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XVII

»Auf der Stufe der Kultur, auf der das menschliche Geschlecht steht, ist der Krieg ein unentbehrliches Mittel, diese noch weiter zu bringen; und nur nach einer – Gott weiß wann! – vollendeten Kultur würde ein immerwährender Friede für uns heilsam, und auch nur durch jene allein möglich sein.«

Kant

 

»Wie ich meine – und wenn ich's meine, weiß ich's genau – wird von diesen meinen Worten noch einmal die Rede sein. Da wird einer sie nehmen, das Maß, das sie jetzt haben, ihnen vom Leibe reißen, dafür ihnen ein purpurnes Gewand geben, sie schön verbrämen und so alle Welt damit bezwingen: er selbst ein von mir leicht bezwungner Held.«

Epicharmos, um 550 v. Chr.

 

Königswinter am Rhein,
September 1931.

Sommerabend – Hans ten Brinken saß auf der Terrasse des Europäischen Hofs – wo sonst sollte man sitzen in Königswinter? Er rief laut, als der Rheindampfer hielt, winkte Hemmerling heraufzukommen. Er nahm den Schöpflöffel, füllte zwei Gläser, streckte ihm beide Hände entgegen. »Grad zurecht, Fritzchen, eben ist die Erdbeerbowle fertig.«

Sie setzten sich, stießen an. »Kommst auch sonst zur rechten Zeit zurück nach Deutschland«, fuhr er fort. »Was uns im zweiten Jahrzehnt nicht gelang, vielleicht schaffen wir's im dritten. Fast schaut's so aus.«

Der Troßbub nickte. »Hab's auch so im Gefühl. Lange genug hat –«

Brinken unterbrach ihn. »Schau hinunter! Da kommt die Frau, von der ich dir schrieb.«

»Die Schottin?« fragte Fritz Hemmerling.

Brinken nickte. »Ja, die. Sie hat heutnachmittag bei mir gesessen – da, wo du jetzt sitzt. Hat mir erzählt – jetzt fährt sie wieder hinaus zu Gerhard Scholz.«

Die große Frau trat zu ihrem Zweisitzer. Ihre blonden Haarsträhnen wehten im Wind, wie der lange blaue Schleier, der ihr um den Hals lag. Ein Hotelpage lief hinter ihr, hob Mantel und Ledertasche ins Auto. Sie prüfte die Lampen, warf einen Blick zum Himmel – nein, man brauchte sie noch nicht anzudrehn; noch eine halbe Stunde würde hingehn zur Dämmerung. Ihr Blick fiel auf die Terrasse; sie erkannte Brinken, grüßte hinauf. »Gute Fahrt!« rief er; sie winkte, wand den Schleier um den Kopf. Dann gab sie Gas.

Fritz Hemmerling sah ihr nach. »Dorthin? Also am Petersberg vorbei, am Nonnenstromberg und Ölberg – da kommt sie bei Nonnenburg auf die große Landstraße.«

»Tust ja grad, als ob du ein Bonner Student seist«, sagte Brinken.

Der Troßbub lachte. »Hab ich nicht im Siebengebirge Geländekunst studiert, mit dir und den andern, als Gerhard Scholz die Sonderbündler auf den Trab brachte? Sieben Jahre gaben sie Ruh – nun heißt's in den Blättern, daß sie sich wieder mausig machen.«

Brinken nickte. »Bei uns nicht, aber in der Pfalz und an der Saar; sie werden ihr Bestes tun, daß das Saarland nicht mehr zurückkehrt zum Reich. Möglich, daß wir bald wieder Arbeit haben.«

»Wenn nur Scholz dabei war«, meinte Fritz, »ich würd ihm heute noch den Bügel halten.«

Sein Freund zuckte die Achseln. »Ich fürchte, da ist wenig Hoffnung.«

»Erzähl«, verlangte der Troßbub.

Hans Brinken füllte die bauchigen Bowlengläser. »Diese letzte Zeit – das war kein Vergnügen. Gerhard Scholz wollte niemanden sehn, auch Schwester Pia nicht, auch Paul Hornemann nicht. Wenn ich zu ihm in die Zelle kam, beachtete er mich nicht, tat so, als ob ich nicht da sei – im besten Falle hörte ich ein hartes, bellendes Lachen. Ich war jedesmal froh, wenn ich wieder draußen war.«

»Wie nannte es der Arzt?« fragte der Troßbub.

