freigebig bewirteten mit Feigen, Datteln und köstlichen Weinen. Davon ist hier so gar nichts zu merken. Mißmutig schauen sie dich an, und aus dem tückischen Licht ihrer grünschillernden Augen ist unschwer zu erkennen, daß sie alle Pesten des Landes Bolivien auf den vorüberziehenden Gringo wünschen. »Bargeld lacht«, ist ihre Devise. Umsonst ist der Tod in Bolivien.

Mühselig und beladen ziehst du deine Straße. Die Zunge hängt dir zum Munde heraus, und die Kehle ist rauh wie eine Kratzbürste. Dicht am Wege steht ein Haus, eine Hütte oder ein sonstiges ruinenhaftes Gebilde, das dortzulande als menschliche Behausung dient.

»Agua?«

»Nix agua! Hay chicha!«

So mußt du also wieder – zum wievielten Male? – in die Tasche greifen nach einem Zehncentavosstück für einen Schöpflöffel voll von dem trüben, widerlich sauren Gebräu, das du hinunterstürzest mit Todesverachtung, die einer besseren Sache würdig wäre. Denn der Durst kennt keinen Geschmack und keine Empfindlichkeiten und schon gar keine Rücksichten auf den Geldbeutel.

Lange wanderte ich weiter auf der staubigen Straße, die sich in endlosen Windungen an kahlen Hügelhängen immer höher schraubte. Mir war, als ob es in alle Ewigkeit so weitergehen sollte mit dieser Tretmühle, als plötzlich und unvermittelt von der Spitze eines Hügels – er mochte wohl viertausend Meter über dem Meeresspiegel liegen – ein ganz anderes Landschaftsbild sichtbar wurde. Das hügelige Hochland, das sich scheinbar unbegrenzt nach Osten ausbreitete, fiel unvermittelt ab zu einem wohl tausend Meter tiefer liegenden Tale, von wo es sich auf der anderen Seite wieder steil erhob zu himmelstürmenden Bergen, an deren Abhängen die Kühe grasten, und roh aus Lehm und Steinen gebaute Indianerbehausungen, wie bei uns zu Hause die Sennhütten, am Rande der Buschwälder standen. Überall, soweit das Auge reichte, ein Chaos von Bergen und Tälern. Weiße Wolken, die am blauen Himmel segelten, und lustiges, kristallhelles Wasser, das in den Talschluchten rauschte. Steil führte der Weg bergab an einem Berghang, an dem es zusehends lebendig wurde von Büschen und Bäumen, von Blumen im Waldesdickicht und von Vögeln, die in den Zweigen lärmten. Da vergaß ich Hunger und Müdigkeit, den Weg und das Wandern. An einer Wegbiegung, wo ein klarer Quell aus der Bergwand kam, setzte ich mich am Waldrand auf die moosigen Steine und lauschte auf das Raunen und Flüstern des Windes in den Zweigen, auf das Zwitschern der Vögel und das Murmeln und Plätschern des unruhigen Wassers.

»Vom Wasser haben wir's gelernt, vom Wasser – – –«

*   *   *

Tief im Grunde lag in einem weiten Talkessel ein Dorf, fast vergraben unter der Blütenpracht der Pfirsichbäume. Auf der Plaza, wo die Glocke der »Kathedrale« eintönig in den sinkenden Abend hineinbimmelte, stand ein Araber mit dicken Fingerringen, mit einer Krawattennadel so groß wie ein Taubenei und einem strähnigen, widerspenstigen Haarschopf, den die dickaufgetragene Pomade nur mühsam im Zaume hielt, und wachte über die Schätze, die da vor ihm auf dem Pflaster zum Verkauf ausgebreitet lagen. Neben ihm hockte eine indianische Señora und verkaufte große, schöne, braungebackene Tortillas, bei deren Anblick mein knurrender Magen sich daran erinnerte, daß er schon seit langem ohne Mahlzeit auskommen mußte. Ich stürzte mich förmlich auf die Herrlichkeiten, und die Señora machte große Augen über den Appetit des Gringos. In einer schmutzigen, abgelegenen Straße lag der »Tambo«, eine Unterkunftstätte für Mensch und Vieh, wie man sie in allen bolivianischen Ortschaften findet. Der Wirt, der mich offenbar als besonders zahlungsfähiges Objekt anschaute, führte mich sogleich in die Staatsstube, wo ein mottenzerfressenes Sofa vor einem wackeligen Tische stand und flinke Mäuse hinter abgerissenen Tapeten huschten. Bald brachte er mir ein mächtiges Beefsteak mit gerösteten Kartoffeln und gebackenen Eiern, die einen nur so anlachten. – Ja, und es gab hier sogar ein Bett, ein richtiges Bett, auf dem ich meine müden Glieder ausstreckte und mich von dem Rascheln der Mäuse und dem Schreien der Esel auf dem Hofe gar bald in den Schlaf singen ließ.

