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II

»Gesetz heißt: dem Willen eines Einzigen folgen.«

Heraklit.

 

»Alles Glück auf Erden,
Freunde, gibt der Kampf!
Ja, um Freund zu werden,
Braucht es Pulverdampf!
Eins in Drei'n sind Freunde:
Brüder vor der Not,
Gleiche vor dem Feinde,
Freie – vor dem Tod.«

Fr. Nietzsche.

 

Oberschlesien, Juni 1921.

Der Troßbub kann wieder Dienst tun«, knurrte der Hund von Baskerville.

Scholz nickte. »Schön. Er soll mit den Gäulen zum Wald kommen; wird mich schon finden, ich lieg irgendwo am Rand in der Sonne. Wer mich sprechen will, soll auch hinkommen.«

»Befehl, Herr Oberleutnant«, maulte der Wachtmeister. »Haben Herr Oberleutnant vielleicht eine Zigarre?«

Scholz zog seine Tasche heraus. »Sie haben Glück, Kramer; sechs Stück hab ich. Teilen.« Er betrachtete den Wachtmeister, während der seine drei Zigarren nahm und gleich eine anzündete. O ja, so sah der Hund von Baskerville aus, den man vor einem halben Jahr im Film bewundern konnte, kein Wunder, daß ihm die Truppe diesen schönen Namen gab. Nur ein paar schwärzliche Löcher da, wo einmal eine Nase gewesen war; kein Mund mehr – ein riesiges Maul, das wenigstens links bis fast zum Ohr lief. Lippen und Wangen schwappten in eins, richtige Lefzen waren es. Bullenbeißer. Eggeling freilich, mit seiner englischen Bildung, behauptete, daß er ein Mastiff sei, wie der wirkliche Baskerviller; so ein Biest sei noch ungeschlachter als alle größten Metzgerhunde. Meinetwegen Mastiff, dachte Scholz.

Er nickte ihm zu, schlenderte über die Landstraße.

Er wußte, daß dieser Mastiff in einem pommerschen Dorf eine dralle Frau hatte, drei kleine Kinder dazu, von denen wenigstens zwei nicht von ihm waren. Als er – in dem Zustande – aus dem Felde kam, ekelte sich seine Frau vor ihm, fiel fast in Ohnmacht; da zog er wieder hinaus, als die Regierung Freiwillige ins Baltenland rief. Dennoch schickte er ihr jeden Pfennig, den er erübrigen konnte, trug ihr Bild in der Tasche, zeigte es stolz herum: »Meine Olle!« Dieser alte Pasewalker Kürassier schliff seine Leute, wie früher seine Remonten, ritt sie auf Kandare, fest das Eisen ins Maul. Wo der klobige Höhlenmensch mit den langen Affenarmen und den unmenschlichen Pratzen daran sich zeigte, da liefen die Schulbuben von der Straße. Ein Bluthund war er, der seinen Herrn aufs Leben verteidigte, der auf Befehl alles griff, nur das eine Wörtchen benötigte: »Faß!« War doch ein gutes, treues Tier, das mit unendlicher Geduld mit kleinsten Kindern spielte, solchen, die noch nicht gelernt hatten, sich zu fürchten.

Die Sonne brannte, ob es schon kaum acht Uhr war. Er fühlte sich frisch und leicht, hatte heute morgen ein Bad genommen in dem kleinen Bach, das erste seit Wochen. Dann der Brief, den ihm Paul Hornemann gab – von Schwester Pia. Zwei Zeilen nur: ›Schwester M. will dich sprechen; ich schicke sie heute hinüber.‹ Eigentlich ist's darum, überlegte er, daß ich zum Wald laufe. Da kann man sich aussprechen. Und der Troßbub kann Schildwach stehn.

Er hatte sie nicht mehr gesehn seit dem Abend, an dem Schwester Pia ihm den Arm richtete – das war fünf Tage vor Annaberg. Fast vier Wochen lagen dazwischen und der ganze Tanz: damals hatte es kaum begonnen, nun war es – vielleicht – schon zu Ende.

* * *

Das Vorspiel – das war, ehe noch die Oberländer da waren.

Schon im zwanziger Jahre war er nach Oberschlesien gekommen, nach dem baltischen Abenteuer und den Spartakuskämpfen im Ruhrland. Hatte zusammengearbeitet mit einer kleinen Gruppe, die die allzu deutlichen Pläne der Polen und Franzosen zu durchkreuzen versuchte. Schon hieß das Land nicht mehr Oberschlesien, hieß: ›Territoire Plébiscite de la Haute-Silésie‹ – Freimarken mit diesem schönen Namen konnte man auf seine Briefe kleben. Er, Scholz, schrieb nicht oft, nur der Schwester nachhause. Aber Paulchen Hornemann hatte mehr Verbrauch, der war all seinen Bräuten treu, schrieb ihnen Karten aus jeder Stadt. Aber er spie auf jede Marke, ehe er sie aufpappte. Antwort erwartete er nicht, gab auch nie seine Anschrift – man mußte ja sehr anonym bleiben in der ›Haute-Silésie‹. In Oppeln regierte die Interalliierte Kommission, an der Spitze General Le Rond, der seinem Freunde Korfanty gut die Karten mischte – die zwei und ihre Leute verstanden ihr Handwerk, faßten unbarmherzig zu, fragten nicht erst, ob man den Richtigen hatte.

Und sie waren die Richtigen: Hauenburg, Schlageter, Heydebreck, Franz Mayr und die andern. Hornemann auch und er, Scholz. Sie hatten überall Verbindungen, erfuhren die Pläne der polnischen Kampfverbände frisch von der Schreibmaschine. Sie befreiten Gefangene, halfen Verfolgten über die Grenze. Stahlen polnische Waffen, gaben sie dem heimattreuen Selbstschutz. Die Hauptsache aber war, daß diese paar Dutzend Männer überhaupt da waren, diese Tollköpfe, die sich vor dem Satan nicht fürchteten. Sie tauchten überall auf, in den großen Städten wie in dem kleinsten Dorfe, stärkten das Rückgrat allen, die deutsch dachten. Dann kam, 1921, der zwanzigste März: die ›Territoire Plébiscite‹ stimmte ab – trotz polnischen Schreckens, trotz französischer Ränke zu zwei Dritteln für Deutschland.

Ihre Arbeit war nicht umsonst gewesen.

Dann aber warf der Pole die Maske ab. Mit französischer Hilfe wurden Banden bewaffnet, überschritten reguläre Regimenter die Grenzen. In wenig Tagen war das Land bis an die Oder in Feindeshand, nur die großen Städte hoben sich als deutsche Inseln aus der polnischen Flut.

Das Land schrie. Und für den Augenblick schrien die Herrn in der Hohen Kommission mit, die Engländer und Italiener, funkten die Berichterstatter der Presse den Notschrei des gequälten Volkes in alle Welt hinaus.

Da schloß sich der Selbstschutz. Da kamen die Freikorps.

Fähnrich Hauenburg sammelte in Neiße, besetzte dort ein Riesenlager der Reichstreuhandgesellschaft: zerschlagene deutsche Waffen, auf Befehl des Feindes zu Schrott gemacht. Die Landsknechte suchten brauchbare Stücke, setzten sie zusammen. Leo Schlageter flickte ein altes Gebirgsgeschütz zurecht, schmierte in blauer Schürze mit Öl, putzte mit Petroleum. Waldenburger Bergleute waren in seiner Kompanie; die schwuren auf Moskau, aber auf den Schlageter nicht weniger, der sie gegen den verhaßten Polen führte.

Bei der Oderbrücke vor Krappitz hatten sie den ersten Strauß, warfen den Polen zurück – das war am sechsten Mai; tags drauf jagten sie beim Gogoliner Bahnhof den anrennenden Feind in die Wälder. Nacht für Nacht Angriffe der übermächtigen Polen, denen alles zur Verfügung stand, Maschinengewehre, Geschütze, Panzerzüge. Aber die Hauenburger gaben sich nicht, hielten Gogolin, stürmten Strebinow – nahmen den Feinden dort die Waffen ab, die man so dringend gebrauchte. Dann kam Oberland: Bayern und Westfalen – Studenten, Arbeiter, Bauernsöhne. Das gab Atempause.

Zwei, drei Ruhetage – das war die Zeit, als er von Dobrau hinüberritt zu Schwester Pia. Als er Lili wiedersah.

Dann ging's wieder an.

* * *

Erst hinein in den Steirer Forst – links hatte man die Haufen des Grafen Strachwitz, rechts das dritte Bataillon der Oberländer; seine Kompanie stürmte die Sprentschützer Höhen. Heiße Arbeit, aber sie schafften es, hier auf dem linken Flügel; machten den andern Bataillonen der Oberländer Luft, auch den Gogolinern unter Eicken und Lannwitz und den Schwarzfahnen des Obersten v. Chappuis, die Bergerhoff führte. Die nahmen Sakrau, nahmen Dombrowka, während die Hauenburger über Niederellguth nach Niewke drangen.

Das war der Auftakt – nun erst begann das rechte Spiel. Hinten bremste die Oberste Leitung, die Generäle und Stabsoffiziere, die selbst wieder von Berlin nach Kräften gebremst wurden. Man beriet auf Schloß Krappitz, Stab und Freikorpsführer: Gewehr bei Fuß lautete der Befehl; höchstens sollte man polnische Angriffe abschlagen. Da verständigten sich die Führer untereinander, scherten sich einen Dreck um Oberste Leitung und Berlin, nahmen ihr Geschick in eigene Hand. Die Verbindung nach ›hinten‹ riß durch, absichtliche Falschmeldungen gingen an den ewig hemmenden Stab. Hauptmann Römer von Oberland machte den neuen Plan, gruppierte um.

Scholz lachte. Er dachte an den Münchner Studenten vom dritten Oberländer Bataillon, den sie fast überfahren hätten, ehe sie in Dombrowka hielten, hörte ihn wieder fluchen: »So ein sakrischer Spurtsmann auf sei'm Furzwagerl, das Matschakerl hintenaufpappt!« Das Matschakerl, das war er, Scholz, der sakrische Spurtsmann der Hauenburg. Sie kamen von Schloß Krappitz, jagten auf des Fähnrichs Motorrad zurück zur Stellung. Da wußten sie, daß es losgehn würde am andern Morgen.

