Kurt Faber
Tage und Nächte in Urwald und Sierra
Kurt Faber

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Fieber

Endlich in Brasilien. – Belgrad am Rio Paraguay. – Der Saladero. – Schwere Arbeit. – Die verkannten Schweine. – Die Malaria macht sich bemerklich. – Im Spital. – Trauriges Vokabularium. – Seltsames Erlebnis. – Die »madre superiora« mag den Ketzer nicht leiden. – Sie schreibt mich gesund. – Allerlei Trostsprüche. – Eine Pferdekur. – Liebe Landsleute. – »Cascabel« erscheint auf der Bildfläche. – Der Mann mit der Hornbrille. – Pase! – Im Gefängnis. – Nummer einhundertzweiundvierzig. – Mein Freund, der Mörder. – Ein fideles Gefängnis. – Eine schreckliche Offenbarung.

In diesem und dem folgenden Kapitel muß ich von recht traurigen Dingen erzählen, und wenn es ganz nach meinen Wünschen ginge, so würde ich mit Siebenmeilenstiefeln darüber hinweg setzen. Damals wenigstens pflegte ich mir an jedem neuen Tage zu sagen: Wenn es Gottes Wille ist, daß du je wieder lebendig und einigermaßen ungeschoren aus dieser Hölle kommst, so wirst du keinem Menschen etwas davon erzählen, denn dann brauchst du es auch im Geiste nicht noch einmal zu erleben. Es gibt so viel Lustiges auf dieser Erde. Warum soll man sich bei dem Traurigen aufhalten?

Da man aber nach einem A auch B sagen muß und dieses nun einmal die Fortsetzung der langen Erzählung ist, will ich es getreulich berichten, wenn auch das alles noch so verworren wie damals in meinem Kopfe summt, hinter einem dicken Schleier von Fieberphantasien. –

Der Dampfer des Türken war zwar langsam, aber mit der Zeit kam er doch vorwärts, und so pflügte er bald durch das gelbe, reißende Wasser des Rio Paraguay und landete schließlich an der Brücke des Hafens von Corumbá, zwischen vielen anderen Dampfern. In der heißen Mittagssonne ging ich an Land und wandelte eine Weile ziellos durch die Straßen, die sich alle an einer hohen Uferbank hinziehen. In dieser Hinsicht hat die Stadt eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Donauufer von Belgrad. Wenn sie nun auch nicht annähernd so groß ist wie diese, so ist sie doch für dortige Verhältnisse eine recht ansehnliche Stadt mit vielen stattlichen Geschäftshäusern, funkelnden Cafés, lichtüberfluteten Kinotheatern, mit Bars und Shimmydielen und allen solchen Dingen, die Leben und Inhalt des modernen Menschen sind. Für mich, der ich aus dem Lande der Motocusitos kam, war sie jedenfalls der Inbegriff aller Großstädte. Eine Weile war ich wie berauscht von diesen Anzeichen der wiedergefundenen Zivilisation. Bald aber merkte ich wieder, daß der Mensch des Menschen größter Feind ist, daß man nur deshalb zivilisiert ist, um seine Mitmenschen besser ärgern zu können, und daß es in dieser Umwelt nur eine Sünde gibt: Kein Geld zu haben. Und das war bei mir leider wieder einmal in vollstem Maße der Fall. Zweihundert Reis war meine ganze Barschaft, und die – soll ich es gestehen? – investierte ich in einer Portion Eis bei einem fliegenden Händler. Hunger hatte ich keinen und die Kühlung konnte nur von Vorteil sein für das trockene Gefühl im Munde und für das Blut, das wie das höllische Feuer brannte. Was war es nur, das mir wie Blei in allen Gliedern lag? Stumpfsinnig tappte ich vorbei an einem Lokal, in dem eine Jazzband lärmte.

Wohin unter dieser heißen Sonne?

Zu meinem Glück – ich will es einmal so nennen – traf ich einen arbeitslos am Hafen umherlungernden Kavalier, der mich auf eine Erwerbsmöglichkeit aufmerksam machte. Draußen auf dem etwa eine Legua von der Stadt weg gelegenen »Saladero« könne man immer eine Stelle finden zu fünf Milreis pro Tag, und zu essen gebe es auch genug, da man dort an einem Tage mehr Fleisch wegwerfe, als die ganze Stadt in einer Woche verzehre.

Das war frohe Botschaft. Sogleich machte ich mich auf den Weg nach jenem glückverheißenden Platze. Keine Ahnung hatte ich davon, was eigentlich ein Saladero war. Dem Namen nach mußte es etwas Salziges sein. Sei es was es mochte, alles war besser wie das Herumliegen auf der Straße. Die Sonne brannte immer noch heiß vom wolkenlosen Himmel, als ich mich auf den Weg machte. Bald waren die letzten Häuser zurückgeblieben und ringsum war alles Busch und Pampa wie in der schlimmsten Wildnis. Mühsam schleppte ich meine müden Glieder durch den tiefen Sand der schlechten Straße. Es war die längste Legua, die ich je gesehen habe. Die Sonne sank und noch immer war nichts Bemerkenswertes zu entdecken. Schon begann ich an der Glaubwürdigkeit meines neuen Freundes zu zweifeln, als auf einmal seitab über den Buschwald große Schornsteine aus dem Dämmerdunkel heraus wuchsen. Auf einer freien Pampa standen große Wellblechschuppen, und rund um diese standen viele hundert Ochsen hinter hohen Zäunen. Ein scharfer Geruch von Blut und Dung lag schwer in der Luft. Fern und nah heulten unzählige Hunde.