»Garnicht«, erwiderte Brinken. »Oder höchstens: Haftpsychose – ein schönes Wort, das alles bedeutet und nichts.«

Er fischte ein paar Walderdbeeren aus seinem Glas, zerquetschte sie auf der Zunge. »Die Nachricht«, fuhr er fort, »daß der Gnadenerlaß endlich heraus sei, und die andre, daß er dennoch wegen der verrückten Geschichte im Polizeipräsidium noch weiter sitzen müsse, machte gar keinen Eindruck auf ihn. Er nickte nur, als ich ihm davon sprach, fing dann an zu lachen. Er weigerte sich, ein Gnadengesuch zu unterzeichnen; unsre Bemühungen in Berlin, hinter seinem Rücken für ihn etwas zu erreichen, waren völlig erfolglos. Dann, Ende Juli, erstes Auftreten der schottischen Dame.«

»Davon schriebst du mir«, sagte Fritz. »Die hat ja mächtigen Eindruck auf dich gemacht. Doch versteh ich nicht recht: wenn sie damals in Brioni schon entschlossen war, warum meldet sie sich erst nach zwei Jahren?«

»Ich hab sie nicht gefragt«, antwortete Brinken, »ich war froh, solch unerwartete Hilfe zu finden. Aber ich kann mir's schon denken nach dem, was sie so erzählte. Sie war verheiratet, lebte zwar längst getrennt von ihrem Mann, war aber nicht geschieden – es scheint, daß das in England viel schwieriger ist als bei uns. Aber sie schaffte es, fuhr dann nach Deutschland, suchte mich auf. Dazu kam: sie wußte lange Zeit nicht, daß Gerhard wieder festsaß; über seine Wiederverhaftung wie über seine Verurteilung wegen des Boxkampfes im Präsidium erschien ja merkwürdig wenig in den Blättern.«

Er knipste die Tischlampe an, blickte hinaus in die Dämmerung, seufzte leicht. »Mächtigen Eindruck hat sie auf mich gemacht, meinst du? Mag schon sein, bei mir brauchte die Lady sicherlich nicht zweimal bitte zu sagen. Aber leider hat sie keine Verwendung für mich – oder doch nur, um ihr bei Gerhard zu helfen. Die weiß, was sie will – nach einer halben Stunde hatte sie mich so weit, daß ich mit ihr nach Berlin fuhr, so wie ich ging und stand. Dort gebrauchte sie meine Hilfe nur insofern, als ich ihr als juristischer Führer bei den verschiedenen Ämtern diente; alle nötigen Einführungen verschaffte sie sich selbst – der britische Botschafter ist ihr Vetter. Uns hätten sie Gerhard nicht eine halbe Stunde früher herausgegeben; diese Frau setzte in zwei Tagen durch, daß man ihn freigab.«

»Hat sie ihn abgeholt?« fragte der Troßbub.

Brinken schüttelte den Kopf. »Nein. Sie verbot uns sogar, ihm zu sagen, daß sie seine Freilassung erwirkte, erklärte, vorderhand völlig im Hintergrund bleiben zu wollen. So fiel mir die Aufgabe zu, ihn abzuholen: ich eröffnete damit die Reihe jämmerlicher Mißerfolge, die wir in der Behandlung Gerhards hatten.«

»Ihr hättet mich verständigen sollen«, sagte der Troßbub.

Hans ten Brinken lachte. »Dann hätten wir noch eine Pleite mehr gehabt! Hör zu: er weigerte sich, mitzukommen, so fing's an. Er habe nicht um Gnade gebeten, wolle niemandem etwas zu danken haben. Er dachte garnicht daran, die vorgeschriebenen Förmlichkeiten zu erfüllen, setzte sich hin, rührte sich nicht vom Fleck. Ich erschöpfte den Born meiner Beredsamkeit, meingott, ich fand wirklich warme und gute Worte, die mir tief aus dem Herzen kamen. Er lachte mich aus. Als der Schließer sein Heil versuchte, wurde er bösartig, sprang auf, schwang drohend seinen Schemel. Ich zog den Mann rasch aus der Zelle, sprach mit dem Anstaltsdirektor, der mir zwei bärenstarke Wachtmeister mitgab – wenn es schon zu Tätlichkeiten kommen sollte, wollte ich wenigstens verhindern, daß Gerhard sich wieder einer Körperverletzung schuldig machte, die ihm unweigerlich eine neue, schwere Gefängnisstrafe eingetragen hätte. Die Beamten betraten die Zelle; Gerhard lächelte sie freundlich an, ließ sich ruhig Handfesseln anlegen und abführen – er glaubte augenscheinlich, daß man ihn wegen der Bedrohung des Schließers in Arrest bringen wolle. Sie führten ihn durch die Gänge, die Treppe hinunter, über einen Hof – derweilen belehrte mich der Direktor, wie man die Handschellen lösen müsse. Ich stieg in mein Auto, fuhr um das Gebäude herum – die Hoftür öffnete sich, die beiden drängten Gerhard hinaus, hoben ihn hoch, setzten ihn neben mich.