Am nächsten Morgen zahlte ich mit einem Zehnbolivianoschein, mit dem der Wirt verschwand und sich vorerst nicht mehr blicken ließ. Erst nach einigen Stunden kam er wieder zurück mit einem ganzen Sack von Fünfcentavosstücken, den er vor mir auf dem Tisch ausschüttete. Ich wollte protestieren, aber er hatte mich bald eines Besseren belehrt.

»Eh bueno, was ist dabei? Mit einem Fünfbolivianoschein können Sie verhungern hier in der Gegend, denn da kann kein Mensch darauf herausgeben. Sie können von Glück reden, daß ich das noch für Sie besorge.«

So füllte ich mir denn die Taschen bis zur Grenze des Fassungsvermögens mit den »Medios«. Ordentlich reich kam ich mir vor mit den klingenden Schätzen, die mir die Taschen herunterzogen. Schon gleich am anderen Ende des Dorfes kam ein Indianer des Weges, der es auf meine Reichtümer abgesehen hatte. Eier wollte er mir verkaufen, und da sie nur ein Medio kosten sollten, war ich geneigt, auf den Handel einzugehen.

»Gib mir zehn zu fünfzig Cents.«

»No, señor!«

»Wieviel denn?«

»Ein Medio – fünf Cents das Stück.«

»Nun also! Ein Medio das Stück, und fünf mal zehn –.«

»No, señor!«

– – ?

»Das sind wieder solche Fallbrücken, die einem die Gringos stellen. Darauf laß ich mich nicht ein, no, señor! Ein Ei verkaufe ich für einen Medio oder gar nicht.«

Also wurden wir handelseinig und machten das Geschäft! Zug um Zug – ein Medio – ein Ei und so weiter, bis die Transaktion beendet war. Es geht eben nichts über die Gewissenhaftigkeit.

Bald ging der Weg wieder ebenso steil bergauf, wie er tags zuvor bergab geführt hatte, denn in jenem Lande geht alles ständig bergauf, bergab, und man ist schlimm daran, wenn man sich nicht beizeiten die Philosophie des Till Eulenspiegel zu eigen macht, der sich bei dem Ersteigen eines Berges bekanntlich vor Freude nicht zu lassen wußte im Vorgefühl der Genüsse, die seiner beim Abstieg warteten.

Wieder lag das Land kahl und tot im harten Lichte der heißen Sonne; ein Spiel des Windes, der klagend darüber hin zog. Nur in den Falten der Berghänge, wo der Wind nicht hin konnte, standen mächtige Bäume und wuchernde Schlinggewächse von fast tropischer Üppigkeit. Immer höher führte der Weg, immer weiter öffnete sich der Blick in die blaue Ferne, auf das wild sich übereinander türmende Chaos der Berggipfel des bolivianischen Landes.

Noch war ich nicht auf halber Höhe angelangt, als ein Reisegefährte sich zu mir gesellte. Ziemlich verstört und atemlos kam er hinter mir her gekeucht, und was er mir dann zu erzählen wußte, das war auch noch ziemlich ungereimt. Ausgiebig erkundigte er sich nach dem Woher und Wohin, und die Auskunft, die ich ihm darauf geben konnte, schien ihn keineswegs vollauf zu befriedigen. Eine Weile schaute er mich vorwurfsvoll an, mit offenem Munde.