Von Norden zogen die Hauenburger auf Wyssoka zu, nun hatten sie keinen mehr zur Linken. Die Strachwitzer waren längst zurückgeblieben, nachdem sie dem Grafen sein Stammschloß Groß-Stein zurückerobert hatten. Der Kettenring, der sich von drei Seiten um den Annaberg schloß, hatte nur wenige Glieder: Oberland, Hauenburg, das Fähnlein Gogolin, ganz rechts, aber weit zurück, Teile der Kolonne von Chappuis. Sie wußten ungefähr, wie stark der Feind war – heimattreue Oberschlesier, in polnische Dienste gepreßt, liefen ja täglich über. Was kam's darauf an, ob sie eins zu sieben oder eins zu fünfzehn fochten?!

»Du hast Glück«, sagte Leutnant Hornemann zu Eggeling. »Auf dem Annaberg ist wieder ein Kloster. Ist sicher eine Madonna drin, wenn auch keine schwarze. Kannst also Untersuchungen anstellen – vielleicht ist die da oben eine Kwannon oder eine indische Kali, der man die überzähligen Arme vermalt hat. Leider haben wir kein Auto für dich, mein Junge, auch hast du vergessen, deinen Engländer mitzubringen – da werden die Herrn Polen nicht ganz so liebenswürdig sein wie auf dem Klarenberge von Tschenstochau.«

»Pett di man nech up'n Slips«, lachte der Hamburger. »Ich werd schon raufkommen.« Seine frische Stimme schallte durch den Maimorgen:

»Hupp, min Modder kann Football speel'n,
Hupp, min Modder kann swimm!
Dreemol swimmt se de Alster lank,

't veerte Mol stickt se den Buk in'n Sand!
Hupp, min Modder kann Football speel'n,
Hupp, min Modder kann swimm!«

Und er kam hinauf auf den Annaberg, er und die andern. Bei den Steinbrüchen bekam der Troßbub die Feuertaufe, dieser fünfzehnjährige Schuljunge, Fritzchen Hemmerling aus Neiße. Auf dem Schrottplatz trieb er sich dort herum, war nicht wegzuschlagen. Hauenburg hatte ihn abgewiesen, Schlageter, Wandesleben – da hatte er sich hinter Wachtmeister Kramer geklemmt. Tags drauf kam er an, drei gute Gäule am Halfter. Niemand fragte, wo er die herhatte – Pferde brauchte man wie's liebe Brot. Und es zeigte sich, daß er von Pferden etwas verstand, so ließ man ihn mitlaufen. Der Baskerviller hatte ihm einen verbeulten Stahlhelm geschenkt, auch eine alte Pistole; die zerplatzte beim ersten Schuß – da lief er waffenlos weiter, schwang sein Stöckchen in der Hand. Kletterte, sprang, strauchelte, sprang wieder auf – keine Ahnung von Deckungnehmen. Man rief ihm zu, der Bengel hörte nichts. Scholz sah ihn, weit voraus, wie er mit seinem Stöckchen heiß auf die Polen einstürmte. Die stutzten, schossen dann – ein Wunder ließ sie fehlen. Da schwang einer seine Flinte, knallte ihm den Kolben auf den Schädel; der Helm kullerte zur Erde, dann – wie ein gefälltes Kälbchen – stürzte der Troßbub. Der Feind ging zurück, aber an die Stelle war nicht heranzukommen, zwei Maschinengewehre bestrichen sie. Man muß ihn dennoch holen, dachte Gerhard.

Da hob sich, dicht neben ihm, der Hund von Baskerville. Stieg hoch, lief dann vor, griff den Troßbuben auf. Die Knallbüchsen schwiegen – dachten die Polen, daß da ein Bergungeheuer aus der Schlucht tauche? Der Wachtmeister faßte den Jungen mit seinen Gorillaarmen, trug ihn zurück, wie ein leichtes Bündelchen, deckte ihn mit den breiten Schultern. Nun ratterten wieder die Maschinengewehre, strichen zu hoch, dann zu kurz, taten kein Leids. Schließlich kroch der Hund auf allen vieren – nein, auf dreien nur, hielt mit dem linken Arm und den Zähnen den ohnmächtigen Jungen. Kam heil zurück, legte seine Last nieder, untersuchte den Kopf, wischte das Blut ab – da war nichts geschehn, der alte Stahlhelm hatte sich bewährt. Nein, der ist kein Bullenbeißer, dachte Gerhard, kein Mastiff und Metzgerhund: vom St. Gotthard stammt er, ist ein Bernhardiner.

Der Annaberg gehörte den Freikorps – ganzen tausend Mann. Dreißig Ortschaften waren durch diesen Anlauf von den Polen befreit; aus dem Krappitzer Brückenkopf, den noch vor vierzehn Tagen der tolle Heydebreck, der Einarmige, fast allein mit seinem Maschinengewehr verteidigt hatte, war ein Bogen geworden, der sich zwanzig Kilometer weit ausdehnte und zehn Kilometer in der Tiefe maß.

* * *

Scholz bog ab von der Landstraße, ging über die Wiese. Suchte nicht lange, streckte sich am Waldesrand aus. Erst in der Sonne, dann kroch er in den Schatten der Buchen. Blickte zurück über die Straße – kam da nicht eine in Schwesterntracht? Oder der Troßbub mit den Pferden? Niemanden sah er.

Er fühlte sich ein wenig beengt, unsicher vor dieser Unterredung. Er hatte Lili versprochen, ihr zu schreiben, sie nachkommen zu lassen nach Deutschland – und er hatte nicht geschrieben, nicht ein einziges Mal. Meingott, was hätte er mit ihr anfangen sollen? Als das Abenteuer im Baltenlande zu Ende war, führte er seine Truppen geschlossen nach Ostpreußen, einer der letzten. Die dritte Marinebrigade nahm ihn auf; Kapitän v. Löwenfeld wußte, daß Scholz seine Leute fest in der Hand hatte. So kam er nach Oberschlesien, lag im Lager von Lamsdorf, half die Grenzen decken gegen den polnischen Einbruch, der damals schon drohte, Anfang 1920. Dann ging's im Frühjahr an die Ruhr – hol's der Henker, hier mußte er, ein Deutscher, gegen Deutsche kämpfen. Gegen rote Deutsche – aber kämpfte er nicht auch für Rot? Für Noske, Ebert, Severing? Polizeiarbeit war es, widerlich –

Zurück nach Schlesien – nun war's Verschwörerarbeit. Unterirdisch, nervenaufreibend. Seit Kriegsbeginn war er nicht einmal heim gewesen, in seines Vaters Haus. Auch im Ruhrkampf fand er keine Zeit dazu, ob es gleich nur ein Katzensprung war nach Ratingen bei Düsseldorf. Und da sollte er sich um eine Frau kümmern? Freilich – er dachte an sie. Aber er schrieb ihr nicht, verschob es von Monat zu Monat –

Als er sie wiedersah, wußte er, daß alles genau so war wie damals, daß diese Frau und nur diese Frau –

Er hoffte stets in diesen Wochen, daß sie einmal auftauchen würde. Vergebens. Schwester Pia hatte er öfters gesehn, die lief vorn mit der Front. Längst lag der Annaberg hinter ihnen, die Freischaren fegten in weitem Umkreis das Land. Beim Sturm auf Poppitz sah er die Jodschwester, da schaute sie anders aus als im Dorfkrug. Damals groß aufgemacht mit allen Orden, sauber und weiß vom Häubchen zum Schuh, wie geputztes Messing so blank. Bei Poppitz aber lief sie in festgenagelten Schuhen und grauem Lodenrock – verstaubt und verdreckt, nur die Armbinde erzählte vom Roten Kreuz. Den Lannwitz erwischte es, Beinschuß – Schwester Pia war im Handumdrehen bei ihm. Sie verband ihn; eine halbe Stunde drauf saß er wieder auf seinem Gaul; freilich, er ließ sich festbinden. Lannwitz schwur, daß ihn nicht ihre Kunst so rasch wieder hochgebracht habe – einzig und allein ihre Medizin; die trug sie in einer französischen Zweiliterflasche an die Hüfte geschnallt. Kirsch war darin – Schwester Pia wußte, was Landsknechten frommt.

Salesche, Slawentzitz – Kandrzin zuletzt; das nahm, Bahnhof und Dorf, der wilde Draufgänger Heydebreck. Jetzt noch ein Stoß, ein einziges festes Zugreifen, und auch das Industrieland war wieder deutsch, der letzte Pole über die Grenze gejagt. Da warf, ganz offen nun, sich der Franzose dazwischen. Korfanty blies Schamade, spielte plötzlich den Friedlichen: General Le Rond schob seine Truppen in breiter Linie vor seinen Schützling. Scholz blickte nach Ost – drüben in Ujest blitzten die welschen Bajonette, die durfte man nicht angreifen, wenn sich nicht das Weltgewitter zum andern Male entladen sollte über Deutschland.

Schönes Durcheinander, dachte Gerhard. Im Osten, hinter der Grenze, polnische Regimenter, die warteten, um einzurücken, nur auf ein halbes Augenzwinkern von Paris. Davor, in breiten Massen, Korfantys Freischaren, tapfer wie alle Polen, glühend von Vaterlandsliebe. Und dazwischen, in verzweifelter Furcht, die deutschen Städte. Nun die neutralen Franzosen in zwei Linien – eine dünne, lächelnd den Polen zugekehrt, eine starke, waffenstarrende gegen die Deutschen. Dann die deutschen Freikorps, fluchend in ohnmächtiger Wut, daß sie nicht weiterkonnten, trotz ihrer Siege. Mitten durch sie zog sich eine dünne Kette italienischer Alpenjäger, die trennten die deutsche Front von ihren Reserven. Nun die Reserven, endlich an der Grenzlinie des ›Territoire Plébiscite‹ deutsche Reichswehrtruppen, die mußten aufpassen, daß nicht mehr Freiwillige zu den Freikorps stießen. Denn Berlin hatte genug von den Landsknechten, hoffte und vertraute, wieder einmal, auf die großmütige Entente, auf die unbestechliche Gerechtigkeit der Welt. Hatte nicht das oberschlesische Volk deutlich genug gesprochen, als es sich mit gewaltiger Mehrheit für Deutschland entschied? Bestimmte doch selbst der Versailler Vertrag: in solchem Falle mußte aus der ›Haute-Silésie‹ wieder ein deutsches Oberschlesien werden. Nur ein wenig zu warten brauchte man, nur Vertrauen zu haben, ehrliches Vertrauen! Und natürlich: entgegenkommen, alle Wünsche erfüllen, dieses unbequeme Gesindel von Landsknechten aus dem Lande weisen. Dann würde alles gut gehn.