»So fuhr ich ihn im offnen Wagen durch die Stadt – in Handschellen.

»Ich versuchte, mit ihm zu sprechen; er antwortete nicht. Ich bat, ihm die Fesseln abnehmen zu dürfen – er schüttelte den Kopf. Und ich durfte nicht halten, mußte weiter, immer in Angst, daß er sonst eine Dummheit machen würde.

»Wir fuhren an Köln vorbei, hinauf die rechte Rheinseite. Bei Brühl etwa streckte er mir die Arme hin; ich hielt, löste ihm die Armbänder. Aber er antwortete noch immer nicht.

»Es war verabredet, daß ich ihn zum Petersberg bringen sollte – dort wartete Schwester Pia; der Gefängnisarzt hatte dringend geraten, ihn einstweilen in der Pflege einer Schwester zu lassen. Als wir oben ankamen, empfing uns Schwester Pia vor dem Hotel; Gerhard nickte nur, sprach kein Wort, beachtete ihre ausgestreckte Hand nicht. Die Zimmer lagen nebeneinander; sie ging mit ihm hinauf. Ich machte noch einen Spaziergang, wartete auf die beiden zum Abendessen. Gegen halb zehn endlich erschien die Schwester – allein; sie hatte bisher nichts mit ihm anfangen können. Er hatte sich mitten in sein Zimmer gesetzt, war auf und ab gelaufen, dann wieder unbeweglich stehn geblieben – kurz, er hatte sich genau so benommen wie in der Zelle. Geantwortet hatte er ihr ebensowenig wie mir, nur ein paarmal gelacht – das einzige Wort, das sie zu hören bekam, war ›Jodtante‹. Wir saßen eine Stunde beisammen; dann ging sie hinauf – kam gleich wieder zurück. In ihrem Zimmer habe Gerhard gestanden, berichtete sie, dicht beim Spiegeltisch – du weißt ja, daß Schwester Pia stets ihre Siebensachen mit herumschleppt; wo immer sie ist, ihre Binden und Gläser und Scheren aufbaut, wie andre Frauen Puder, Schminke und Riechzeug. Also da stand Gerhard, ihr liebstes Fläschchen in der Hand, goß dessen Inhalt über sie – Jod, treffliches Jod! Ich sag dir, Troßbub, großartig sah sie aus! Ihr ganzes Kleid, Gesicht, Hände, alles braungesoßt – ein Glück nur, daß sie nichts in die Augen bekam. Nun ist die Schwester gewiß die größte Jodfreundin Mitteleuropas, aber nur für andre – sie war völlig außerstande, den Sinn der Jodkur am eignen Leibe einzusehn. Obwohl nicht zu leugnen ist, daß das hochgelobte Jod auch hier wirkte, jedenfalls den von Gerhard gewünschten Erfolg hatte: sie verlor – zum erstenmal im Leben, glaub ich – ihre Fassung, weinte und schluchzte, je mehr ich lachte. Wenn er einen hübschen Bauch- oder Lungenschuß gehabt hätte, oder wenigstens ein zersplittertes Schienbein – mit Wonne hätte sie ihn gepflegt! So aber, ein im Käfig verblödetes, bösartig gewordenes Tier – nein, sie dankte!

»Ich rief Paul Hornemann an; früh am andern Tag holte er Gerhard auf sein Schloß im Sauerland. Gerhard ließ sich geduldig in den Wagen packen, antwortete doch Paul so wenig wie uns. Ich blieb den Tag über mit Pia, mußte ihr in Bonn ein neues Kleid besorgen – wie gewöhnlich hatte sie nur das eine Schwesternkleid mit. Sie schalt die ganze Zeit über, schimpfte auf Gerhard, als ob er das schlimmste Verbrechen der Welt begangen habe. Abends erst, als ich sie zum Bahnhof brachte, als wir in der Halle auf und nieder gingen, wurde sie schweigsam. Blieb plötzlich stehn, sah mich groß an mit ihren guten, braunen Augen, sagte: ›Armes Vögelchen!‹

»›Wer?‹ fragte ich. ›Ich?‹

»Sie schüttelte den Kopf, sprach: ›Du? Nein, Gerhard! Wenn du ihn siehst, sag ihm – nein, sag's ihm lieber nicht!‹