Das war der Saladero.

Natürlich fand ich dort eine Stelle. Wer hätte sie nicht gefunden? Aber wer hätte sie je gesucht? Doch nur diese, die anders nicht mehr ein und aus wußten. Der Saladero – das war die letzte, die äußerste, die última esperanza!

Im tropischen Südamerika, zumal in Brasilien, ist neben Reis und Bohnen »Charqui«, das Trockenfleisch, ein Nationalgericht. In den Handel kommt es in langen, schwarzen, lederartigen Streifen, die ein Attentat sind auf die gesündesten Zähne. Das Zeug sieht aus wie Stiefelsohlen, und wer es zum erstenmal sieht, der würde nie auf den Gedanken kommen, daß es sich hier um ein Nahrungsmittel handle. Wer aber erst ein wenig akklimatisiert ist, der wird ohne weiteres zugeben, daß dieser seltsame Stoff doch ein recht wohlschmeckendes Nahrungsmittel ist für einen hungrigen Magen, und daß diese Art der Konservierung des Fleisches für den Hausgebrauch die einzig mögliche ist in solch heißen Ländern.

Solches Charqui wurde auf dem Saladero hergestellt. Soll ich von seinem Werdegang erzählen? Vom Brüllen und Stampfen, vom Leben und Sterben des Viehs, vom scharfen Blutgeruch, der über dem Ganzen lag? Ich könnte es nicht, und wenn ich wollte. Es ging alles nach einem fein ausgeklügelten System. Die Ochsen hingen schon als Rindfleisch vom Haken, noch ehe sie richtig verendet waren unter dem Beile des Schlächters. Denn nirgendwo arbeitet der Mensch mit so viel Liebe und Verständnis, als wenn's ans Morden geht. Fabelhaft war die Verschwendung, die hier getrieben wurde. Im Matto Grosso ist zum Beispiel ein Rindsherz kein Fleisch und ebensowenig eine Rindsleber, ein Rindshirn, eine Rindsniere und dergleichen Dinge, die der Stolz und die Zierde unserer deutschen Metzgerläden sind. Alles das wird mit den übrigen Eingeweiden hinausgeworfen in den Hof, als Speise für die Hunde, die hier gedeihen wie das Unkraut unter den Hexenfüßen.

An diese Hunde im Hofe werde ich immer denken. Sie waren so fett und rund wie die Schweine. Nein, nicht wie diese, sondern wie irgendwelche lächerliche, nie gesehene Wesen mit runden Beinen und verquollenen Augen. Gierig fielen sie über jede neue Ladung her, bis sie schließlich regungslos niedersanken aus purer Überfressenheit. Und immer, wenn ein besonderer Leckerbissen kam, fielen sie alle übereinander her und rauften sich, daß die Fetzen flogen, als ob es nicht übergenug der Mahlzeit für alle gewesen wäre. Nachts vertrieben sie sich die Zeit mit Heulen. Eine hundertstimmige Serenade, die die Luft erzittern machte, derweilen im Lichte der elektrischen Lampen das Morden immer weiter ging. Nicht ein Auge habe ich zugemacht in jenen Nächten. Wie die anderen schlafen konnten, weiß ich nicht, doch regierte wohl auch hier die alles besiegende Macht der Gewohnheit.

Wenn das Fleisch genügend zubereitet ist, wird es in lange Streifen geschnitten und draußen im Freien zum Trocknen aufgehängt, wie die Wäsche bei uns zu Hause. Wenn es schwarz getrocknet ist in der Tropensonne, wird es heruntergenommen und abwechselnd mit Salzschichten aufgetürmt. Keine schwerere Arbeit kann es geben, als die auf dem salzigen Haufen in der sengenden Hitze. Als sie mich zum erstenmal dort hinaus schickten, da fing es an mir vor den Augen zu flimmern, da drehte sich die Welt im Kreise, da lief es mir kalt über den Rücken. Da wußte ich erst, was mir schon die ganze Zeit im Kopfe gesummt hatte: das Fieber!

»Es ist die Tropische,« sagte der Aufseher. »Da sterben die meisten daran.« Dann schickten sie mich fort mit solch tröstlicher Aussicht und mit den zwanzig Milreis, die ich mir in den vier Tagen so sauer verdient hatte.

Der Weg von der Stadt zum Saladero war lang gewesen. Der von dort zur Stadt war eine Ewigkeit. Immer wieder blieb ich am Straßenrande sitzen und schaute fröstelnd in die heiße Sonne. Es war dunkle Nacht, als die ersten Häuser auftauchten. Mühsam schleppte ich mich noch hinunter bis zum Flusse, aber dann war es auch zu Ende mit meiner Kraft. Ich setzte mich auf einen der umherliegenden Warenballen und schauerte zusammen unter dem frostigen Gefühl, das mir eisig kalt über den Rücken lief, obwohl es eine laue, schwüle Nacht war, in der es an allen Ecken wetterleuchtete von fernen Gewittern. Krank und verloren kam ich mir vor wie der Verlassenste auf dieser Erde.

Wenn man Fieber hat, so verliert man stets auch den Begriff der Zeit, und so kann ich bei bestem Willen nicht mehr sagen, wie lange ich dort gelegen haben mochte, als ein freundlicher Herr mich ansprach, und dann, als er keine zusammenhängende Antwort herausbrachte, fortging und gleich wieder kam in einem Auto. Er und der Chauffeur nahmen mich bei Kopf und Füßen und schafften mich hinein. Fort ging die Reise. Und ich ließ mir alles gefallen. Es gab in jener Stunde nichts zwischen Himmel und Erde, das mir nicht gleichgültig gewesen wäre.