So wartete man – lag am Waldrand und wartete.

* * *

Fritz Hemmerling trabte über die Landstraße; Scholz rief ihn an. Der Junge sprang ab, führte die beiden Gäule am Zügel, band sie weiter unten an einen Haselbusch. Vorsichtig knüpfte er seinen Stahlhelm vom Sattel, kam dann heran.

»Was schleppst du das Ding mit herum, Troßbub?« fragte Scholz. »Setz es doch auf.«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Aufsetzen kann man ihn nicht mehr.«

»Dann wirf ihn fort«, riet der Oberleutnant.

»Von dem Helm trenn ich mich nicht«, antwortete Fritz. »Hübsches Andenken.«

»Sehr hübsch«, lachte Scholz, »nur ein bißchen schwer. – Schön schaust du aus im Gesicht – braun, blau und gelb. Hast einen tüchtigen Puff abbekommen. Wer hat dich gepflegt? Schwester Pia? Oder – eine andre Schwester?«

»Nur der Wachtmeister«, antwortete Fritz.

Gerhard nickte, befahl dem Jungen, er solle sich ein Plätzchen aussuchen, nicht zu weit von den Pferden. Solle Ausschau halten; wenn jemand komme, ihn anrufen und herführen. Wenn aber eine Frau komme, solle er keinen herlassen, solange er mit der spreche. Nur, wenn es sehr wichtig sei –

»Da kommt schon einer«, rief der Troßbub, »hinten auf der Landstraße. Ein Oberländer.« Er winkte mit seinem Stahlhelm, schickte sich an, zu gehn.

»Darf ich was fragen?« begann er noch einmal. »Man sagt, daß es jetzt aus sei –?«

Scholz wies nach Osten. »Dort wehn die Trikoloren – willst du da durch? Tanks, Panzerzüge, Flugzeuge, schwerstes Geschütz. Da geht's uns wie dir, als du den Annaberg auf eigne Faust stürmen wolltest, ein Stöckchen in der Hand. Du kennst das ja – man bekommt Ohrensausen davon!«

»Glauben Herr Oberleutnant«, drängte der Junge, »daß der Pole nun abzieht? Daß unsere Heimat – Wälder und Städte, Gruben und Schlote – daß das nun deutsch bleibt?«

Gerhard zuckte die Achseln. »Glaubst du daran?«

»Ja«, sagte er fest. »Ich glaube es. Und ich glaube an Deutschland.«

Scholz richtete sich halb auf. »Ich auch«, flüsterte er. – »Geh nun«, fuhr er fort, »ruf den Oberländer.«

Der kam über die Wiese, grüßte, blieb vor ihm stehn. Ein baumlanger Kerl, die linke Wange bedeckt mit Schmissen. »Verzeihn Herr Oberleutnant die Störung –« begann er.

»Dummes Zeug«, rief Scholz, »setzen Sie sich doch, Leutnant Hinrichsen. Daß Sie die Studentenkappe wieder mit dem Krätzchen vertauschten, als Gemeiner sich ins Freikorps einreihten – das ehrt Sie doch.«

Der Oberländer setzte sich, murmelte sein ›Danke‹. Nagte an den Lippen, brachte nichts heraus.

»Unannehmlichkeiten?« ermunterte ihn Scholz. »Schütten Sie Ihr Herz aus. Wenn ich helfen kann, tu ich's gern.«

Wieder kam ein ›Danke‹ und nichts weiter. Gerhard betrachtete das scharfgeschnittene Gesicht, die klaren Augen, in denen ein tiefer Schmerz hing. Er kannte diesen holsteinischen Pächtersohn, hatte im Ruhrlazarett zu Lüttich mit ihm zusammengelegen. Ihn dann wieder getroffen, gelegentlich, in Ost oder West. Und er kannte auch die Tragik seines Lebens, wie jeder, der einmal mit ihm zu tun hatte.

Hinrichsen – ja, das war wie mit Hornemann: immer eine Liebschaft. Nur, Paulchen nahm das nicht ernst – wirklich geliebt hatte der nie. Außerdem: bei ihm waren es Mädchen.

Für Hinrichsen aber, diesen großen, schönen Detlev Hinrichsen, gab's keine Mädchen auf der Welt. Er trug ein heiß pochendes Herz in der Brust, das sich zerquälte in maßloser Sehnsucht. Immer war er verliebt, stets in ein blutjunges Milchgesicht, Rekrut oder Fahnenjunker. Freilich, die wollten wenig von ihm wissen. Lachten ihn aus – manchmal spie auch einer. Selten nur fand er einen, der sich ein wenig anschloß. Aber nie dauerte das lange: ehe es noch geknüpft war, ward das Band zerschnitten. Durch den Spott der Kameraden, Befehl eines Vorgesetzten – öfters auch durch eine grausame Kugel. Hinrichsen hatte soviel Pech, wie Hornemann Glück hatte; so war er immer allein. Im Grunde eine zarte Natur, setzte er sich doch jeder Gefahr aus, machte die tollkühnsten Streiche. Wurde Tapferkeitsleutnant, hätte, wenn der Zusammenbruch nicht gekommen wäre, den ›Pour le Mérite‹ bekommen, zu dem er längst vorgeschlagen war. Das Seltsame: er, der den Tod suchte, wurde nicht einmal verwundet. Die Narben, die er trug, waren harmlose Studentenschmisse – zwei andre noch, die stammten von Selbstmordversuchen. Immer stak er in der Klemme, tappte von einer Bescherung in die andre, lief ihr nach, suchte sie ordentlich. Armer Junge, dachte Gerhard.

Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Los, los, Hinrichsen, heraus damit! Wer ist's diesmal?«

Der Oberländer nahm einen Anlauf. »Einer von eurem Haufen.« Dann stockte er wieder; man sah, wie er sich anstrengte, die Hemmungen niederzuzwingen.

»Von meiner Kompanie?« fragte Scholz. Der andre nickte.

Gerhard überlegte. Wer mochte das sein? Doch nicht der Troßbub? Nein, der nicht, der hatte außer seinem verbeulten Helm nichts, das nach Soldat schmeckte. Und ein wenig von Uniform mußte der schon tragen, der dem langen Holsteiner gefallen sollte. »So sprechen Sie doch«, forderte er. »Hat einer sich bei Ihrem Hauptmann beschwert? Ist da ein Lump, der Sie erpressen wollte? Oder ist er verwundet – gefallen?«

Hinrichsen riß sich zusammen, fand endlich Worte. »Nein, nein – er – er ist – verschwunden. Peters hieß er.«

Scholz fuhr auf. »Peters –? Karl Friedrich Peters?«

Der Oberländer nickte. »Der!«

Sie schwiegen. Schließlich sagte Gerhard: »Ja, der Peters – der ist schon lange weg. Als wir noch in Dobrau lagen.« Ruhig kam es heraus, harmlos; keine Miene verzog sich in diesem wetterbraunen Gesicht. »Woher kannten Sie ihn? Zu der Zeit wart ihr Oberländer doch kaum angekommen?«

»Ich traf ihn, als wir durch Dobrau zogen«, antwortete Hinrichsen. »Reiner Zufall. Das war – war – nun auf den ersten Blick, wissen Sie. Damals war noch Ruhe – so fuhr ich hinüber auf meinem Motorrad – jeden Abend, wenn ich fertig war mit dem Dienst.«

Scholz griff einen Gedanken, der ablenkte. »So gegen sieben, was? Dann waren Sie der Mann, vor dem mein Gaul scheute. Unten lag ich im Augenblick.«

»Tut mir leid«, murmelte der Oberländer. »Verzeihung – nachträglich. Ich hab's nicht bemerkt.«

»Kann ich mir denken, hatten's zu eilig!« rief Scholz. Gezwungen klang sein Lachen. »Ich fürchte, daß ich Ihnen wenig Auskunft geben kann. Von dem Peters haben wir nichts mehr gesehn – dem war die Sache wohl brenzlig geworden. Vermutlich heim.«

Hinrichsen senkte den Kopf. »Er ist nicht heim. Ich habe Nachricht von seiner Mutter. Die weiß nichts von ihm – hat auch nichts gehört – seit dem Tage.«

Der Oberleutnant biß auf die Lippen. »Nicht bei den Eltern? Vielleicht schämte er sich – weil er sich gedrückt hat.«

»Er hat sich nicht gedrückt, nie und nimmer«, beharrte der andre. Er holte tief Atem, fuhr dann fort: »Sagen Sie doch, was aus ihm wurde.« Seine Stimme zitterte.