»›Was denn?‹ fragte ich

»Schwester Pia sagte: ›Es fiel mir was ein. In Oberschlesien war's, nicht weit von der Oder, fünf Tage vor Annaberg – zehn Jahre ist das nun her. Ein starker Bursch war er damals – Sehnen und Muskeln, kein Lot Fleisch zuviel, wie eine Tanne so schlank. Eisen und Stahl – o gewiß! Da sagt ich zu ihm: ›Bist doch ein armes Vögelchen – drinnen singt es und träumt. Flieg überfeld, Vögelchen, nimm dich wohl in acht, daß sie dich nicht in den Käfig stecken.‹ – Sechs Jahre lang saß er im Käfig – da brachen seine Flügel, und sein Herz wurde zu Stein.‹

»Der Zug lief ein, ich half ihr einsteigen. Sie kam ans Fenster, reichte mir die Hand; Tränen hingen in ihren Augen. Sie sagte: ›Jod? Literweise mag er mich vollschütten, wenn nur sein armes Herz wieder –‹

»Der Zug fuhr an; sie winkte mir nach mit dem Taschentuch.

»Früh am nächsten Morgen fuhr ich das Aggertal hinauf zu Hornemanns – in sehr übler Laune fand ich sie. Frau Ellen war völlig verheult; Paul lief schimpfend und fluchend in den Ställen umher. Dazwischen sang er, falscher als je: ›Als ich noch klein war – mein Herz noch rein war – trotz größtem Flei–iße –‹ Ich ging hinauf: Gerhard saß mitten in seinem Zimmer, stumm und stur auf einsamem Stuhl, rührte sich nicht.«

»Herrgott«, unterbrach ihn Fritz, »konntet ihr ihn nicht in ein Sanatorium bringen?«

»Das wär das allerdümmste gewesen«, erwiderte Brinken. »Der Arzt, der ihn all die Zeit im Gefängnis beobachtet hatte und seinen Zustand gründlich kannte, riet dringend davon ab. ›Wenn ihr ihn jetzt in eine Anstalt bringt, bekommt ihr ihn nie wieder heraus!‹ Wir steckten also die Köpfe zusammen, brachten ihn andern Tags zum Westerwald – da hat Paul eine große Jagd und ein stilles, einsames Forsthaus – kreuzbrave Leute, der Förster und seine Frau! Wir taten noch ein übriges, ließen Döres Schmitz kommen.«

Der Troßbub wiegte den Kopf. »Den? Ich weiß nicht, ob der grade der geeignete war.«

»Sieh doch an«, rief Brinken, »trägst du ihm vielleicht den Aschermittwoch nach? Uns schien er jedenfalls der richtige, um Gerhard aufzuputschen! Der Kerl hat es doch fertiggebracht, dir ein Aschenprischen des alten Herrn Scholz anzubieten, und du hast das Zeug mit Wonne geschnupft!«

»Du etwa nicht?« entrüstete sich der Troßbub. »Nur vergißt du, daß wir damals wie die Schweine besoffen waren, nicht mehr zurechnungsfähig.«

Hans ten Brinken nickte. »Ganz recht. Aber glaubst du, daß Gerhard heute in viel anderm Zustand sei? Er ist nicht geisteskrank, das ist er nicht – aber auch nicht sehr weit davon. Er ist besoffen, besoffen von sechsjährigem Zellenstank und bestimmt nicht zurechnungsfähig. Der Mann aus Himmelgeist hat ihn hundertmal zum Lachen gebracht – zum wirklichen, gesunden Lachen, nicht zu dem scheußlichen, irren Gelächter, das er jetzt ausstößt. Er hat ihm die Laune aufgefrischt in den schwersten Lagen, im Schützengraben wie im Freikorpslager, im Baltenland wie am Rhein. Was er in Bad Eilsen fertigbrachte, war erstaunlich – der Arzt dort erklärte, daß er für Gerhards Gesundheit mehr getan habe als alle Bäder und Pillen und guten Ratschläge. Nur – diesmal war selbst Döres Schmitz ein Fehlschlag!

»Er kam sofort, hauste im Forsthaus mit Gerhard vierzehn Tage lang. Dann legte er sein Amt nieder, kam völlig niedergeschlagen aufs Schloß. ›Et jeht nich‹, erklärte er, ›et jeht partu nich. Dä Oberleutnant is janz ramdösig jeworde. Dä läuft durch dä Wald erum un sieht nix. Oder er sitzt un döst – un redt nix und tut nix – da kanmer mache wat mer will, dä rührt sich nich. Dat is ene richtije Fisternölles jeworde, dä Oberleutnant, da dreht sich einem dat Herz im Leib erum, wemmer dat mit ansieht. Ich bin schon selber janz fukakig im Kopp – bloß vom Zukucke!‹«

»Und was sagen die Försterleute?« fragte Fritz.