Ehe ich noch recht wußte, wie mir geschah, lag ich schon in einem schönen weißen Spitalbett, in dem ich wohlig meine Glieder streckte. Dunkel und still war es in dem weiten Raume, in dem nichts zu hören war als das Ticken der großen Wanduhr, und nichts zu sehen als das matte, verhängte Licht über den langen Reihen der eisernen Bettstellen. Es war kein schöner Aufenthaltsort, und doch war ich froh, daß ich hier war und nicht auf der Straße. Und dankbar war ich auch. Nur mit einer gewissen Einschränkung kann ich daher von der unbedingten Schlechtigkeit der Mitmenschen reden. Ich wenigstens habe überall auch gute Menschen angetroffen. Ich könnte ein Buch darüber schreiben, wenn ich damit anfangen wollte.

Es gibt indes auch noch andere, und dazu gehörte auch die oberste Krankenschwester des Spitals, von dem ich hier berichte. Die allgewaltige, allgegenwärtige »madre superiora«. Von allen Frauen, die ich je gesehen habe, war sie die längste. Sie maß gut und gern sieben Fuß von der Spitze ihrer Haube bis zu den Absätzen ihrer Sandalen. Dabei war sie gut proportioniert. Nur der Mund fiel etwas aus der Rolle. Er war erstaunlich groß, breit, mit dicken, wulstigen Lippen und langen, gelben Zähnen. Vor der Brust trug sie ein großes Kreuz, das sie jedesmal küßte, wenn sie mit abgewandtem Blick an meinem Bett vorüberhuschte. Wieder und wieder machte sie das Zeichen des Kreuzes und die Patienten in den Betten folgten ihrem Beispiel und gleich war der ganze Saal erfüllt von dem eintönigen Murmeln der Gebete. Denn der hier lag – konnte man es fassen? –, war ein heredero – ein Ketzer!

Nur in den ersten zwei Tagen zeigte sie diese Bestürzung. Dann mußte sie sich irgendwo Instruktionen geholt haben für ihr weiteres Verhalten, das alsbald ins Gegenteil umschlug. Ohne Scheu kam sie nun auf mich zu mit einem widerlich schadenfrohen Lächeln, das den breiten Mund noch weiter verzog und die gelben Zähne noch länger machte als sie ohnehin schon waren. Wortlos legte sie ein gedrucktes Bild mit einem blutigen Herz und einem lateinischen Spruch auf die Bettdecke. Statt des Mittagessens brachte sie mir ein Gebetbuch und bei Einbruch der Nacht ein Muttergottesbild. Ich protestierte, aber sie antwortete nur mit demselben stereotypen Lächeln, das sie nie verließ. Der Doktor kam und verordnete Chinin. Da gab sie mir fünf Pillen auf einmal und freute sich des Erfolgs. Überflüssig zu sagen, daß sie mich knapp hielt an Rationen. Sie waren in der Tat nicht der Rede wert, und so war es gewissermaßen Glück im Unglück, daß während der meisten Zeit das Fieber den Appetit verscheuchte. Unnütz, ferner zu erwähnen, daß diese ihre Ketzerfurcht auch abfärbte auf die übrigen Patienten, schon deshalb, weil sie meinetwegen an jedem Abend ein Extrabrevier beten mußten. Unter diesen gab es allerlei Gestalten von jeder nur denkbaren Couleur, zitronen-, oliven-, kaffeefarbige, und manche unter den Gesichtern waren schwarz wie Stiefelwichse. Da sie Portugiesisch sprachen, spitzte ich meine Ohren bei jedem Wort der mir fremden Sprache. Die erste Vokabel, die ich lernte, war: santa casa (Spital). Und das war wahrlich kein verheißendes Wort einer neuen Sprache in einem neuen Lande!

Acht Tage verbrachte ich in dieser allzuheiligen Santa Casa abwechselnd mit fieberndem Kopfe und knurrendem Magen und wurde alle Tage weniger, da ich das meiste schon zugesetzt hatte auf dem langen Wege in Bolivien. Es ist indes keine Zeit so schlimm, als daß nicht irgendwo einmal ein Lichtblick hindurchscheine. Von einem solchen muß ich hier erzählen, obwohl es nicht eben eine appetitliche Geschichte ist. Eines Tages begab es sich, daß ich mich zurückgezogen hatte auf einen Ort, den man nur zu besonderen Zwecken aufzusuchen pflegt. Wieder einmal hatte der Hunger das Fieber abgelöst. Mein Magen grollte bedenklich, denn während des ganzen Tages hatte er noch nichts zu essen bekommen als eine dünne Haferschleimsuppe, die nur gewürzt war mit dem sauren Lächeln der madre superiora. Da horchte ich auf. Etwas schlich durch die halboffene Tür. Herein kam ein Huhn. Ohne mich im geringsten zu beachten, schritt es nach einer dunklen Ecke. Eine Weile scharrte es zwischen alten Zeitungen. Gespannt sah ich ihm zu. Ich wagte nicht zu atmen.

Wenn es möglich wäre . . .

Es war möglich! Nach einiger Zeit erhob es sich gackernd und schritt stolz davon. Auf dem Platze lag ein großes, leuchtendes Ei.