Scholz rief heftig: »Ich weiß es nicht!«

Der Oberländer wiegte den Kopf. »Ich war dabei, an dem Abende, als Wachtmeister Kramer ihn abholte – das war das letzte, das ich von ihm sah. Ich fragte – Dienst hinter der Front, hieß es. Später stellte ich den Wachtmeister zur Rede, bat um Auskunft – zweimal – viermal – er gab keine Antwort. Knurrte nur, ich solle mich zum Teufel scheren. Ich gab nicht nach, forschte weiter – war drüben bei euch, sooft ich ein wenig Zeit fand. Heute weiß ich mehr.«

»Was?« fragte der Oberleutnant. »Und von wem?«

»Von einigen Ihrer Leute«, gab Hinrichsen zurück, »besonders von einem Mann – Wilcke. Sie fuhren im Auto hinter die Front, am Steuer Wilcke, neben ihm Leutnant Hornemann, hinten Peters und der Metzgerhund. Der Wachtmeister, meine ich, Verzeihung, wenn ich –«

»O bitte«, machte Scholz, »so nennt ihn jeder im Fähnlein Hauenburg. Nur ihm selber dürfen Sie's nicht sagen. Sprachen Sie auch mit Hornemann?«

Der Holsteiner nickte. »Ja, heute früh. Er sagte, daß sie zurückgefahren seien, ein paar Maschinengewehre zu holen, während sie die übernahmen, sei Peters ausgerückt. Nur – das stimmt nicht. Ich holte gestern abend Wilcke aus – der wußte nichts von Maschinengewehren; sein Bericht klang ganz anders. Darnach fuhren die vier in die Nacht hinein, stundenlang – Richtung Brieg. Bei einem Walde hielten sie – Wilcke mußte mit seinem Auto warten. Er stand zwei Stunden auf der Straße – als die andern sich nicht sehn ließen, fuhr er allein. Gegen Mittag kamen auch die zwei zurück, Leutnant Hornemann und der Wachtmeister – ohne Peters.«

»Ganz richtig«, rief Scholz. »Ich sehe da keinen Widerspruch. Hornemann verfehlte im Dunkeln das Auto, suchte lange herum, fand schließlich ein andres, das ihn für gute oder weniger gute Worte mit den Waffen zurück zur Front brachte.«

»Nein, nein!« beharrte der Oberländer. »Ihre Kompanie hatte kein halbes Maschinengewehr, bis sie auf dem Annaberg den Polen ein paar abnahm.«

Scholz gab sich nicht geschlagen. »Die Dinger waren für die Kompanie Wandesleben bestimmt –« Er stockte, fühlte, wie schlecht das war – Hinrichsen mußte wissen, daß grade Wandesleben genug Maschinengewehre hatte und er kein einziges – wann hätte je ein Heerhaufen gute Waffen einem Nachbarn gegeben, der längst welche hatte, während er selber waffenlos war? Er überlegte – war's nicht das beste, dem Oberländer reinen Wein einzuschenken?

»Hören Sie zu –« begann er. Aber nein – das ging nicht. Dieser Mensch da vor ihm war besessen, dachte nicht mit dem Kopf, nur mit dem Herzen, solange noch das Bild des hübschen Jungen vor seinen Augen flimmerte – er könnte, er würde sicher Dummheiten machen, wie so oft schon. Geschehn war, was geschehn – und zu Recht geschehn. Das mußte begraben sein – je schneller man es vergaß, umso besser. Sein Hirn arbeitete im Bruchteil der Sekunde: man mußte dem Vater schreiben, daß sein Sohn gefallen sei – vielleicht beim Sturm auf die Sprentschützer Höhen – daß –

»Hören Sie, Hinrichsen«, wiederholte er, »ich werde die Sache untersuchen. Jetzt erinnere ich mich, daß er später doch wieder auftauchte – vor Sprentschütz, glaube ich – wenigstens sagte das einer meiner Leute. Ich werde alles tun, was ich kann. Inzwischen: beruhigen Sie sich; es ist nicht das erste Mal, daß Sie einen Menschen verlieren, der Ihnen lieb war. Meingott, Krieg, was das ist, wissen Sie so gut wie ich.«

Ja, so war's das beste. Heute noch war der Oberländer zum Überquellen erfüllt von dem einen Gedanken an den Primaner – diesen Lumpen, der es nicht einmal wert war, daß man ausspie auf dem Fleck Erde, wo er verscharrt lag. Aber es würde ein neuer kommen, dessen Bild ihn genau so erfüllte – dann war der andre vergessen.

Scholz horchte auf: heftiger Wortwechsel scholl herüber vom Wiesenrand. Da stand ein Kriegsknecht, schimpfte wild auf den Troßbuben ein, der nach Kräften erwiderte. Gerhard sprang auf – das kam ihm nicht ungelegen. »Was gibt's denn?« rief er. »Kommt hierher, marsch, alle beide!« Er reichte Hinrichsen die Hand. »Verzeihung – keine Viertelstunde hat man Ruhe. Also auf Wiedersehn, Hinrichsen – beim Himmel, ich wünschte, daß in Ihrem Leben die Sonne auch mal so scheinen möchte, wie sie heute rings übers Land lacht.«

Der Oberländer verabschiedete sich; gesenkten Hauptes latschte er mit langen, schweren Schritten über die Wiese.

* * *

Die zwei kamen heran, der Troßbub und sein Feind; ein Soldat in richtiger Uniform, nichts fehlte. Scholz erkannte ihn. »Sieh doch an – der Schmitz!« rief er. »Wo kommst du denn her? Aber erst sag, warum du den Jungen so anbrüllst – was hat er dir getan?«

»Wollt mich nich herlasse, dä Rotznas«, schimpfte der Landsknecht. »Ich hab ihm jesagt, daß ich Ihne schon die Stiebel jeputzt han, als er sich noch die Botze volldriß!«

Scholz lachte. »Na – geputzt hast du mir die Stiefel oft genug – aber rein sind sie nie geworden.«

»Als ob et darauf ankäm – im Krieg!« brummte Schmitz. »Ich wollt Ihne nur sagen, dat ich nu widder da bin – un dä Hummdopp wollt mich nich herlasse. Dä sieht ja aus wie 'n jeruppte Mösch in de Rejenkall! Dä Pädsköttel, dä soll sich emol im Spiegel ankucke – dä macht ja 'n Jesicht wie die Schmick vom Tudewage! Dä fiese Möpp soll sich erst emol sin dreckelig Labberdönche auswasche, eh er mit mich spricht!«

»Nun Schluß, Theodor!« befahl Scholz.

Vorwurfsvoll dehnte der Rheinländer: »The–o–dor – dat haben Sie immer gesagt, wenn Se bös sind, Herr Oberleutnant.«

Gerhard Scholz nickte. »Also gut: halt din Schnüß, Döres!«

Der Landsknecht grinste. ›Döres‹ – nun war der alte Ton wieder da. Sein Zorn war verraucht, in leidlichem Hochdeutsch fuhr er fort: »Ich weiß schon längst, daß Sie auch hier im Land sind, hatte bisher nur keine Zeit, Sie aufzusuchen. Ich bin bei den Roßbachern; aber ich denk: wenn Sie mit unserm Führer sprechen, läßt er mich rüber zu Ihnen.«

»Ein bißchen spät«, antwortete Scholz, »jetzt, wo es fast aus ist.«

»Aus?« rief Schmitz. »Dann bleib ich erst recht bei Ihnen.«

Das war zu viel für Fritzchen Hemmerling. »Ich auch«, sagte er fest, »ich versteh was von Pferden.«

»O je – Pferde!« seufzte Scholz. »Glaubst du, Troßbub, daß ich mir Pferde halten könne im Zivilleben? Übrigens: drei Pferde hast du mitgebracht – du wirst schon wissen, wo du sie ausgeliehn hast. Du wirst sie dem Mann zurückbringen und die schwarze Stute dazu, die wir von dem polnischen Major erbeuteten. Als Zinsen – da wird er das Leihgeschäft nachträglich gutheißen.«

Schmitz machte große Augen, schüttelte bedächtig den Kopf. »Drei Päd – jleich drei! Du siehst aus, wie 'n abjekratzt Stillebe, so'ne richtige anjemalte Fastelovendindianervisasch – aber et scheint wat zu stecke in dich! Drei Päd!«

Gerhard schnitt seine Bewunderung ab. »Soweit die Pferde – ich kann sie nicht brauchen. Und euch zwei – auch nicht. Du, Fritzchen, beziehst wieder die Schulbank –«

Der Troßbub fuhr auf. »Nie wieder!«

»Du gehst zurück zur Schule«, entschied der Oberleutnant, »und wenn ich dich selbst am Ohrläppchen hinbringen muß. Wir brauchen Menschen, die was Ordentliches gelernt haben, in dieser Zeit – und das nicht nur in der Schule des Kriegs. Damit Schluß! Mit dir sprech ich noch, Döres. Und nun trollt euch alle beide und erzählt euch was.«

Schmitz griff in die Tasche. »Ich han dem Herrn Oberleutnant noch wat Hübsches mitgebracht –« Er zog ein Päckchen heraus, begann es auszuwickeln. Gerhard unterbrach ihn. »Auch ausgeliehn – was? Ich kenne deine Geschenke. Gib's dem Troßbuben – der hat seit Wochen nichts Ordentliches zu essen bekommen. Und tröst ihn, daß er wieder zur Schule muß.«

Döres Schmitz faßte den Jungen unter; Arm in Arm zogen die beiden zu ihrem Platz zurück, lagerten sich. Scholz sah, wie der Roßbacher sein Päckchen auspackte. Beinahe hatte er Lust, ihn zurückzurufen: das war gewiß nichts Schlechtes, was der Döres mitgebracht hatte.

* * *

Er kannte ihn gut von Frankreich her, Schmitz IX, von den Fünfundsechzigern, die man das Regiment Schmitz nannte. Was waren die reußischen Heinriche gegen die rheinischen Schmitze? Reuß zählte hintereinander weg, tot und lebendig, das völlig verschmitzte Kölner Regiment aber zählte nur die Lebendigen und nur die, die grade dienten; fing dazu noch in jeder Kompanie von vorne an. Döres war der neunte des Schmitzgeschlechtes in der dritten Kompanie – fünf andre Schmitze kamen noch hinter ihm. Er stammte aus Himmelgeist – auch so ein Ort, den Düsseldorf eingemeindet hatte, grade wie Ratingen am andern Ende. So nahm ihn Döres als engern Landsmann, schloß sich an ihn vom ersten Tage an, mit der unbekümmerten, selbstverständlichen Art der Leute vom Niederrhein. Alle sind sie irgendwo her, dachte Gerhard, haben eine Heimat, zu der sie gehören. Gleich merkte man Eggeling den Hamburger Kaufmannssohn an, dem Lannwitz den preußischen Junker, wie München der Schwester Pia, Schlesien dem Schuljungen Fritz Hemmerling. Er, Gerhard Scholz, war eigentlich gar kein ›Landsmann‹. Beamtenfamilie, Vater, Großvater, Urgroßvater: die hatten bald hier, bald dort gewohnt – er wußte nicht einmal, woher die Familie ursprünglich kam. Seine Mutter war Deutsch-Lothringerin aus Metz; da hatte er seine ersten Kinderjahre verbracht. Dann zogen sie nach Saarbrücken, nach Elbing, endlich nach Düsseldorf – wo immer die Rheinisch-Lothringische Metall-AG., in deren Diensten der Vater stand, ihn hinschickte; der war Verwaltungsbeamter, diente sich hinauf, wuchs mit der Gesellschaft. Nannte schließlich ein Haus sein eigen, einen Garten drum herum.