»Sie bestätigen das alles«, erwiderte Brinken, »haben nicht viel hinzuzufügen. Er ißt und trinkt, was man ihm vorsetzt, freilich nur, wenn er allein in seinem Zimmer sitzt. Er benimmt sich durchaus vernünftig, aber er spricht nicht, nimmt an nichts Anteil, benimmt sich, als ob nichts in der Welt ihn mehr was angehe. Seit sechs Wochen geht das nun so. Er atmet und schläft und hört und sieht und denkt, wie du und ich – und ist doch tot, Gerhard Scholz. Nur die Lady will das nicht glauben.«

»Hat sie was erreicht?« fragte der Troßbub.

Brinken zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht recht. Sie sucht im Wald herum, trifft ihn. Geht neben ihm her, setzt sich zu ihm, wenn er sich hinsetzt. Geht fort, wenn sie glaubt, daß er das wünsche. Im Anfang war sie nicht drei Minuten bei ihm, jetzt sitzt sie halbe Stunden lang neben ihm.«

Fritz Hemmerling sagte: »Hat er sie erkannt?«

»Natürlich«, nickte der Andre. »Er erkennt jeden – ich sagte dir ja, daß er völlig vernünftig ist, garnicht geistesgestört. Manchmal spricht sie zu ihm; er hört ruhig zu, versteht auch, was sie sagt. Aber er antwortet nicht; es ist, als ob alles nur bis zu einer gewissen Tiefe in ihn eindringe, dann auf eine feste Wand stoße. Sie gibt doch nicht nach. Sie wohnt hier im Hotel, fährt jeden Tag in ihrem Wagen zum Westerwald – übernachtet manchmal im Forsthaus. Wenn er sich dran gewöhnt hat, will sie ganz hinziehn – Platz genug ist da. Vor einer Woche, als ich sie das letzte Mal sah, war sie ein wenig hoffnungsfreudiger. Nicht, daß er etwa zu ihr gesprochen hätte – beileibe nicht. Aber sonst war er zurückgezuckt bei jeder kleinsten Berührung, hatte ihr sowenig die Hand gegeben wie einem von uns. Sie fand ihn im Walde an seiner gewohnten Stelle, setzte sich still neben ihn. Nahm dann, ganz leise, ganz vorsichtig, seine Hand, die auf dem Moos lag. Er rührte sich nicht, ließ sie durch kein Wort, keine Bewegung verstehn, daß er die Berührung bemerkt habe. Aber er zog auch seine Hand nicht weg. Das war vor acht Tagen – heute hat er zu ihr gesprochen.«

»Was hat er gesagt?« fragte Fritz.

»Ganze drei Worte«, antwortete sein Freund. »Die schottische Lady hält das für einen großen Erfolg. Du mußt wissen, daß sie recht gut Deutsch versteht – hat's als Kind von ihrer Bonne gelernt. Sie sprach in Brioni stets Deutsch mit Gerhard; fast fehlerfrei, nur die Aussprache war wohl ein bißchen wüst. Diese Zeit nun hat sie benutzt, ihre Sprache zu schleifen – man muß schon ein sehr feines Ohr haben, ihr die Ausländerin anzumerken. Gut also, sie saß heutmorgen bei ihm am Forellenbach, redete zu ihm wie gewöhnlich – weiß nicht was; sie hat nie erzählt, was sie eigentlich zu ihm spricht. Plötzlich dreht er sich um, schaut sie an, sagt – nein, das ist zuviel, bewegt die Lippen, flüstert kaum hörbar. Aber sie verstand es doch – drei kleine Worte: › Wie eine – Deutsche‹.«

Der Troßbub wiederholte: »Wie eine Deutsche.« Er leerte sein Hümpchen, hielt es dem Freunde hin. »Das ist alles? Mehr nicht?«

Hans ten Brinken schenkte ihm ein. »Nein – nicht mehr. Aber sie ist schon froh, daß sie das erreicht hat – es ist das erste kleine Zeichen für die Möglichkeit, daß er wieder in eine Beziehung tritt zu dem, was um ihn herum ist. Gleich, ob das ein Baum ist oder ein Buch, ein Stern oder eine Frauenhand. Wenn sich der Frost in ihm löst – möglich, daß doch noch ein Frühling blüht in seinem armen, totstarren Herz.«

»Glaubst du daran?« fragte Fritz.