Ich merkte mir Ort und Stunde, und siehe da! Am anderen Tage kam es wieder, und wer weiß? Vielleicht hätte ich noch lange Zeit mein Ei zum Frühstück gehabt, wenn die madre superiora mich nicht gesund geschrieben hätte an jenem Tage.

Ach, wenn man die Menschen gesundschreiben könnte! Wenn es einem zustatten gekommen wäre, so mir in jener Stunde. Kaum war das Tor hinter mir ins Schloß gefallen, da begann es mir auch schon wieder kalt den Rücken hinauf zu kriechen. Bis ich in der Stadt war, hatte ich den schönsten Schüttelfrost. Gerade hatte ich noch Willen genug, um eine Wirtschaft ausfindig zu machen, die meinem Geldbeutel entsprach. Ich zahlte das Geld, das ich so nötig brauchte, für ein Mittagessen, das ich nicht essen konnte. Ich setzte mich auf eines der vielen umherstehenden Fässer und hörte nur halb auf das Gerede der zum Teil recht abenteuerlich aussehenden Gäste, die da umherstanden und Bemerkungen machten über meine Krankheit. »Es ist die Tertiana,« meinte einer, »die gehört mit zum Lande. Ehe man die nicht gehabt hat, ist man kein richtiger Mattogrossenser.«

»Aber er ist ein Gringo,« sagte ein anderer, »die bekommen das immer stärker als unsereiner. Viele sterben daran.«

»Viele? Die meisten!«

So redeten sie lange weiter und machten ihre trostreichen Bemerkungen, auf die ich immer weniger hörte, je mehr das Fieber rumorte.

Einer kam mit einem großen Glase Zuckerrohrschnaps, dem ein milchweißer Stoff von anisartigem Geschmack beigemischt war.

»Hier, Tertiana,« sagte er zu mir, »nimm das. Es ist das Beste für das Fieber.«

Er hielt mir das Glas an den Mund, und ich trank es aus mit einem Zug. Allzuviel Vertrauen hatte ich nicht in diese Pferdekur, aber man klammert sich an jeden Rettungsring bei über vierzig Grad Fieber.

Und siehe da! Nach fünf Minuten war der Anfall vorbei. –

Es ist indes recht traurig bestellt um ein Dasein, in dem bei kaltem Kopfe die drückende Sorge um den kommenden Morgen noch schlimmer ist als das Rasen des Fiebers. – Was wollte ich noch mit meinen zehn Milreis, die mir übriggeblieben waren? Das konnte mich zur Not noch zwei Tage lang über Wasser halten. Und dann –? Kein Geld, keine Papiere und alle Tage zu bestimmter Stunde ein fälliger Fieberanfall. Es waren wahrlich keine erhebenden Aussichten!

Nur die Menschen, die niemals richtig in Not waren, können immer und unter allen Umständen das Betteln und Stehlen als etwas Unehrenhaftes ansehen. Mit solchem Stolze, der sich hinter dem Ofen brüstet, kommt man nicht immer aus im Leben. Ein Bettler, der sich umtut, ist jedenfalls aus besserem Holz geschnitzt als die, die sich an den Wegrand setzen und warten, bis der Tod sie beim Kragen nimmt. Er hat den Mut zu leben, und das haben die wenigsten Menschen, wenn sie erst einmal aus ihrer gewohnten Bahn herausgekommen sind.

In Corumbá, wohnen einige liebe Landsleute, und was war natürlicher, als daß ich mich an diese wandte? Was war natürlicher, als daß sie mich unverrichteter Dinge von der Türe schickten? Aber was tut man nicht alles in der Not? Chamäleonartig verwandelte ich mich in einen Engländer, dann in einen Spanier – ohne bessere Erfolge. Schließlich erbarmte sich meiner ein Yankee, dem ich mich gleichfalls als Landsmann vorgestellt hatte. Er war der Leiter des dicht am Flußufer gelegenen Elektrizitätswerks, wo er mir bei gutem Lohn eine leichte Arbeit gab, die so unbedeutend war, daß es nicht darauf ankam, wenn sie gelegentlich unterbrochen wurde von Pausen, die das Fieber vorschrieb. So ging es acht Tage lang ganz leidlich, bis eines Tages eine recht unerwartete und unerfreuliche Wendung eintrat in meinem Schicksal.

Immer, und wenn ich tausend Jahre lebe, werde ich mich jenes Tages erinnern. Es war an einem dumpfen, gewitterschwülen Vormittag. Barfüßig und barhäuptig arbeiteten wir im Wasser an der Umwicklung eines Kabels, das von dem Werk in den Fluß führte. Mit großen Schritten kam ein Gendarm die hohe Uferbank heruntergelaufen. Ein unwahrscheinlich langer, dürrer Mulatte mit einem mageren, von Pockennarben entsetzlich entstellten Gesicht. »Cascabel«, die Klapperschlange, nannte ihn der Volksmund. Täglich passierte er hier auf seinen Rundgängen, ohne daß jemand von ihm besondere Notiz genommen hätte. Diesmal aber kam er direkt auf mich zu und verhaftete mich im Namen des Staates Matto Grosso. So wie ich da ging und stand nahm er mich mit. Es war eine peinliche Überraschung. Da er aber über sechs Fuß lang und überdies bewaffnet war, folgte ich ihm ohne Widerstand, um so mehr, als ich an ein Mißverständnis glaubte, das sich sogleich wieder aufklären mußte. Ich hätte es eigentlich besser wissen müssen nach meinen vorangegangenen Erfahrungen mit der südamerikanischen Justiz.