Fünf Kinder, vier Buben und ein Mädchen; aber man hatte kaum Fühlung miteinander. Ein Sohn Offizier, einer Student, da langte es nicht mehr für den dritten – so sollte er bei der Rheinisch-Lothringischen unterkriechen. Aber natürlich: nach dem Maturum sein Jahr abdienen, gleich im Anschluß zwei Übungen – dann hatte man das hinter sich. In Kolmar diente er bei den Jägern zu Pferde – das bezahlte eine Tante. Dazu war er immatrikuliert auf der benachbarten Straßburger Universität, mußte Jura und Nationalökonomie belegen, antestieren und abtestieren, mußte auch aktiv werden und ein paarmal fechten; der Oberst sah es gern, daß seine Einjährigen Studenten waren: das hob den Ruf des jungen Reiterregiments. So bekam er drei akademische Semester und ein Burschenband – das konnte ihm einmal von Nutzen sein, meinte der Vater, ja, der hatte alles wohl überlegt. Sommer 1914 war er fertig – brauchte den grünen Rock nicht erst auszuziehn. Knapp zwanzig zählte er damals.

Zwei Jahre drauf waren alle vier Brüder im Felde. Den jüngsten, eben siebzehnjährigen, haschte es zuerst; er fiel bei Verdun, als er noch nicht sechs Wochen draußen war. Dann war Emil dran, der Doktor und Studienassessor, jetzt Kampfflieger.

Den hatte er, im Oktober siebzehn, auf ein paar Stunden im Kasino zu Rethel wiedergesehn, als Emil grade vom Urlaub zurückkam. Er sah komisch genug aus, und garnicht wie ein Fliegerleutnant; eine goldene Brille trug er, einen rotblonden Bart dazu, der so aussah, als ob die Motten drin wären. Von diesem Urlaub erzählte ihm der Bruder; da waren Dinge geschehn, die den moralischen Ansichten des Gymnasiallehrers garnicht gefielen. Nämlich, er hatte seinen guten Freund mitgebracht, Karl hieß er. Kamerad Karl also war weniger sittenstreng, war wohl so ein Durchgänger wie Paulchen Hornemann. Er hatte sich sofort in Schwester Käte verliebt und die in ihn. Sie verlobten sich; soweit war alles in Ordnung. Nur: eines Tages kam Karlchen nicht zum Frühstück. Bruder Emil wartete, suchte ihn – das Bett im Fremdenzimmer war unberührt. Nebenan sah es weniger ordentlich aus; Emils keuschen Augen bot sich ein wirres Durcheinander von Decken und Kissen, aus denen auf sein entrüstetes Rufen sich erst ein weibliches Bein, dann ein männlicher Arm löste und schließlich die völlig verwuschelten, verschlafenen Blondköpfe der Schuldigen, die verständnislos mit großen Augen den Störenfried anstarrten. Emil stellte sie zur Rede, gab seiner gerechten Entrüstung in kräftigen Worten Ausdruck. Die beiden Sünder ließen alles über sich ergehn, schwiegen beschämt; erst als Emil von gröblich verletzter Gastfreundschaft predigte und von bübischer Ausnutzung der Unerfahrenheit eines Kindes, fand Karl schwache Worte der Verteidigung: Emil sei doch selber daran schuld, warum habe er ihn hergebracht und so in Versuchung geführt? Dann aber besann sich die Käte und legte los – er habe den Eindruck gewonnen, daß sie ihn nie recht habe leiden mögen, berichtete Emil. Erstens sei sie kein Kind mehr, sei längst konfirmiert und bald mit der Schule fertig. Sei über sechzehn, da habe niemand was dreinzureden; er, Emil, am allerwenigsten. Dazu seien sie verlobt, und es seien Kriegszeiten mit außergewöhnlichen Zuständen. Hätte sie vielleicht dem ihr verlobten Manne, dem sie vor Gott und den Menschen, mit Wissen der Eltern und des Bruders anzugehören versprochen habe, diesem Manne, der täglich für Volk und Land sein Leben aufs Spiel setze – hätte sie dem ein herzloses »Nein« entgegenschleudern sollen?! Außerdem wäre das eben so gekommen, und sie hätten sich gar nichts dabei gedacht, wären sich also weiter keiner Schuld bewußt. Seine, Emils, Handlungsweise aber sei weder ritterlich noch brüderlich – sei vielmehr schulmeisterlich, kleinlich und pütcherisch, eines Kampffliegers unwürdig und gradezu gemein, besonders sein Lärmen. Noch dazu an einem Sonntagmorgen! Wollte er denn Vater und Mutter unglücklich machen, seine einzige Schwester aus dem Hause jagen und ihre Schande in die Welt hinausposaunen, während ihr Freund und Verlobter zurück müsse an die Front? Sie heulte drauflos wie ein Kettenhund, war kaum wieder zu beruhigen.

Emil gestand, daß er weich wurde: Weiberweinen war er nicht gewöhnt. Er habe sie gebeten, sich nicht so anzustellen – eben der Eltern wegen. Aber sie habe ihn weggestoßen, habe immer lauter gebrüllt: er allein sei an allem schuld!

Er habe Karl gebeten, beschwichtigend auf sie einzuwirken; sei dann hinuntergegangen, habe Frühstück für beide bereitet und ihnen gebracht. Zwar habe Käte erklärt, daß sie keinen Bissen herunterwürgen könne, sie habe dann aber auf gutes Zureden hin doch tüchtig zugelangt. Er habe auf dem Bettrand gesessen; allmählich habe man vernünftig reden können; erst habe sie unter Tränen gelächelt, später gar gelacht. Auf seinen Vorschlag, sofort zu heiraten, seien beide freudig eingegangen: er möge nur alles in Ordnung bringen, sie seien bereit, gleich zum Standesamt zu gehn.

Nur, leider, war das nicht mehr möglich. Es war ein Sonntag – und am Montag früh war der Urlaub zu Ende.

Was nun – wenn Karl was zustoßen würde? Und wenn dann zu gleicher Zeit Schwester Käte – man müsse den Dingen offen ins Auge sehn, es habe keinen Zweck, sich da was vorzumachen – wenn die Käte – – schwanger werden (er sprach es sichtlich ungern aus, aber darum grade mit männlicher Kraft!), wenn sie ein Kind bekommen würde?! Garnicht auszudenken!

Man müsse dafür sorgen, daß Karl Hochzeitsurlaub bekomme. Ob er, Gerhard, denn keinen Menschen vom Stab kenne, der die Sache fingern könne?

Gerhard brauchte mit niemandem mehr zu sprechen: drei Tage später waren beide tot, Emil wie Karl, im selben Flugzeug abgeschossen. Lagen weit hinter der französischen Front mit zerschmetterten Gliedern auf der Erde.

Ob, im Augenblick des Absturzes, sein Bruder Emil sich immer noch mit dem Gedanken an der Schwester Schicksal quälte? Ob er – hätte er gewußt, daß die Käte kein bißchen schwanger sei – ruhiger in den Tod gegangen wäre?

Gerhard lachte auf bei dem Gedanken. Ruhig – ruhiger – wenn man tausend Meter tief abstürzt?!

* * *

Die Nachricht vom Tode ihres ältesten Sohnes, des Hauptmanns Wilhelm Scholz, lasen die Eltern ein halbes Jahr später in der Zeitung: er war in Mesopotamien den Arabern in die Hände gefallen. Die Einzelheiten seiner Abschlachtung, die ein entkommener Mitgefangener berichtete, waren so grauenhaft, daß der Vater sein Bestes versuchte, um sie vor seiner Frau zu verheimlichen – natürlich erfuhr sie schließlich doch alles.

Dann kam die falsche Nachricht nach Hause, daß auch er, der vierte und letzte Sohn, gefallen sei. Er war bei Kriegsende mit dem Bataillon, das er damals führte, an der italienischen Front; kurz vor dem Zusammenbruch wurde er verwundet und gefangengenommen. Nur ein Prellschuß, der sein Gutes hatte: er schützte ihn vor sofortigem Abtransport. So fand er Gelegenheit, mit ein paar Kärntnern auszureißen, über die Julischen Alpen in die Karawanken; dort traf er den Freiherrn von Pranghk, half ihm, die Drau vor den Serben zu schützen, den Landfetzen um Völkermarkt und Bleiburg der deutschen Sache zu retten. Keine Leitung von oben mehr: Selbstschutz, Freikorps – zum erstenmal. Ende achtzehn.

Er schrieb wohl, aber die Briefe gingen verloren; man glaubte ihn tot. Dennoch, nicht diese Nachricht gab der Mutter den Rest. Vier Söhne fraß ihr der Krieg, sie überstand es; ein daneben Lächerliches erschlug sie. Lothringen wurde welsch und damit die Erzgruben der Gesellschaft. Über Nacht verlor der alte Scholz seine Stellung und verlor nach einer Woche seine Frau dazu.

* * *

Die Mutter – sie stand ihm näher als die Geschwister, näher auch als der Vater, den er als Knabe nur abends sah, müde von der Tagesarbeit. Die Mutter hatte sich mit ihm beschäftigt wie mit den andern Kindern; lehrte sie das einzige, das sie verstand: Französisch; sprach nur diese Sprache mit ihnen.

Freilich, mit ihrem Französisch hatte die Mutter gewiß nicht der Kinder Herz gewonnen. Aber sie sang, jeden Abend nach dem Nachtmahl. Sie begleitete sich selbst, sang meist mit halber Stimme, zart und fein, aber mit deutlichster Aussprache, daß man jedes Wort verstand. Und sie sang nur deutsche Lieder, nie ein französisches. Sang sie gleich dutzendweise, eins nach dem andern: Schubert, Schumann, Löwe, Brahms, Wolf.