Brinken wiegte den Kopf. »Die Frau glaubt es – und vielleicht hat sie recht. Sag mal, Troßbub, kennst du das Märchen vom Froschkönig und dem eisernen Heinrich?«

Fritz Hemmerling sperrte die Augen auf. »Du magst mich nach Brückenbauten fragen, nach Pfeilern und Gurtungen, auch nach Autos und Pferden – da werd ich dir keine Antwort schuldig bleiben. Aber Märchen – in unsrer Zeit?«

Der Freund lächelte. »Deine Brücken vergehn, veraltet sind nach wenigen Jahren deine Autos – unwirklich ist das alles, geht die Seele nichts an. Aber das Märchen bleibt ewig jung und wahr. Der Froschkönig – natürlich war es ein Königssohn, der von einer bösen Hexe in einen häßlichen Frosch verwandelt wurde und nun im tiefen Brunnen hauste; eine wunderschöne Prinzessin erlöste ihn. Da kam ein Wagen gefahren mit acht weißen Pferden bespannt, die hatten weiße Straußfedern auf dem Kopf und trabten in goldenen Ketten; hintenauf aber stand der Diener des jungen Königs, das war der treue Heinrich. Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr in einen Frosch verwandelt wurde, daß er sich drei eiserne Banden hatte um sein Herz legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Der Wagen aber sollte den jungen König und seine Braut in sein Reich abholen; der treue Heinrich hob beide hinein, stellte sich hintenauf und war voller Freude über die Erlösung. Als sie ein Stück gefahren waren, hörte der Königssohn, daß es hinter ihm krachte, als wäre etwas gebrochen. Da drehte er sich um und rief:

›Heinrich, der Wagen bricht!‹
›Nein, Herr, der Wagen nicht,
Es ist ein Band von meinem Herzen,
Das da lag in großen Schmerzen,
Als du in dem Bronnen saßt,
Als du eine Fretsche wast!‹

Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg; der Königssohn meinte immer, der Wagen bräche, und es waren doch nur die eisernen Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich sprangen, weil sein Herr nun erlöst und glücklich war.«

»Du bist ein Dichter«, sagte der Troßbub. »Der Mond küßt den Rhein, da klingen Märchen zwischen Bergen und Burgen. Du vergißt unsre Zeit – ein Träumer bist du.«

Hans ten Brinken blickte hinaus auf den Strom. »Bin ich das?« sagte er still. »Da drüben liegt Godesberg, liegt Rolandseck. Roland der Recke, Godes, das ist Wodan – märchenferne Zeiten, doch nicht vergessen vom Rhein. Geknechtet und zertreten liegt Deutschland am Boden, dumpf brütend, ohne Raum, ohne Sonne – wie der arme Frosch im Schlamm des alten Brunnens. Warst du schon einmal in einem Brunnen, Fritzchen?«

Der andre nickte. »Ich? Dutzendmal. Wir haben bei Edinburg sehr schöne Brunnen gebaut, erstaunlich tief, als wir beim Brückenbau von –«

Der Freund unterbrach ihn. »Ist dir da nichts aufgefallen?«

»Was denn?« fragte der Troßbub.

Hans ten Brinken sagte: »Ich saß auch einmal in einem Brunnen; zehn Jahre war ich damals alt. Wir spielten, vier Buben und mein Bäschen – Lili hieß sie, grad wie Gerhards Verlobte. Wir warfen Steine hinein, wanden auch den Eimer hinauf, Wasser zu schöpfen, bekamen doch kaum etwas – glühheißer Sommer und der Brunnen fast ausgetrocknet. Lilis Hündchen, so ein frecher, weißer Seidenspitz, bellte, sprang hoch, wollte durchaus auf den Brunnenrand; ich half ihm – klatsch, lag er unten. Das Mädchen heulte – meine Schuld sei's, ich müsse ihn rausholen. Wir prüften die Kette – die Jungens ließen mich hinab. Es ging ganz gut; ich sprang ab, stak bis über die Knie im Schlamm. Ich wühlte herum, fand auch den Köter – halb erstickt war er, ich kratzte ihm den Schlamm aus der Schnauze – zum Dank biß er mich, sowie er nur japsen konnte. Ich steckte ihn in den Eimer, die Jungens wanden ihn hoch. Aber das Bäschen war genau so undankbar wie ihr frecher Spitz; sie schrie hinunter, daß das arme Geschöpfchen grauenhaft aussehe, schmutzig und schwarz – den Schnupfen würde es womöglich auch noch kriegen. Ich allein sei dran schuld – zur Strafe würden sie mich jetzt unten lassen. Das taten sie auch – lachten und liefen weg. Ich brüllte los, das nützte nicht viel; dann nahm ich mir vor, jeden einzelnen gründlich zu versohlen – für das Bäschen die doppelte Portion.«

»Na – und hast du?« fragte Fritz.