So gingen wir denn selbander nach der Polizeidirektion, wo wir durch viele Gänge in ein elegantes Bureau gelangten vor einen kleinen Herrn mit einer großen Hornbrille. Es war in der Tat nicht viel mehr an ihm als diese Hornbrille, und hinter ihr die grauen, kalten Augen, die mich drohend anschauten. Nirgendwo ist die Justiz so summarisch wie im Matto Grosso. Er stellte keine Fragen, er erkundigte sich nicht nach Name, Stand und Herkommen, er nahm sich nicht die Mühe des Verhörs oder gar der Aufnahme eines hochnotpeinlichen Protokolls. Denn so ein mattogrossensischer Polizeikommissar ist so allwissend, wie er allmächtig ist. Ein Blick von ihm genügt, um die Menschen ins Zuchthaus zu bringen.

»Pase«, sagte er mit napoleonischer Handbewegung.

So brachten sie mich ins Gefängnis.

Der Mann am Tor salutierte. Mit schnarrender Stimme rief er die Wache heraus. Der Wärter kam mit dem Schlüsselbund. – Nun ja, ein Gefängnis ist kein Hotel. Aber ein bißchen mehr Komfort hätte man mit Fug und Recht schon erwarten können, selbst an solchem Platze. Eine Bank, einen Wasserkrug und die traditionelle Pritsche. Aber davon war hier nichts zu sehen. Nur kahle Lehmwände und ein nackter, mit Ziegelsteinen gepflasterter Fußboden. Ich setzte mich auf den Boden und schaute mit stumpfen Blicken auf die Spinnen, die an den kahlen Wänden hinaufliefen, und auf den Lichtstreifen vor der Tür. Ich hörte auf das Zirpen einer Grille, die irgendwo zwischen den Dachbalken nistete und mit ihrem eintönigen Lied die umgebende Stille und Einsamkeit nur noch drückender machte.

Lange hing ich den Gedanken nach, die düsterer waren wie das Dämmerdunkel in der Zelle. – Eigentlich lag das alles in der Natur der Sache. Denn waren wir nicht in Amerika, wo die Freiheit mit Dollars gemessen wird und der aber vogelfrei ist, der keine hat? Und gar erst hier im Matto Grosso, wo der Himmel hoch und Rio de Janeiro weit ist, mitsamt den Senatoren und Deputierten und dem ganzen Possenspiel des Parlaments. Hier herrscht unbeschränkt der Gouverneur und unter ihm der »delegado da policia«. Wer nie in der Praxis mit solchem brasilianischen Polizeidelegierten zu tun gehabt hat, der kann sich nur einen sehr unvollkommenen Begriff machen von dessen Machtvollkommenheit. Jedenfalls ist er eine Persönlichkeit, der gegenüber der liebe Gott doch nur ein recht unbedeutendes Wesen ist. Je weiter man sich von der Küste entfernt in die abgelegenen Provinzen, je höher wächst er in seiner und anderer Leute Achtung, bis er im Matto Grosso, in Goyaz und dergleichen Ländern einer Art Cäsarenwahnsinn verfällt. Wehe dem, der dort als ein Wesen ohne Geld und ohne Einfluß die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zieht! Par ordre du moufti wandert er unweigerlich ins Gefängnis oder an den Galgen. Als »verdächtiges Individuum« schmachtet er für den kurzen Rest seines Lebens in den amazonischen Sümpfen, weil seine Nase dem Präfekten nicht gefiel. Hat man nicht jahrzehntelang gewettert gegen die sibirischen Verschickungen? Steht nicht irgendwo ein Verbot der Sklaverei in der Kongo-Akte? Im Matto Grosso wird beides nach wie vor betrieben. Notorisch war es hier lange Zeit die berüchtigte Doña Maria, die Tante des mattogrossensischen Staatspräsidenten, die mit Hilfe der Polizei wahre Treibjagden abhalten ließ, sobald sie Arbeiter benötigte für ihre Plantagen in den Sümpfen von Cuyabá. Cuyabá war der Tod. Das Sumpffieber wurde mit allen fertig, und was übrig blieb, erledigte die Peitsche der Aufseher. So hatte sie immer Bedarf an Arbeitskräften, denn die Abnützung war groß. Doña Maria ist tot. Sie soll ein unheiliges Ende genommen haben. Aber es gibt noch andere derartige Dons und Doñas. Ich könnte da Wunderdinge berichten aus eigener Erfahrung.

Vorerst saß ich indes noch tatenlos in meiner Zelle und schaute düster auf den großen, grauen, menschenleeren Hof, in dem sich nichts bewegte. Zögernd vergingen die Stunden. Die Nacht kam und ich fiel in einen bleischweren Schlaf, aus dem ich erst wieder aufwachte, als am anderen Morgen die Sonne schon hoch am Himmel stand. Zum mindesten war darauf zu schließen aus einem hellen Sonnenflecken, der durch eine Ritze des schadhaften Daches sogar in diese dunkle Höhle fiel. Der lange Schlaf hatte mich sehr erfrischt. Auch das Fieber war vorerst vorbei. Aber mein Kopf war wirrer als je. Ich schaute mich um in der trostlosen Zelle. Ich blickte durch den engen Türspalt hinaus auf den kahlen Hof und konnte mir keinen Vers machen auf das, was um mich war. Zwischen gestern und heute lag das Fieber, und darüber führte keine Brücke. Wohl erinnerte ich mich an alle Einzelheiten; an Cascabel, an den Wärter mit dem Schlüsselbunde, an den Mann mit der Hornbrille auf der Polizeidirektion. Aber bei bestem Willen konnte ich den Zusammenhang nicht mehr finden, so sehr ich auch meinen armen Kopf darum anstrengte.