»Von La Paz kommst du? Von Lima? Und vorher? Von irgendwo? – Und nun willst du nach Totora, nach Santa Cruz, nach dem großen Urwald. Und dann immer noch weiter, nirgendwohin? Und das alles so mir nichts, dir nichts, wie ein armes, verlassenes Engelein zwischen Himmel und Erde? O pobre, pobre angelito!«

Er machte eine Kunstpause und fuhr dann vorwurfsvoll, bedächtig fort in seiner Rede:

»So kommst du also von nirgendwo und gehst nirgendwo hin? – ja, amigo, das sind keine Sachen für einen Christenmenschen!«

Eine Weile marschierten wir wortlos nebeneinander her durch den Staub der Straße, der in dem grellen Sonnenlicht tanzte. Bald waren wir auf der Höhe angelangt, wo bis in scheinbar endlose Weiten die zahlreichen Gipfel des bolivianischen Berglandes in allen Schattierungen von Grün und Blau herüberleuchteten, wo die Schatten schwarz in den Tälern lagen und die brechenden Strahlen der untergehenden Sonne die Ferne entzündeten.

Eine Weile hielten wir Rast auf der Höhe, um von der mühsamen Bergwanderung auszuruhen, indes mein neuer Compañero sich ganz in die Betrachtung der umgebenden Landschaft vertiefte.

»Ah, Bolivien!« rief er aus mit einer umfassenden Handbewegung, »ein schönes Land! Schade, daß die Bolivianer von so etwas nichts verstehen! Denn das kann hier nur Tschitscha trinken und Koka kauen. Ich aber bin ein Mann der Kunst. Ich verstehe mich auf die Farben. Alle Heiligen, die sie hier in der Gegend haben, sind von mir gemalt. Dafür müssen sie mich gut bezahlen, und Tschitscha gib's zu trinken, so viel man will. Und das ist auch etwas wert.«

Wieder widmete er sich eine Weile andächtig dem Beschauen der Landschaft, um dann unvermittelt in seiner Rede fortzufahren. Mit großer Miene deutete er nach Osten, wo sich ein Meer von Berggipfeln ausbreitete, soweit das Auge reichte.

»Schau dir sie an!« rief er aus, »über die alle mußt du nun hinübersteigen; über jeden einzelnen an jedem neuen Tage, bis ganz dort draußen, wo man nichts mehr sehen kann, und dann kommen immer wieder neue Berge für viele, viele Tagereisen. Und wenn du am letzten angelangt bist, so werden dich die Wilden fressen.«

Schweigend setzten wir den Weg talabwärts fort durch das wilde Land. Tief aus dem Talgrunde leuchteten die roten Falzziegel des Städtchens Totora.

Der Gedanke an die viele Tschitscha, die es dort unten gab, beflügelte die Schritte meines neu gefundenen Freundes. Er schlug ein Tempo an, das ich seinen alten, klapperigen Gliedern niemals zugetraut hätte und das meine ganze Energie erforderte, wenn ich mit ihm Schritt halten wollte. Die vielfachen Windungen der schönen Straße schnitt er kurzerhand ab. Rücksichtslos ging es bergab über Steine und Geröll, bis wir an eine hinter Büschen halb versteckte Hütte gelangten, aus der ein eintöniger Sing-Sang ins Freie kam. Wir traten hinzu und betrachteten uns die Bescherung, und das war schon der Mühe wert. Irgendeine Festlichkeit war hier im Gange. Etwa ein Dutzend Indianer, die so unverfälscht waren, daß John Fenimore Cooper seine Freude an ihnen gehabt hätte, liefen im Gänsemarsch im Kreise herum, jeder mit einer Flöte, der er unermüdlich immer dieselben Töne entlockte. Unter dem vorspringenden Dach der Hütte saß ein Indianer, der dazu die große Trommel schlug. Der alte Herr mochte neunundneunzig Jahre alt sein, wenn er nicht hundert war. Doch hatte er einen mächtigen Haarschopf, der in langen weißen Strähnen über seine ledernen Gesichtszüge hing. Eine halbe Stunde lang schaute ich dem Zauber zu, ohne auf den Grund des Pläsirs zu kommen. Alles ging eifrig und geschäftsmäßig, ohne die geringsten Anzeichen einer Festesfreude. Die einzige Abwechslung verschaffte eine sehr dicke Señora, die uns jede fünf Minuten ein neues Glas Tschitscha brachte. Diese fing an, mir in den Kopf zu steigen, und ich fand es an der Zeit, mich zu verabschieden. Mein neuer Reisegefährte wollte aber nichts davon wissen, trotz der ewigen Treue, die er mir noch vor einer halben Stunde geschworen hatte. »Bist du von Sinnen, Angelito? Fortgehen? Hier, wo es die beste Tschitscha in ganz Totora gibt –«