Sein Freund schüttelte den Kopf. »Nein, keinem tat ich was – dankbar war ich ihnen. Denn ich hab da unten etwas erlebt, das mich ein Wunder deuchte.«

Der Troßbub lachte. »Ein Wunder? Sahst wohl den Froschkönig mit goldenem Krönlein?«

»Spotte du nur«, sagte Hans ten Brinken. »Nur Schlamm – kein Fisch, kein Frosch und keine Kröte. Die Sonne grad oben, glühende Mittagssonne, die blendete so stark, daß ich nicht aufschauen konnte; wie im brennenden Ofen stak ich da. Dann aber, dann zog die Sonne nach Westen; kühl und dunkel wurde es in meinem Loch, trostlos und trüb. Da blickte ich auf, da sah ich –«

»Den blauen Himmel«, rief Fritz.

»Ganz recht«, antwortete er, »den sah ich – und viele Sterne darin. Große, leuchtende Sterne – am hellen Tage.«

Der Troßbub stutzte, sann nach. »Nun, das ist schließlich kein Wunder. Eine einfache Lichterscheinung, leicht zu erklären. Wenn man –«

»Wenn man – ja gewiß!« rief der Freund. »Für dich ist's kein Wunder, Herr Ingenieur, du weißt Bescheid! Aber du hast in Dutzend Brunnen gesteckt und hast nichts gesehn, keinen halben Stern! Der verzauberte Lurch aber, der einmal ein Königssohn war und ein strahlender Held, den die feindliche Hexe ins faulige Loch warf, der Frosch, dem dennoch sein deutsches Herz in der Brust schlägt – der schaut nach oben, der sieht die leuchtenden Sterne. Und er träumt und er weiß: von den Sternen kommt die Erlösung, kommt die junge Maid, die ihn wieder zum Menschen macht. Ein Wunder? 0 nein, sowenig wie das Sternesehn am hellen Tag ein Wunder ist! Wenn er erlöst ist, hinaussteigt aus dem Pfuhl der Knechtschaft, wenn, endlich! Deutschland wieder frei ist – dann springen auch die eisernen Bande des treuen Heinrich, die ihm das Weh um sein armes Volk ums Herz schmiedete. Dann, vielleicht, erwacht Gerhard Scholz. Sonst –«

Er zauderte, pfiff zwischen den Zähnen, stieß das Glas hart auf den Tisch. »Sonst: ein Mann mehr über Bord – was liegt daran?!«

Der Troßbub griff die Stirn mit beiden Händen. »Ich hab ihn sehr geliebt«, murmelte er.

Brinken nickte. »Ja – du und wir alle, jeder auf seine Art. Wie er uns geliebt hat, jeden einzelnen von den Zehntausenden, die auf ihn schworen. Dennoch: lachend hätte er jeden von uns jeden Tag geopfert – kein Leben war ihm zu teuer für Deutschland. Den Gedanken brachte er heim aus dem Krieg und den lehrte er uns in dieser schlaffen Friedenszeit: auf mich kommt's nicht an und nicht auf dich und auf keinen, nur um das Volk geht's, nur um Deutschland!«

Er legte dem Freunde die Hand auf den Arm. »Wach auf, Troßbub, noch lebt er, noch mag er gesund werden. – Siehst du die Studenten dort hinten?«

Fritz blickte auf. »Die am letzten Tisch – mit den hellgrünen Stürmern? Sehr stumm sitzen sie da, singen nicht, lachen nicht – trinken still ihren Wein.«