Endlich, als ich schon fast wieder eingenickt war, kam jemand mit schweren Schritten über den Hof, fingerte am Schloß und riß die Türe auf. In der Hitze des hellen Tages, die wie ein Meer in meine dunkle Höhle geflutet kam, stand, wie am Abend zuvor, der Wärter mit dem Schlüsselbund, und neben ihm ein weißgekleideter Herr, offenbar ein Polizeioffizier. Der schaute mich einen Augenblick an mit einem abwesenden Gesichtsausdruck.

»Nummer hundertzweiundvierzig,« sagte er auf Portugiesisch.

»Nummer hundertzweiundvierzig!« wiederholte der Wärter in derselben Sprache, aber sehr viel energischer. »Aufstehen, wenn der Kapitän spricht! Appell!«

Ehe ich noch dem Befehl nachkommen konnte, waren sie schon weitergegangen. Das Schloß knarrte an der nächsten Türe.

»Guardia! Appell! Nummer hundertdreiundvierzig!«

So ging es weiter von Tür zu Tür während einer halben Stunde. Sonderbarerweise wurden die Türen nicht mehr geschlossen. Alles strömte ins Freie, und der Hof begann sich zu bevölkern mit allerlei Gestalten von der Sorte, der man nicht gern allein zwischen Tag und Dunkel begegnet. Was immer sie hierher gebracht hatte und was man mit ihnen vorhatte, konnte ich nicht erraten. Jedenfalls schienen sie sich keine grauen Haare wachsen zu lassen über ihr Schicksal, denn so wie sie dasaßen und lagen, machten sie den Eindruck einer einzigen glücklichen Familie. Die einen lagen umher in fauler Behaglichkeit und hielten Siesta unter dem Schatten eines vorspringenden Daches. Andere wuschen sich am Brunnen, andere spielten mit schmierigen Karten. Nach einer Weile wurden zwei mächtige Kessel, der eine voll Reis, der andere voll schwarzer Bohnen, in der Mitte des Hofes aufgestellt, hinter denen der Wärter mit einem großen Schöpflöffel stand.

»José Gonzalez!« rief er mit Donnerstimme.

»Hier!« antwortete José und bekam je einen Löffel voll Reis und Bohnen in seinen Napf. Dann kam Manuel an die Reihe, dann Carlos, dann Enrique, und so ging es weiter bis zum letzten Mann. Oder doch nicht bis zum letzten! Je weiter er in seiner Liste hinunterkam, je kleiner wurden die Rationen, und bis er bei mir angelangt war, war nichts mehr zu sehen als der blanke Boden der Kessel. Aber ich war ja gar nicht auf der Liste! Und wenn ich darauf gewesen wäre, so hätte ich außer meinen zehn Fingern auch keinen Gegenstand gehabt, um damit Reis und Bohnen zu essen. Der Anblick der vielen schmausenden und schmatzenden Menschen erweckte in mir einen Wolfshunger. Der Duft der Speisen stieg süß und verlockend in meine Nase und erinnerte mich daran, daß ich seit vielen Tagen nichts Ordentliches mehr gegessen hatte. Es war gewiß nur eine kümmerliche Armeleutsspeise, die man hier ausschenkte, aber meinem leeren Magen war sie ein vollwertiger Leckerbissen. Ob nicht auch hier für mich etwas übrig wäre, wandte ich mich an einen der Essenträger, der nun auch beim Speisen war und sich nicht die Zeit nahm, von seinem Napfe aufzusehen.

»Da mußt du warten, bis du auf die Liste kommst.«

»Und wann wird das wohl sein?«

»Paciencia! Vielleicht morgen.«

»Morgen –?«

»Vielleicht auch erst übermorgen, je nachdem sie bestimmen in der Comisaria. Das geht hier immer der Reihe nach. Wer am längsten hier ist, bekommt am meisten. Wenn du ein Jahr abgesessen hast, kannst du schon satt werden. Bis dorthin mußt du den Riemen enger schnallen. Da ist nun einmal nichts zu machen. Geduld! Paciencia! Das ist hier kein Hotel. Ein Gefängnis! Ein mattogrossisches Gefängnis, por dios!«

In knapp zehn Minuten war die ganze Mahlzeit zu Ende, und jeder legte sich auf ein schattiges Plätzchen und hielt ausgiebige Siesta, denn für die nächsten vierundzwanzig Stunden war keine weitere Abfütterung zu erwarten. Stunde um Stunde verrann, ohne daß sich etwas regte im Hofe. Es war wahrlich ein trüber, trauriger Nachmittag! Die Sonne brannte senkrecht vom wolkenlosen Himmel. Die Hitze flimmerte über den flachen Dächern, die sengende Tropenglut lag schwer wie ein Ungeheuer auf dem Lande. Außer dem Summen der Moskitos und gelegentlichem Eselsgeschrei vernahm man stundenlang keinen Laut in der regungslosen Stille.