So machte ich mich denn allein auf den Weg und stolperte bergabwärts über den steinigen Pfad, während mir die eintönige Musik des sonderbaren Tanzes immer noch in den Ohren lag. Ich habe nie herausgefunden, wie sie ihn nennen, aber ich bin überzeugt, daß er inzwischen auch schon seinen Platz eingenommen hat, neben Shimmy und Foxtrott, in der Welt, in der man sich langweilt.

Bald war ich mitten in der Stadt.

Totora ist ein kleines La Paz. Es liegt in genau solchem Loche und es hat enge Straßen, die über genau solche Buckel führen. Aber es ist ein sehr kleines La Paz. Alles in allem mögen es vielleicht viertausend Einwohner sein, und unter diesen gibt es – wenn es hoch kommt – vielleicht ein Dutzend wirkliche Weiße. Hier herrscht der Indianer souverän. Und die Tschitscha. Aus jedem dritten Hause hängt ein weißes Fähnchen heraus, das es einem einladend zuwinkt:

»Hay chicha!«

Aber meine Seele war krank und meine Zunge lechzte nach Wasser. Nun gibt es in Totora eine Wasserleitung und sogar öffentliche Brunnen, die aber leider alle außer Betrieb waren. Wohl oder übel mußte ich hinuntersteigen in das tiefeingeschnittene Bett eines Flusses, der mitten durch die Stadt läuft. Es war ziemlich trocken, und das Wasser lief nur spärlich. Aber während ich es gierig schlürfte, kam eine aufgeregte Indianerfrau von oben herunter gestürzt mit einem Krug und einer Tasse in der Hand.

»Hay chicha!«

Lange ging ich in der Stadt umher und betrachtete mir die Sehenswürdigkeiten. – Wenn es eine Stadt gibt, die verlotterter ist wie Totora, so möchte ich sie kennen lernen. So etwas Ruinenhaftes ist mir noch nicht vor die Augen gekommen. Natürlich gibt es in Totora auch eine Plaza und auf dieser einen Musikpavillon. Es wäre ein Verstoß gegen die heiligste aller Sitten, wenn es anders wäre. Wenn sie nämlich in Südamerika eine Stadt anlegen, so errichten sie zuerst einen Musikpavillon, um diesen eine Plaza, und dann baut sich um diesen Kern allmählich eine Stadt.

Ich hatte es glücklich getroffen mit meiner Ankunft in Totora. Oder unglücklich, wenn man so will, denn schließlich war es doch nicht meine Schuld, daß gerade an diesem Tage der Schutzheilige der Stadt seinen Festtag hatte. Und der konnte sich wirklich nicht beklagen über mangelnde Verehrung. Der hier entfaltete groteske Mummenschanz aus christlichen Gebräuchen und indianischen Sitten und Unsitten ließ mir die Augen übergehen vor Wundern und Staunen. Durch die Straßen bewegte sich eine Prozession, deren gleichen man noch nie gesehen hat in anderen Ländern. Eine wilde Menschenmasse, bestehend aus Küstern, Pfarrern, Chorknaben, rennt in voller Karriere durch alle Straßen, hinterher ein Schwarm von Indianern in tschitschaseliger Stimmung, und oh! Die Musik! Es war dasselbe Trommel- und Flötenkonzert, das ich schon oben in der Hütte gehört hatte, nur noch tausendmal stärker und aufreizender in seiner Eintönigkeit.