Gerhard Scholz dachte: fünf solche Meister des Liedes! Wo ist das andere Volk, aus dessen Herzen solch überquellender Reichtum strömte, in einem kleinen Jahrhundert? Mußte nicht die Welt, allein um des Liedes willen, alles lieben, was Deutsch sprach?! Aber nein, nein – Haß nur, bitterster Haß ringsherum.

Auch Reger sang die Mutter, auch Richard Strauß. Und die Kinder lauschten, schnappten auf, lernten unbewußt Worte und Melodien. Sie waren nicht dankbar dafür, betrachteten, von den Windeln her daran gewöhnt, den Singsang als etwas Selbstverständliches. Für sie verband sich mit dem Worte ›Mutter‹ etwas, das sang.

* * *

Drei Brüder tot und die Mutter.

Die Segel von Stürmen zerfetzt, die Planken zerschossen, trieb diese Barke ›Zuhaus‹ auf des Lebens Meer. Käte hatte das Kommando, sie war Steuermann, Kapitän und Matrose zugleich. Der Vater taperte so herum, suchte nach einem Pöstchen und fand keins. Käte bekam eine Stellung, gleich als sie mit der Handelsschule fertig war, bei einer neuen Gesellschaft, die mit allem handelte, Einfuhr und Ausfuhr: Kohlen, Lebensmittel, Schreibmaschinen, Spielsachen und natürlich alte Waffen. Konzern nannte man das jetzt. Das Haus in Ratingen hatte sie unlängst verkauft – Vater und sie waren nun in die Stadt gezogen, hatten in der Nähe des Hofgartens eine hübsche Wohnung gefunden.

Die Kosten des Haushalts bestritt sie von ihrem Gehalt. Er hätte gern beigesteuert – wovon? Gerhard lachte, als ihm das einfiel. Jeder bezog gleiche Löhnung im Freikorps, da war kein Unterschied zwischen Gemeinen und Offizieren. Besser lebten bestimmt die Soldaten; die trieben überall noch etwas auf, das man essen und trinken konnte: ›besorgen‹ nannten sie das – Bauern und Bürger nannten es ›klauen‹.

Unwillkürlich ließ Gerhard den Blick an sich herabgleiten. Schwester Pia hatte schon recht: kein Lötchen Fleisch zuviel. Im engsten Loch hing der Leibriemen. Sein Frühstück heute früh, na! Er blickte den Waldrand hinab – noch immer futterten die beiden da unten. Er bekam Hunger nur vom Hinsehn. Nun würde der Döres aus Himmelgeist eine Überraschung aus der Tasche ziehn, würde dem neuen Freunde ein Andenken schenken, das er unlängst ›besorgt‹ hatte.

Warum der nur in der Welt herumabenteuerte, der hatte doch sein Heim! Eine gutgehende Wirtschaft gehörte den Eltern, eine Metzgerei dazu; jeden Tag war er willkommen. Dann war da noch seine Base Stina, längst verwaist, die dicht nebenan einen Hof hatte. Ein deftiges Frauenzimmer, starkknochig und vollbusig, eine, die gleich tüchtig war in der Schenkstube wie im Laden – die war seit Jahren seine Braut. Das alles wartete auf ihn. »Die könne noch wat länger warte«, sagte Döres, »die laufe mich nich weg! Einstweilen muß ich mich die Welt ankucke.«

Seit sieben Jahren guckte er sich die Welt an, die für ihn doch stets die gleiche war, ob die Menschen, die er sah, Französisch, Vlamisch oder Polnisch sprachen: er verstand kein Wort, aber er sorgte schon dafür, daß sie ihn verstanden.

* * *

Zehn Uhr vorbei und sie kam nicht! War sie zurückgeblieben auf Ferdinandshof, wo Schwester Pia jetzt ihre Jodbude aufgeschlagen hatte? Mußte sie einem Oberländer oder Roßbacher die Verbände erneuern? Killinger, der Fähnleinführer, war gestern mit seinen Wikingern durchgezogen; vielleicht waren darunter Verwundete.

Er überlegte, wie er sie anreden solle, wenn sie nun kommen würde in Schwesterntracht. Schwester Martha – nein, das ging doch nicht! Lili? Anderthalb Jahre waren dahingegangen – eine lange Zeit für sie beide. Hornemann hatte ihm, nach Schwester Pias Bericht, erzählt, was inzwischen aus ihr geworden war. Chirurgische Schwester in Deutschlands berühmtester Klinik; daneben hatte sie ihr Abiturientenexamen gemacht, studierte nun Medizin. Das also stand fest: sie war eine andre geworden. Er war derselbe hier wie in Kurland: ein verwilderter Freischärler, der mit seinem Harst wüster Kerle über die Straßen zog. Er fühlte sich beklommen und unfrei, verschüchtert fast – was sollte er ihr sagen? Damals paßten sie gut zueinander, Landsknecht und Lagerdirne, beide verlaust und verdreckt – jeder Straßengraben mochte als Bett ihnen recht sein.

Heute?

Ob es nicht besser wäre, sich zu drücken, zurückzureiten zu den Kameraden? Der Troßbub konnte ihr sagen –

Plötzlich kam ihm ein lächerlicher Gedanke: heute früh hatte er gebadet, hatte das Hemd angezogen, das ihm Lannwitz geschenkt hatte. Strümpfe auch, keine Fußlappen. Er atmete auf – das ließ ihn freier fühlen. Er empfand, wie kindisch das war, wie abgeschmackt: war er darum ein andrer, weil er nun reine Strümpfe trug und ein reines Hemd, weil endlich mal wieder der Leib mit viel schwarzer Seife gründlich abgeschrubbt war?

Er lachte auf – es war wirklich so. Alle Scheu schien verschwunden. Mochte sie kommen – zu ihm gehörte sie.

Lili war sie und blieb sie. Das war lustig, daß sie auf ihrem Paß nun den Namen trug: ›Ignota‹. Er kannte sie gut und kein Mensch auf der Welt besser als er, ob er auch nie nach ihrem Namen gefragt hatte. Lili – und das war genug.

Er wußte selbst nicht, wie er dazu gekommen war, sie dem betrunkenen Rittmeister abzukaufen. Als ihm der lallend das Angebot machte, drei Minuten, nachdem er in die Gesellschaft der wüsten Zecher geraten war, fragte er sie: »Willst du, daß ich dich kaufe?« Sie blickte ihn an mit großen, hellen Augen, schwieg einen Augenblick. Flüsterte dann: »Ja, kauf mich.« Er zählte nicht, warf die zerknüllten Scheine auf den Tisch, nahm sie an der Hand, führte sie hinaus.

Er wußte von ihr, was alle wußten, fragte sie nicht weiter. Nur eins hätte er gern erfahren – und grade darnach zu fragen hinderte ihn eine Scheu – nur dieses Geheimnis: was in ihr vorging in der Sekunde, da ihr Blick und ihr Mund ihm sagten: »Ja, kauf mich!« Oft beschäftigte ihn das; immer wieder, wenn er ihrer gedachte, spielte er mit dieser Frage.

Sehr allmählich fand er die Antwort, an die er glaubte. Und jedesmal schloß er: »Einmal werde ich sie doch fragen.« Und dann wird sie antworten: »Ja, so war es, genau so.«

* * *

So: diese Nacht sah die letzte Stufe ihrer Erniedrigung, tiefer konnte sie nicht mehr sinken. Als die rote Flamme der Vorfahren alten Herrensitz fraß, als Eltern und Brüder unter den Hieben trunkener Henkersknechte zusammenbrachen, da lag sie wehrlos und hilflos, gelähmt nach dem ersten Schrei, ohnmächtig und unbewußt. Was vermag der Mensch, wenn der heulende Sturm die Wälder zerbricht, wenn der Himmel rast und die kreißende Erde Feuer speit?

Später zog sie herum mit dem Kriegsvolk, rächte auf ihre Weise die Opfer der roten Nacht. Aber sie mußte Deckung haben, brauchte Beschützer, zahlte den Preis, den die verlangten. Dennoch: etwas war da, das sie aufrecht hielt: ihr Haß und der rasende Wunsch, das heimzuzahlen, was man ihr und den Ihren getan.

Dann aber war es vorbei; keine Kämpfe mehr, keine nächtlichen Ritte. Ein Haufe nach dem andern zog zurück über die Grenze; da verlor sich der Glast, der schimmernde Dunstkreis, der sie umgab – das Geheimnis zerstob. Übernacht kam das; sie wußte selber nicht wie. Einmal schien es, als ob man sie fast auf Händen trüge; nun war es, als ob man sie mit Füßen einander zustieße. Und der Kornett der Wirgolitschkosaken versteigerte sie unter Besoffenen.

Rittmeister von Dircksen, der sie gewann, mochte sie nicht, ihm war ein Glas Sekt lieber. Da trat einer herein, der nüchtern war. Der Rittmeister bot sie feil wie ein Stück Vieh, wie eine Flasche Schnaps; dieser Mann antwortete ihm nicht, wandte sich erst an sie. Er sagte: »Willst du, daß ich dich kaufe?« – Um ihre Erlaubnis fragte er.

Sie hatte mit Berauschten gezecht, war trunken wie die. War nicht dieses ganze neunzehner Jahr ein wüster Rausch? Waren nicht Freund und Feind, war nicht alles um sie herum trunken von Blut und Brand?

Nun stand einer vor ihr, der nüchtern war. Einer, der so war wie die Menschen, die sie früher einmal kannte, wie die andern, die draußen lebten, irgendwo in der Welt, wo man nichts wußte von Mord und Krieg.

Da vielleicht, zum erstenmal, kam ihr der Rausch und all der Wahnsinn zum Bewußtsein. Und sie erkannte, im Zehntel des Augenblicks, was sie nun war –

Der Mann, der zu ihr sprach, den sie ›Scholz‹ nannten – Scholz, wie einen kleinen Bürger der Rigaer Vorstadt –, der Mann gehörte zu all diesen Trunkenen, sprach ihre Sprache. Und war doch ein ganz andrer.

Er trank mit ihnen und war doch nüchtern. Er sprach wie sie, griff des Rittmeisters Wort: »Willst du sie kaufen?«; sagte zu ihr: »Soll ich dich kaufen?« Genau dasselbe – und es war dennoch ein ganz andres.