Je weiter der Tag fortschritt, je verzweifelter wurde meine Stimmung. Ich saß in einer Ecke des Hofes und verstrickte mich in immer melancholischere Gedanken, als auf einmal ein Mann – was sage ich? – ein Herr vor mir stand, der nach seiner eleganten Kleidung zu dieser schäbigen Umwelt paßte wie ein Pfau auf einen Hühnerhof. Im ersten Augenblick hielt ich ihn für einen Gefängnisbeamten und fand die Gelegenheit günstig, um meine Beschwerden vorzubringen. Aber er belehrte mich gleich eines anderen.

»Senhor!« sagte er mit gemessener Stimme. »Sie befinden sich in einem Irrtum. In einem sehr bedauerlichen Irrtum. Ich bin auch einer von der Familie, leider Gottes. Aber darum weiß ich doch die Gesellschaft eines vollkommenen Caballero zu schätzen, und wenn Sie mit mir herüberkommen und für heute abend in meinem Hause vorliebnehmen wollten, so wäre mir das ein Vergnügen.«

Einen Augenblick schaute ich ihn an. Ich wußte nicht recht, was ich zu alledem sagen sollte. Da er aber gar so freundlich war, ging ich mit ihm. Mit der verbindlichen Höflichkeit eines vollkommenen Kavaliers führte er mich über den Hof bis zur Türe einer Halle, die von außen nicht besser aussah als alle anderen. Um so größer war die Überraschung, als Don Alonso – so hieß er – die Türe öffnete und mit einer verbindlichen Verbeugung zum Eintreten einlud.

»Aqui está en su casa!«

Hier war man in der Tat meilenweit von der spartanischen Einfachheit eines Gefängnisses. Alles atmete Wohlstand und wohlige Behaglichkeit. Frisch getüncht und frisch gestrichen. An den Wänden sah man Bilder und Spiegel. Diskrete Vorhänge verhüllten die vergitterten Fenster. Auf dem sauber getäfelten Fußboden standen Tische und Stühle und schwellende Klubsessel. Ich setzte mich auf einen von diesen und betrachtete den Don Alonso, der sich inzwischen eine Zigarette anzündete und wortlos zu Ende rauchte. Da er vorerst nicht zum Reden aufgelegt war, hatte ich die schönste Gelegenheit, ihn aufmerksam zu betrachten. Er war ein großer, schlanker, auffallend elegant gekleideter Mann von jener eigentümlichen orientalischen Rasse, die man in Südamerika als Turkos bezeichnet, unter welchem Sammelnamen man alle syrischen Araber und Levantiner versteht. Zumeist sind es Leute, denen nicht recht zu trauen ist, und dieser sah noch etwas verdächtiger aus als die anderen seiner Rasse.

Eigentlich sei dies ein recht angenehmer Aufenthaltsort für einen armen Gefangenen, sagte ich, nur um etwas gesagt zu haben.

»Gewiß doch,« antwortete Don Alonso mit einem leisen Lächeln. »Wenn man dreißig Jahre hier sitzen soll, ist es schon der Mühe wert, daß man sich wohnlich einrichtet. Gut gewohnt ist halb gelebt.«

»Dreißig Jahre?«

»Keinen Tag weniger, wenn nicht meine Advokaten noch etwas abhandeln.«

»Und warum das?« wagte ich zu fragen.

»Ah, warum? Der wäre glücklich, der da wüßte, warum! Eben weil es dem Polizeidelegierten so gefallen hat. Ich habe eine Wirtschaft betrieben in der Rua Ricachuelo und ebenso noch einen Kramladen an der Praça Commercao. Und eines Tages kommt Don Felipe nach meinem Laden und behauptet, es wäre seiner. Das war schon ein starkes Stück, denn er war ein hergelaufener Hungerleider, der nie etwas anderes besessen hat als das, was er auf dem Leibe trug. Aber er war ein Portugiese und ein Freund des Polizeidelegierten, und das ist so viel wert wie ein großer Geldbeutel hierzulande. – Bueno, ich werfe Don Felipe auf die Straße, und er kommt gleich wieder mit drei Schutzleuten. Mein Revolver geht los, und das war das letzte, was man je gesehen hat von Don Felipe. Du lieber Gott, so etwas passiert alle Tage ein dutzendmal im Matto Grosso! Wär's ein anderer gewesen, so hätte kein Hahn danach gekräht. Aber dieser war ein Schwager des Präfekten und hatte einen Schwarm von cuñados und compadres, der bis nach Rio reichte. Es ist nicht gesund, wenn man sich mit solchen Leuten abgibt. Mich hat es dreißig Jahre Gefängnis gekostet.«

»Und werden Sie das auch absitzen?« fragte ich begierig.

»Die dreißig Jahre? Ich denke doch nicht daran!«

»Wenn Sie doch dazu verurteilt sind.«

»Das ist alles nur Papier, Caballero! Der Delegierte ist doch auch ein Christenmensch, der mit sich reden läßt, wenn die Advokaten mit dem Geldbeutel klingeln. Don Felipe ist tot, und ich dächte, ein lebendiger Don Alonso mit einem Bankkonto ist doch mehr wert als ein toter Hungerleider. Verlassen Sie sich darauf, Caballero! Ich bin dreißig Jahre im Lande. Ich kenne mich aus in der Politik.« Umständlich zündete er eine neue Zigarette an, während er die Beine immer länger aus dem Klubsessel herausstreckte. Dann schaute er eine ganze Weile den Rauchringeln nach mit einer großen Miene der Selbstzufriedenheit.

»Können Sie Schach spielen?« fragte er unvermittelt.

»Ja,« antwortete ich.