Am Abend war großes Feuerwerk auf der Plaza, zu dem sich alle Indianer aus hundert Kilometern im Umkreis eingefunden hatten. Alle hatten sich in ihren schönsten Staat geworfen zu der Gelegenheit, das heißt, sie hatten ihre schönen hausgewebten Ponchos zu Hause gelassen und dafür die traurigsten Lumpen europäischer Herkunft angezogen, die ihnen irgendein arabischer Händler aufgeschwatzt hatte. Aber das Feuerwerk war schön, mit einer Riesenflamme, mit fabelhaften Fröschen und Feuerrädern, die durch die kalte Nachtluft schwirrten. Wohin man blickte, sah man dunkle Gestalten, die mit grotesker Kühnheit durch die Flammen sprangen. Die heiße Glut zog sengend über den Stadtplatz, der Widerschein des Feuers lag blutrot auf allen Gesichtern, und aus dem Hintergrund kam dumpf und eintönig das Echo der unermüdlichen Musik.

Alles schwamm in Wonne und Seligkeit. Nur einer, nur der reisende Gringo nicht. Noch nie in meinem Leben war ich so ganz und gar todmüde wie damals. Alle Aufregungen und Anstrengungen der langen Reise von Cochabamba bis hierher waren mir auf einmal in die Glieder gefahren. Krampfhaft mußte ich mich zusammennehmen, damit ich nicht da einschlief, wo ich eben ging und stand. Mehrmals wäre es dennoch dazu gekommen, wenn nicht ein vorübersausender Feuerfrosch mich unsanft aufgeschreckt hätte. Gerne hätte ich den doppelten Preis bezahlt für ein Nachtlogis, aber alle Gasthäuser und Tambos waren geschlossen, derweilen die Besitzer die große Fiesta genossen.

Als sich endlich, so gegen zehn Uhr abends, der Schwarm zu verlaufen begann, kaufte ich mir von einer Händlerin eine mächtig große Tortilla, die ich auf einmal aufaß, obwohl sie trocken war wie Maisstroh. Dann schleppte ich mich mit der letzten Kraft zum Bach und trank noch einen tüchtigen Schluck Wasser. Inzwischen hatte sich die Plaza geleert und nichts war mehr vom Feste zu sehen als die rauchenden Reste des gesunkenen Feuers. Behutsam kletterte ich in den Musikpavillon, wo ich mich längs hinlegte und auch gleich einschlief, trotzdem es eine kalte, frostige Nacht war, trotzdem in der Straße die Hunde heulten und der Wind ein klagendes Lied zwischen den Gitterstangen summte.

Zwölf Stunden Schlaf hatte ich unbedingt nötig nach den vorangegangenen Anstrengungen, und gewiß wäre es auch dazu gekommen, wenn mich nicht um drei Uhr morgens das Trommel- und Flötenkonzert wie ein Nachtgespenst aus dem Schlaf geschreckt hätte, womit die Fiesta ihre neue Auflage erlebte.

Traurig und mißmutig – denn ich hatte nur halb ausgeschlafen – ging ich durch die Straßen und betrachtete mir den neuen Zauber, als ich auf einmal meinen Freund von gestern vor mir sah. Schon von weitem hatte er mich erkannt und stürmte förmlich auf mich zu.

»Angelito!«

Ich sollte einmal stehen bleiben und zuhören. Er hätte mir etwas Interessantes mitzuteilen. Und wahrlich, es war interessant!

Also: Als er gestern abend nach Hause kam, da hätte seine Frau ein kleines Bebe gehabt. So ein wunderschönes kleines Bebe, in das man sich gleich jetzt schon verlieben könnte.

Und – ?

Und nun brauche er unbedingt einen Compadre, wozu ich mich ganz hervorragend eignen würde.