Hans ten Brinken nickte. »Meine Corpsbrüder sind's, sind Westfalen. Vor drei Wochen saß ich mit ihnen – das ist ihr Stammplatz an jedem Mittwoch im Sommer. Damals sangen sie, lärmten sie, dalberten herum mit einem Strauß Pensionsmädel, die am Nebentisch saßen. Und damals waren es neun; heute – zähl nach, Troßbub – sind's nur sechs noch. Einer liegt im Krankenhaus, einer unter der Erde, im Gefängnis sitzt ein dritter. Raufhandel mit Jungkommunisten. Das ist ja Sonntagsvergnügen geworden in unserm Land. Beide Teile standen vor dem Schnellrichter, ich war ihr Anwalt – da sah ich die Rotfrontler. Weißt du, wer ihr Führer war? Der Hamburger Zimmermann, der mit uns bei Ägidienberg kämpfte, der Cowboy, der den Döres Schmitz aus den Separatisten heraushieb. Der! Sein Trupp – junge Leute, erwerbslos, beschäftigungslos, fast alle unterernährt. Man brauchte nur ihre Augen zu sehn: in jedem lebte der Drang der Jugend, seine Kraft zu fühlen, etwas zu tun, gleich was. Und sie hatten, wie unsre Studenten, einen Gedanken, an den sie glaubten, für den sie kämpften und ihr Leben einsetzten. Sie und die Unsren haßten einander wie die Pest, waren jeden Augenblick bereit, den Gegner zu vernichten. Stritten auf der Straße, setzten ihren Streit vor Gericht fort, unerbittlich und mit allen Mitteln, tiefst überzeugt von der Wahrheit des eignen Glaubens, von der gemeinen Verlogenheit des Glaubens der andern. Und dennoch war da etwas, das ihnen gemein war: die Ablehnung der öffentlichen Gewalt, die sie vor Gericht zog, sie durch bezahlte Beamte auf der Straße niederknüppeln und verhaften ließ, im Gerichtssaal verurteilte und ins Gefängnis sperrte. Diese verächtliche Ablehnung einer verkalkten bürgerlichen Ordnung, die sich dennoch einbildet, mit Notverordnungen Gedanken totschlagen zu können. Und sie wußten alle, daß diese Ordnung, die da vor ihnen hinter dem grünen Tisch thronte und große Macht und Gewalt über sie hatte – daß die doch nicht mehr zählte, daß der Tritt ihrer Jugend erbarmungslos darüber wegschreiten und der letzte Endkampf nur zwischen ihnen sein würde.«

»Dann wär's das gescheiteste«, meinte der Troßbub, »wenn man bis dahin zusammenginge, wie wir's im Siebengebirge taten.«

Hans lachte. »Meinst du, daß es bei uns oder bei den Roten einen Führer gibt, der diesen schlauen Gedanken nicht längst gedacht hätte? Misch du Feuer und Wasser – wenn der Mann kommt, der das kann, wird die Ordnung von heute nicht einen Tag länger stehn. Die Bonzen denken, daß es unmöglich sei, so spielen sie uns gegen die Roten und die gegen uns aus, wie's grade nötig ist. Das allein ist ihre Stärke, nur darum herrschen sie. Sie rechnen: zusammen werden wir nie kommen und allein wird's keiner von uns schaffen – sie vergessen nur, daß nichts in der Geschichte unmöglich ist; unsre Zeit hat mehr Dinge gesehn, die aller Welt undenkbar erschienen.«

»Hast recht«, nickte Fritz Hemmerling. »Flugzeuge und Luftschiffe, Tonfilm und Fernsehn, Motor und –«

»Schweig«, rief der andre, »nur ein Narr kann Findungen der Technik und Wissenschaft – selbst die allerbedeutendsten – auf dieselbe Stufe stellen wie die einfachsten Empfindungen des Herzens und der Seele. Und wenn ihr in zwei Stunden nach Neuyork fliegt und euch in Raketen zum Mond schießen laßt, die Zeit ist doch vorbei, wo das Wort ›Technik‹ ein Evangelium war. Dir dein Brot damit zu verdienen, dazu ist sie noch gut und zu nichts sonst – wir haben begriffen, daß die Maschine der Knecht des Menschen ist und nicht sein Gott. Und siehst du, Troßbub, das ist's, warum ich glaube, daß wir siegen werden im letzten Kampfe, und nicht die Roten! Sie führen Sichel und Hammer im Wappen, Sinnbild für Bauer und Handwerker. Aber sie zerschlagen bewußt Handwerk und Bauernwirtschaft, schaffen überall im gewaltigen Sowjetreich Fabriken und landwirtschaftliche Staatsbetriebe. Sichel? Mit Fordschen Treckern pflügen sie und mähen; sie haben das Werkzeug weggeworfen und zur Maschine gegriffen. Sie glauben an die Maschine, glauben an deine Technik, glauben, daß sie mit ihrer Hilfe die Welt erobern und die ganze Menschheit glücklich machen können; sie haben den alten Gott abgesetzt und beten zur Maschine. Wir aber, wir –«

Er brach ab, hell und scharf klang eine Stimme über die Terrasse – hinten, vom Tische der Studenten her: » Ich sag dir, Füchschen: und wenn du dem Vaterland auch dein Lehen gibst, hast du immer noch nicht genug gegeben!«

Der Troßbub preßte den Arm des Freundes. »Hörst du das, Hans Brinken, hörst du das?«

Der andre nickte. »Ich wollte, Gerhard Scholz säße hier. Vielleicht spränge wieder ein eisernes Band von seinem Herzen.«

Sie blickten hinüber zu den Studenten. Einer erhob sich dort am Tisch, faßte sein Glas. Sang in die stille Sommernacht, weit hinaus über den Rhein:

» Deutschland, Deutschland über alles,
Und im Unglück nun erst recht
–«

 


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