Wir spielten an jenem Abend und während der nächsten drei Tage noch manche Partie Schach, ich und mein Freund, der Mörder. Ich spielte schlecht und er ganz erbärmlich, da aber pünktlich zu jeder Mahlzeit ein salutierender Polizeisoldat auf der Bildfläche erschien und auf Kosten des Don Alonso für jeden von uns ein leckeres Essen aus dem Hotel brachte, hatte ich im Grunde genommen nichts gegen solche Gefängnisstrafe und machte mir auch weiter keine Gedanken um mein Schicksal, bis eines Morgens ein dicker Herr in weißer Uniform auftauchte, dessen Erscheinen wie das eines Löwen unter einer Schar geängstigter Lämmer wirkte.

»Delegado da policia!« ging es von Mund zu Mund.

Der Delegado schaute sich um mit wahrhaft napoleonischer Miene. In der Hand hatte er eine Liste, aus der er ein halbes Dutzend Namen, beziehungsweise Nummern aufrief.

»Nummer hundertzweiundvierzig!«

Nur allzu bereitwillig trat ich vor, denn ich dachte nicht anders, als daß man mich nunmehr entlassen würde nach erkanntem Irrtum. Aber mein Freund, der Mörder, belehrte mich eines anderen.

»Entlassen? Deportieren wird man Sie, Caballero! Auf Lebenszeit deportieren nach den Sümpfen in der Gegend von Cuyabá. Nach dem brasilianischen Sibirien. Wenn Sie erst einmal dort sind, so gibt es keine Rettung mehr. Noch nie ist einer lebendig von dort zurückgekommen!«

Einen Augenblick starrte ich ihn sprachlos an. Was ich hörte, konnte ich noch nicht fassen. Noch immer weigerte sich der Kopf, das zu verstehen, was die Ohren hörten. Noch immer verstand ich nichts von diesem Netzwerk des Teufels, in das ich ohne Scheu und Schuld hineingetölpelt war. Aber man ließ mir auch keine Zeit zum Nachdenken. Was immer aus den anderen wurde, deren Nummern man aufgerufen hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls schafften sie vorerst nur die beiden anwesenden Gringos fort, das heißt mich und einen langen Yankee, der schon zwei Monate in diesem Loch von einem Gefängnis zugebracht hatte und nun sehr erfreut war über diese Wendung in seinem Geschick, denn sie hatten ihm erzählt, daß sie uns nach São Paulo schaffen wollten. Die gleiche Hoffnung hatten sie auch mir gemacht, aber ich wußte es besser. Immerhin war es ein Strohhalm der Hoffnung, an den ich mich klammerte wider besseres Wissen. – War es denn wahr, was man mit uns vorhatte? Konnte es wahr sein? Oder war es am Ende nicht doch eine Fieberphantasie, ein grausiger Höllenspuk, aus dem man aufwachen würde wie aus einem wüsten Traum?

Schon nach wenigen Minuten führten sie uns fort aus dem Gefängnis. Sie mußten uns in der Tat für sehr schwere Jungen halten, denn für uns beide leisteten sie sich eine Bedeckung von vier Polizisten, obenan Cascabel. Wir gingen durch die Straßen der Stadt, die still und tot dalagen in der grellen Mittagshitze. Alle Türen waren verschlossen, alle Fenster verrammelt gegen den Angriff der Hitze. Alles war Hitze, Sonne, Stille. Nur die verwilderten Hunde bellten unaufhörlich ein schauriges, mißtönendes Bellen, das aufreizend wirkte auf die aufgeregten Nerven.

Drunten am Hafen mußten wir stundenlang warten. Es waren die vier traurigsten Stunden meines Lebens. Wenn ich je das Gefühl der Verzweiflung, der absoluten Hoffnungslosigkeit gekannt habe, so war es hier. Ringsum saßen die Soldaten wie vier Bulldoggen auf dem Sande, der wie ein Backofen unter der brütenden Sonne glühte. Eine Stunde verging und noch eine. Die Augen fielen mir zu vor Müdigkeit. Am liebsten hätte ich mich hingelegt, um nichts zu denken und zu fühlen, und dennoch fühlte ich es in allen Fingerspitzen, daß etwas getan werden mußte. Es fiel mir ein, daß ich irgendwo ein Bündel Kleider liegen hatte, die ich mitnehmen könnte, und ich machte den Soldaten den Vorschlag, sie zu holen. Da sagten sie: »Paciencia«

Ich sagte, ich wolle das Geld abholen, das ich im Elektrizitätswerk noch gut hatte.

»Paciencia.«

Plötzlich bemerkte ich unter den Vorübergehenden einen Mann, den ich kannte. Ein Deutscher, der Inhaber eines Exportgeschäftes. Wer konnte gerufener kommen als dieser. Er war ein Mann von Einfluß, ein prominenter Mann, wie man in Amerika zu sagen pflegt. Ein Wort von ihm vermochte mehr als alle meine Klagen. Und er war doch schließlich und endlich ein Landsmann. Aber es gibt allerlei Landsleute! Zigarettenrauchend ging er vorüber. Zigarettenrauchend schaute er mich an und ging weiter, ohne auf meine Worte zu hören. Einige Tage später sollte ich erfahren, was es mit diesem lieben Landsmann auf sich hatte.

Wenige Minuten später standen wir auf dem kleinen Flußdampfer. – Wo sollte die Reise hingehen? Zitternd vor Furcht und Hoffnung wandte ich mich an einen der Matrosen. Die Antwort traf mich wie ein Keulenschlag:

»Cuyabá!«

 


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