Die Wendung traf mich einigermaßen überraschend. Überall in Südamerika treiben sie großen Kultus mit Cuñados, Compadres und solchen Würden und Verwandtschaftsgraden. Und es wäre die tödlichste aller Beleidigungen, wenn man solch angebotenes Ehrenamt ablehnte, ohne die triftigsten Gründe. Was blieb da anderes übrig, als mitzugehen und abzuwarten, bis die Fäden dieses Komplotts sich auf historischem Wege entwirrten?

Willig und ohne ein Wort des Protestes ging ich mit ihm nach seinem Hause, das sich von außen recht stattlich ausnahm. Im Innern aber zeigte sich nur ein kahler Raum mit Wänden, die verklebt waren mit Bildern aus uralten Zeitschriften und mit einem Fußboden aus gestampftem Lehm, auf dem zahlreiche fertige und halbfertige Heiligenbilder in genialer Unordnung umherstanden. Ganz im düsteren Hintergrund saß die Señora in einen knallroten Poncho gehüllt, und neben ihr lag der Chiquito, umgeben von einem Schwarm bewundernder Comadres. Ein saurer Tschitschaduft lag in der Luft. Alle waren in bester Stimmung, und in Anbetracht des wichtigen Ereignisses bedaure ich mitteilen zu müssen, daß manche von ihnen nicht mehr ganz nüchtern waren. Bei meinem Eintritt kamen sie alle auf mich zu und gaben mir der Reihe nach die Hand. Manche versuchten ihre comadrische Liebe noch mit einem Kuß zu bekräftigen, wogegen ich mich aber energisch wehrte.

Während des halben Vormittags saß ich dabei und lauerte auf eine Gelegenheit zum Auskneifen, die sich jedoch nicht bieten wollte, und so war es schließlich eben so gut, daß der glückliche Vater mich zu einer landesüblichen Tschitschareise zu guten Freunden und getreuen Nachbarn einlud. Die Leute, die wir besuchten, mochten zu den oberen Zehntausend in Totora gehören. Die Häuser waren teilweise stattlich und recht gut eingerichtet mit wertvollem Mobiliar. Aber was immer es dort gab, einen Tisch sah man nirgends. Dagegen unendlich viele Stühle, die längs den Wänden standen und in der Mitte einen Raum freiließen, wie ein Tanzplatz in Häusern, die nur familiär, aber nicht für Familien da sind. In jedem Hause wiederholte sich dieselbe Szene. Wir saßen stumm auf den Stühlen und nickten mit dem Kopfe. Der Patron sagte etwas in Kitschua. Darauf nickten wir wieder mit dem Kopfe, tranken eine Tschitscha und setzten gleich wieder die Reise fort, zu anderen Menschen und anderer Tschitscha.

In der grellen Mittagshitze kamen wir wieder nach Hause, wo sie eben dabei waren, das Mittagessen aufzutragen, das aus geröstetem Mais, gefüllten Kürbissen und sehr viel Tschitscha bestand. Ich ließ mir das alles gut schmecken und wartete, bis die anderen sich in den Schatten zurückzogen, um eine geruhsame Siesta zu schlafen. Dann schnappte ich mein Bündel und schlich lautlos in die helle Straße hinaus. Als ich mich außer Sicht glaubte, fing ich an zu laufen in einem Tempo, das die halbwilden Hunde auf meine Fersen hetzte und die stillen Gassen widerhallen ließ von dem Heulen der Bestien. Die letzten kümmerlichen Hütten waren bald hinter mir geblieben. Steil führte der Weg bergan auf einer engen, vielgewundenen Straße, die lebhaft an die Bergpfade unserer Vogesen erinnerte. Auf einer flachen Felsplatte hielt ich Rast und betrachtete noch einmal die sonderbare Stadt mit den roten, eng zusammengepreßten Dächern, ich hörte auf die eintönige Musik, die klagend aus der Tiefe heraufkam, ich sah vor den Häusern die weißen Fähnchen, die hell in der Sonne leuchteten, als ein Symbol dieses sonderbaren Landes:

»Hay chicha!«

 


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