Da verstand sie, was dies Wort sollte. Sie nahm es auf, sprach es zum drittenmal, schlafwandlerisch sicher aus tiefstem Empfinden und doch völlig bewußt: »Ja, kauf mich.«

Gerhard Scholz sah ihr Bild – wie sie damals vor ihm auf dem Tisch saß, Windjacke, Hose, Leibriemen, Krätzchen – ein verdreckter Rekrut. Und dann jetzt wieder in Schwesterntracht, sauber und blank. Blonde Haare, rötlich ein wenig, große helle Augen, meerklar und meertief, sehr baltisch die zarten Farben der Haut. Und doch war da ein Fremdes in diesem reinen Gesicht – der Mund ein wenig zu groß, die Backenknochen ein wenig zu stark – fremde Rasse.

Etwas Slawisches? Vielleicht hatte ein Urahn eine Bojarentochter geheiratet. Moskowiterblut, Tatarenblut gar? Das mochte manches erklären.

Dann aber war ihr dies ›Kauf mich‹ mehr als ein Symbol. Dann nahm sie es als ein Schicksal, dem sie sich unterwarf, hemmungslos, ohne jeden Rückhalt, einmal und für immer.

Und so mochte – vielleicht, wer konnte das wissen? – seine Frage und ihre Antwort ein heiliger Pakt sein, den altes Blut ihr im Augenblick bewußt machte. Bei uns war's der Segen des Priesters oder die Unterschrift auf dem Standesamt – war das nicht dasselbe im Grunde?

War der Urväterbrauch, der auch heute noch galt bei Millionen Menschen, bei Chinesen, Mongolen und manchen andern, war der nicht härter und stärker? Dieser Brauch: ›Soll ich dich kaufen?‹ – ›Kauf mich!‹? Da ging sie in sein Eigentum über, ward sein Ding, gehörte ihm auf alle Zeit.

So faßte es diese Frau. Faßte es weiter noch: wenn sie schon seine Hörige war, seine Sache, die er besaß durch heiligen Kauf, so mochte doch auch er besessen sein von diesem Ding, das sein war. Faust, der Student, nannte ein Buch sein eigen, einen Degen der Leutnant Bonaparte – nichts sonst. Besaßen sie diese Dinge mehr, als sie von ihnen besessen waren? Blieben sie nicht, zeit ihres Lebens, Sklaven von Degen und Buch: von dem Durste nach Wissen und Macht?

So mochte es sein, genau so. Denken mochte sie: er hat mich gekauft, ich bin die Magd meines Herrn. Und bin doch die, die ihn führt, wohin ich will, bin allein die, die ihn beherrscht.

Einmal – einmal nur – hatte er ein Briefchen von ihr bekommen. Wenige Zeilen mit Bleistift auf einen Zettel geschrieben, ohne Umschlag. Er war zu einer Erkundung ausgeritten, den Fluß Aa hinauf – sie schickte ihm eine Nachricht nach, die vom Stab für ihn eingetroffen war. Sie schrieb französisch, damit der Bote es nicht lesen konnte. Ihre Unterschrift lautete: ›Ta maîtresse L.‹

Den Zettel hatte er lange mit sich herumgetragen, bis die Schrift allzu verwischt war, völlig unleserlich. Dies Wort erregte ihn, ließ ihn nicht los: ›Ta maîtresse.‹ Das hieß: dein Geschöpf, deine Kebse – hieß es nicht auch: deine Herrin?!

Gerhard Scholz starrte vor sich hin. Wie er nur dazu kam, solche Gedanken zu spinnen, heute und wie oft schon?! Nein, es war nicht seine Art – garnicht. Dieses Grübeln, dieses Spielen mit Gedanken hatte er nicht von der Mutter geerbt und vom Vater erst recht nicht. Aber sie, sie mochte so denken – von ihr hatte er es.

* * *

Wo sie nur blieb?

Die Stimmen störten ihn, Schmitz IX und der Troßbub. Er stand auf, ging weiter den Waldrand entlang. Sanft stieg die Wiese hier an, überschattet von den Kronen der Buchen. Er streckte sich aus, blickte über die Landstraße. Nichts, nichts.

Nun sang es in ihm. Kein Singen eigentlich, ein leichtes, zitterndes Summen nur, wie das Flügelschlagen einer Melodie. Das kannte er, er empfand es oft, wenn er sehr müde war.

Da war etwas, das sang; er lauschte in sich hinein, was es sein mochte. Leise flüsterten die Lippen, formten die Worte:

»Ich ruhe still im hohen grünen Gras
Und sende lange meinen Blick nach oben –«

Er lächelte halb verschlafen, dachte: nein, nein, ich schaue garnicht nach oben. Hab meine Lider fest zu. Dennoch sah er, auch mit geschlossenen Augen, dieses zarte Blau und dazwischen die kleinen zerrissenen Federwölkchen.

Brahms, dachte er, Feldeinsamkeit – welch ein Frieden in diesem süßen Lied!

Noch einmal, fernher, kam die Melodie:

»Mir ist, als ob ich längst gestorben bin –«

Kein Wunsch, keine Sehnsucht. Tiefer Frieden.

Feldeinsamkeit –

Brahms –

* * *

Daß sie da war, empfand er, ehe er noch wach war. Fühlte, daß sein Kopf auf weichen Frauenschenkeln ruhte. Hörte durch tiefe Stille ihren leichten Atem. Er genoß dieses Erwachen, sehr langsam machte er die Augen auf.

»Wie lange schlief ich?« fragte er.

Sie sagte: »Ich weiß nicht. In meinem Schoß liegst du seit einer Stunde. Du sprichst noch immer im Schlaf.«

Er hob den Kopf, machte Miene sich aufzurichten. »Was hab ich gesagt?« Aber sie hielt ihn fest. »Bleib du nur liegen. Was du gesagt hast – gesungen hast du. Ein paarmal, sehr leise und stets dasselbe. Ich mußte es dir von den Lippen ablesen: ›Mir ist, als ob ich längst gestorben bin.‹ Das war's. Aber du siehst springlebendig aus.«

Er nickte. Leicht fühlte er sich und wohlig. Keine Fragen und Vorwürfe, keine Erklärungen – sie waren beisammen: alles war, wie es früher war. Und die Sonne schien.

»Kein Kuß?« fragte er.

Sie lachte, sang dann:

» Jetzt wird gefrühstückt! – Weißt du, was das ist? Natürlich nicht – du kennst nichts als Lieder, warst wohl nie in der Oper?«

»Doch«, rief er, »zweimal. Als Bub. ›Martha‹ erst, dann ›Freischütz‹.«

»Und du meinst, daß das genug sei für uns beide«, lachte sie. »Ich, Martha, Schwester bei Oberland, du ein Freischütz bei den Hauenburgern! – Gib mal das Körbchen her.«

Er hob sich hoch, blickte um sich. Weißgott, da stand ein Henkelkörbchen im Gras, säuberlich zugedeckt mit blauweißem Tuch.

Sie packte aus. »Laß sehn, was uns Schwester Pia mitgegeben hat! Nimm das Tuch, deck unsern Tisch – schau, zwei Teller, wenn sie auch von Blech sind. Hier das Messer, schneid das Brot – schneeweißes Weizenbrot, das hat ihr Heydebreck geschickt. Butter, Schinken und Eier – sieh da, eine halbe Flasche Wein – wo sie den nur her hat!«

Sie reichte ihm den Becher, sang wieder: » Jetzt wird gefrühstückt! – Also, man muß dich bilden, Gerhard: ›Rosenkavalier‹ ist's; die Marschallin singt's ihrem Pagen, wenn der glücklich ausgeschlafen hat. Grad wie bei uns. Nur, die zwei frühstückten – post festum. Wir wollen das Fest mit dem Frühstück beginnen. Schenk ein!«

Gerhard Scholz blickte sie an – nur ihre Augen hatte er bisher gesehn. Sie war nicht in Schwesterntracht, trug ein Sommerkleid aus roher Seide. Neben ihr auf dem Rasen lagen bunte Blumen, eine an die andre geflochten, Raden, Margareten, Glockenblumen – was da wuchs ringsumher.

»Ein Viertel Kränzlein«, lachte sie. »Alles, was ich erreichen konnte, brach ich – weiter ging's nicht, wenn ich dich nicht wecken wollte, du Schlafratze.«

Er rückte dicht an sie. »Kein Kuß für mich?«

Sie wandte ihm den Kopf zu, lachte. »Was denkst du denn, daß ich tat, als ich fertig war mit den Blumen? Bekamst Küsse genug, kannst nun warten.«

Er hielt ihren Blick, fragte: »Und du, Lili?«

Sie senkte den Kopf, langsam kam es von ihren Lippen, wehmütig fast: »Ich? Ich hab so lange gewartet, solange –«

Ihre Hand zitterte, sie stellte das Körbchen zur Seite. Fast tonlos sagte sie: »Soll ich betteln drum?«

Sie sprachen nicht mehr. Sie vergaßen das Frühstück –

* * *

Hinten saßen Schmitz IX und der Troßbub, lauschten. Nicht einen Laut hörten sie.

»Ob ich mal hingehe?« schlug Fritzchen Hemmerling vor.

»Nee, nee«, warnte Döres, »lieber nich. Nur, wenn wat Wichtijes vorkäm, solle mer melde. Und et is überhaupt nix passiert.« Nach einer Weile fuhr er fort: »Sag mal, Jüngke, kömmt dat Mädche als öfters zum Oberleutnant?«

Der Troßbub verneinte. »Ich hab sie noch nie gesehn.«

Der Roßbacher überlegte, sagte dann mit Kennermiene: »Von hier is se nich, das' sicher. Das' überhaupt kein Mädche – das' wat Vornehmes!«

»Was sie wohl in dem Körbchen hatte?« fragte der Troßbub.

Schmitz IX lachte. »Wat du fragen kannst – dich fehlt et auch an jede Weltkenntnis! Wenn en Soldat ene Braut hat – un se kömmt em besuche, denn bringt se em wat mit. Und wat soll se 'm schon mitbringe? Wat zum Müffele un, wenn et jeht, auch wat zum Trinke – se weiß schon, wofür.«

Er warf sich zurück, schloß die Augen. »E staats Minsch«, murmelte er, »e staats Minsch –«

Dann faßte er einen Entschluß, sprang auf. »Das' alles kein Grund, daß mer verhungere solle«, rief er. »Bleib du hier, Jüngke, paß auf. Ich jeh zum Dorf, schaff uns wat an.«

»Da ist wenig zu holen«, meinte Fritzchen. Aber Döres reckte sich. »Hab nur kein Angst – ich besorg schon wat.«

* * *

Kein Frühstück – ein Vesperbrot wurde es. Nichts blieb übrig in Schwester Pias Körbchen.

Sie plauderten wieder, sprachen von Schwester Pia, von den Oberländern, den Hauenburgern. Sprachen von Polen und Franzosen, sprachen von Oberschlesien und was nun werden sollte.

Gerhard Scholz sagte: »Etwas haben wir erreicht: was wir heute halten, wird man uns lassen müssen. Aber den Hauptbrocken, den wird man den Polen hinwerfen, das ganze reiche Industrieland. Trotz der Abstimmung, trotz unsres Sieges. So wollen's Franzosen und Italiener.«

»Die auch?« fragte Lili.

»Weißt du das nicht?« gab er zurück. »Die Spatzen pfeifen's von allen Dächern, wo der Minister Sforza hinauswill – der leitet das Äußere in Rom. Er hat längst seine Teilungslinie. Die Polen wissen, wie man's macht: die haben ein Prachtwürmchen an ihre Angel gesteckt – der Mailänder Fisch biß an, wie er's nur sah. Die Frau versteht's!«

Lili horchte auf. »Wer?«

»Ich vergaß, wie sie heißt«, antwortete er. »Aus Warschau ist sie, höchster Adel. Sie wickelt den Grafen Sforza um ihren kleinen Finger – arbeitet mit Küssen für ihr Land besser, als alle Korfantys und Chodzkos mit Maschinengewehren. Im Kampf ging den Polen der Annaberg verloren – im Bett ward ihnen Kattowitz gewonnen.«

»Oh«, machte sie, »oh!« Weit offen standen ihre Augen, starrten ihn an.

»Was ist es?« fragte er.

»Was es ist?« wiederholte sie. »Habt ihr keine Frauen?«

»O doch«, nickte er. »Haben uns viel geholfen in diesem Jahr. Aber dazu – dazu braucht's ein andres Maß.«

Hart rief sie: »Und du sitzt hier im Land, weißt das alles. Läßt mich in München, da lerne ich – Krankenschwester! Meingott, meingott!«

Er griff ihren Arm, preßte ihn fest. »Soll das heißen – soll das heißen, daß du –«

Sie nickte heftig. »Blut und Leben gabst du deinem Lande seit Jahren und wieder Jahren. Alles, was du hast und was du bist – und mich willst du ihm weigern? Du darfst keinen Strich ziehn – bis hierher, weiter nicht – du darfst es nicht tun, du nicht! Sag mir: wenn du's gesehn hättest, wie du's jetzt siehst – hättest du mich geschickt?«

Tonlos kam es zurück: »Ja.« Ein halbes Lächeln, frohlockend, bitter auch und schmerzlich, huschte über ihr Gesicht. Er sah es nicht.

Sie seufzte tief auf, fuhr dann fort: »Polnisch dies schöne Land – muß es denn sein? Und wenn Berlin ›Nein‹ sagt?! Wenn es sich beruft auf verbrieftes Recht, das doch die Feinde selbst schufen? Auf Versailles und die Abstimmung! Noch steht ihr im Lande.«

Er schüttelte den Kopf. »Jeden Tag erwarten wir den Befehl der Auflösung. Wenn der neue Machtspruch aus Paris kommt, der den Polen das Industrieland gibt – gewiß wird dann Berlin erst ›Nein‹ schreien. Nein, Nein, Nein! Aber sehr bald wird aus dem Nein ein – Jein werden – und aus dem Jein ein bildsauberes Ja!«

»Und kein Mann ist da«, rief sie, »keiner?«

»Männer genug«, gab er zurück, »kluge auch, die sich auskennen. Aber sie arbeiten für sich oder ihre Partei, bestenfalls für die Interessen ihres Standes – der für Landwirtschaft, jener für Industrie. Für die Gewerkschaften, für den Handel, den Hausbesitz, für Angestellte oder Beamte. Nur eins vergessen sie – ihr Land und ihr Volk.«

Sie sagte: »Einen Führer braucht ihr.«

Er lachte auf. »Was du nicht sagst! Wenn er nur käme! Mir wär's gleich, wie er hieße: Müller oder Hohenzollern, Wittelsbach oder Lehmann – wenn's nur ein Mann wäre.«

»Wer könnte es sein?« verlangte sie. »Ludendorff – oder der Hindenburger?«

Er wiegte den Kopf. »Hindenburg? Soldat ist er, wird immer das tun, was er als Pflicht erkannte; wird heute der Weimarer Verfassung die Treue halten, wie einst seinem Kaiser. Ob das ein Segen ist?! Ludendorff aber – der war's, der alle Arbeit tat, der allein war der Feldherr. Und wäre doch heut ein Unglück! Verliert seine Nerven im gefährlichsten Augenblick – zweimal schon geschah das: Oktober achtzehn und in den Märztagen des Kapp-Putsches.

»Und so ist's mit den andern Generälen, den Maerker, Watter, Lüttwitz, Oven und allen – keiner wagt's, in seine Hand allein die Verantwortung zu nehmen. Aufstände können sie niederschlagen, ihre Truppen können sie führen, nie aber den Staat. Nein, es ist nichts mit den alten Soldaten – vom Major aufwärts. Auf der andern Seite? Einmal glaubte ich, der Noske hätte das Zeug dazu – der hat Nerven. Aber er dankte, ließ sich ein Pöstchen geben, wird nun ein Bürger, der gut raucht, ißt und trinkt. Im dicksten Dreck klebt der deutsche Karren – verhungerte Gäule genug, die ziehn nach rechts und nach links, nach vorn und hinten. Aber kein Kutscher auf dem Bock, der die Peitsche schwingt!«

Sie schwiegen. Sanft zog sie ihn hinab; wieder ruhte sein Kopf auf ihrem Schoß. Hinten im Walde rief der Kuckuck.

Sie zählte, tippte mit dem Finger auf seine Stirn. »Dreimal«, murmelte sie, »viermal – in vier Jahren vielleicht.« Dann fragte sie: »Und bei euch? Ist da niemand bei den Freikorps – vom Major abwärts? Hauptmann oder Leutnant?«

Langsam sagte er: »Wer sollte es sein? Ich kenn sie gut – prächtige Burschen sind dabei. Haben alle ihr Maß, stehn alle ihren Mann. Verstehn ihr Handwerk als Kriegsknechte – was verstehn sie sonst? Können Regimenter aufstellen, können ihre Leute führen, daß die wie auf den Herrgott auf sie schwören, ihnen den Teufel selbst aus der Hölle holen. Fähnleinführer sind sie, nicht Volksführer. Da ist Lulu Österreicher, der wilde Bursch von Oberland – der würde ein Ziethen werden, wenn er seinen Friedrich fände. Aber wir brauchen den Friedrich und nicht den Ziethen. Der Lannwitz, der Aulock, der einarmige Heydebreck – Prachtkerls, jeder von ihren Harsten läßt sich totschlagen für sie. Aber Führer, Führer des ganzen Volks? Ein paar glauben an den stillen Schlageter – viele an Kapitän Ehrhardt. Geht etwas von ihnen aus, wie ein geheimer Bann. Aber der Schlageter ist ein Einzelgänger, will allein hinauf auf den Berg. Und der Kapitän, den seine Brigade vergöttert, dieser Mann, von dem ein Glanz ausgeht, der jeden einzelnen seiner Myrmidonen zu einem bessern Menschen macht, weiß selbst nicht, was er will. Schwankt, möchte die Roten zerschlagen und doch wieder, um Deutschland zu retten, ihr Führer sein. Wie dem Noske wird es ihm gehn – nur wird er nie ein Pöstchen haben, nie ein Bürger werden.

»Wer sonst noch? Unser Befehlshaber vielleicht – der Hauenburg? Wir nennen ihn Fähnrich, weil er das Fähnlein führt, das seinen Namen trägt. Eigentlich hat er gar keinen Rang. Barfuß lief er zum Lager – es heißt, daß ihm Kapitän von Löwenfeld von der dritten Marinebrigade die erste Zigarette schenkte. Dies Kriegsbaby hat's in sich. Sieben Jahre bin ich im Feld, hab allerhand gesehn – nie wieder solch wilde Tapferkeit. Was nutzt das alles? Ein geborner Landsknecht ist er; wenn's so weiter geht in Europa, wird ein Condottiere aus ihm, ein Heerführer auf eigene Faust. Einer, der für den Papst kämpft oder für den Herzog von Mantua, für den Kaiser oder die Republik Venedig. Oder der Roßbach? Keiner sorgt für seine Leute, wie er es tut – durch dick und dünn hält er sie; sie lieben ihn, schlagen sich für ihn wie die Grasteufel. Wie auf der Bühne ist alles, was er macht; wenn in Hauenburg ein Colleone steckt, lebt ein Karl XII. in Roßbach. Prachtvoll seine Hatz ins Baltenland – das hätte der Schwedenkönig nicht besser gemacht. In Ostpreußen warf ihm die Noske-Regierung Truppen entgegen; er sprach mit den Jägern der Reichswehr – da jubelten sie der schwarzen Fahne zu, die sein ›R‹ trug, zogen mit ihm. Keine Rast – bis nach Riga jagte er, hieb uns heraus bei Thorensberg. Und dennoch nimmt man ihn irgendwie nicht ernst. Wenn Frieden kommen sollte, wirklich einmal satter Frieden, dann wird aus Roßbach ein Theaterdirektor. Und gewiß kein schlechter.«

»Keiner sonst?« fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich wüßte nicht, wie er heißen sollte.«

»Warum nicht Scholz?« fragte sie. »Gerhard Scholz?«

Ein Lachen – ihre Hand schloß ihm den Mund. »Schweig, ich will keine Antwort. Einer muß an die Spitze – ein deutscher Reiter!«


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